Sich stark machen gegen sexuelle Gewalt

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Abenteuer Auszeit
Das Sabbatical

Sexuelle Gewalt in Familien ist ein Thema, das aufrüttelt, schockiert und an Tabus rüttelt – das ist in Peru nicht anders als in Deutschland. Die Verantwortlichen für Blansal, wo wir unser Sabbatical als Freiwillige verbringen (http://www.blansal-casaverde.org/), leisten hier in Sachen Prävention echte Pionierarbeit in Peru. Erst vier Jahre lang in Tacna an der Grenze zu Chile. Nunmehr seit fast drei Jahren in Arequipa. Das Besondere dabei: der Schwerpunkt liegt auf Vorbeugung. Dessy Zanabria-Nack leitet das Zentrum für Prävention gegen sexuelle Gewalt (kurz CPAS). Sie stand im Interview Rede und Antwort über erzielte Erfolge und mögliche Zukunftsperspektiven.

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Wie hat das alles angefangen?

Dessy Zanabria-Nack: Wir mussten in Casa Verde feststellen, dass viele der Jungen und Mädchen, die als „verlassene Kinder“ zu uns kamen, sexuelle Gewalt erlitten hatten – zumeist in der Familie. Wir wollten uns nicht damit abfinden, dass die Behörden lange Zeit untätig blieben. Sie schoben das unangenehme Thema zur Seite und sagten: „Das ist vorbei, die Kinder sind bei euch nun in Sicherheit, lasst das doch auf sich beruhen“. Dieses „Augen zu, Ohren zu“ konnten wir nicht akzeptieren und wurden aktiv. Und zwar nicht nur für die Kinder, die schon zu Opfern geworden waren, sondern auch vorbeugend. Richtig gestartet sind wir dann in Tacna. Schon damals agierten wir mehrgleisig. Vier Jahre lang leisteten wir in den Schulen konkrete Aufklärungsarbeit und sensibilisierten die Bevölkerung. Beides ist gut gelungen und wir hatten gehofft, dass die Behörden in unserem Sinne weitermachen würden, aber bisher leider vergeblich.

Wie gelangte die Idee dann nach Arequipa?

Ein Jahr, bevor das Projekt in Tacna zu Ende ging, hatten wir mit vielen möglichen Geldgebern in Deutschland gesprochen, ob wir nicht in Arequipa ein echtes Pilotprojekt zur Prävention von sexueller Gewalt starten könnten. Mit enormer Unterstützung der Hilfsorganisation „German Doctors“ (davor Ärzte für die dritte Welt) und dem Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit hat sich dann die Chance eröffnet, dass wir quasi in unserer Heimatstadt tätig werden konnten. Bei der Stadtverwaltung stießen wir auf großes Echo. Sie kannten uns als Casa Verde, wussten, dass wir seriös arbeiten und keine leeren Versprechungen machen würden.

Wie sieht die Bilanz aus nach zweieinhalb Jahren?

Sehr gut. Und das wird im Großen und Ganzen auch anerkannt. Allerdings haben wir natürlich immer das Problem, dass wir den Verantwortlichen bei Polizei, Staatsanwaltschaft, Gerichten und Behörden auch einen Spiegel vorhalten und aufzeigen, wo die Arbeit nicht gut läuft. Aber nach und nach verstehen sie unser Anliegen immer besser. Sie wissen, dass es uns letztlich um die Familien und vor allem um die Kinder geht.

Es gibt verschiedene Zielrichtungen der Arbeit, oder?

Ja, in Arequipa kommen die noch breitere Arbeit in der Öffentlichkeit und den Schulen – mit Sexualaufklärung – dazu. Mehr als 10.000 Schülerinnen und Schüler an 23 Schulen haben wir über 16 Wochen begleitet, die Lehrkräfte fortgebildet und Veranstaltungen mit den Eltern angeboten. Allein die Unterrichtsmaterialien umfassen 300 Seiten.

Richtig neu ist außerdem, dass wir ein Netzwerk von verschiedenen privaten und öffentlichen Institutionen ins Leben gerufen haben, die alle mit diesem Thema zu tun haben. Wir organisieren Workshops für Polizei und die Staatsanwaltschaft und schulen sie im Umgang mit Opfern sexueller Gewalt. Wichtig für die Zukunft wäre nun, dass die Behörden, die den Jugendämtern in Deutschland vergleichbar sind, stärker initiativ werden. Wir entdecken immer wieder viele „Löcher“ in der Gesetzgebung und der Behördenarbeit, auf die wir hinweisen. Das ist wirklich ein Langstreckenlauf.

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Wie sieht die Arbeit in den Schulen konkret aus?

Wir arbeiten ein ganzes Jahr lang in den Klassen der Grundschule und der Sekundarstufe, mit Kindern im Alter von sechs bis 17 Jahren. Die Themen und Herangehensweisen sind verschieden. Es geht um Selbstbehauptung, um Grenzen setzen und um die Stärkung des kindlichen Selbstbewusstseins. 90 Prozent der peruanischen Kinder trauen sich nicht zu sagen, dass sie eine Berührung nicht möchten. Dazu kommt noch etwas. Obwohl unsere Sprache so bunt und vielfältig ist, tun sich viele Menschen schwer, Worte für Gefühle zu finden. Wir üben also auch die Ausdrucksfähigkeit der Kinder, damit sie überhaupt sagen können, wie sie sich fühlen. Viele Menschen, die aus den Anden kommen, tun sich auch sehr schwer damit, ihre Kinder in den Arm zu nehmen oder zärtlich zu ihnen zu sein. Das führt beispielsweise dazu, dass viele Mädchen schnell schwanger werden. Wenn die auf einmal Zärtlichkeit erfahren, eröffnet sich so eine neue Welt, dass sie jede Vorsicht vergessen. Auch das versuchen wir anzusprechen. Darüber hinaus haben wir Werkzeuge entwickelt, um Fälle von extremer sexueller Gewalt zu entdecken. Wir haben Sozialarbeiterinnen, Psychologinnen, aber auch Anwälte, die mit uns zusammenarbeiten.

Wie würdet ihr so einen Fall von sexueller Gewalt herausfinden?

Wir haben bei bestimmten Themen im Unterricht Briefe eingebaut, die die Kinder an uns schreiben. Bei verdächtigen Geschichten hakt unsere Psychologin nach und wir fangen an, die Behörden und Anwälte einzuschalten und Fakten zu sichern. Wir tun das so, dass, wenn wir das Ganze am Ende der Staatsanwaltschaft übergeben, die Beweise schon vorhanden sind. Die Gesetze in Peru schreiben leider vor, dass Minderjährige keinen Anwalt haben dürfen. Da müssen wir dann Mittel und Wege finden, um stellvertretend agieren zu können.

Hat sich die Wahrnehmung der Öffentlichkeit verändert?

Im Ministerium werden wir ernst genommen und die Bevölkerung sucht den Kontakt zu uns. Betroffene kommen zur Beratungsstelle und die Medien informieren regelmäßig darüber. Wir haben das Thema aus dem Tabu herausgeholt. Und das hilft letztlich den Kindern. Letztes Jahr haben wir 30 Fälle zur Anklage bringen können. Aber wir entdecken natürlich viel mehr.

Wie können die Kinder geschützt werden?

Manche werden aus den Familien herausgenommen. Aber manchmal passiert es auch, dass sich die Mutter vom übergriffigen Mann trennt und die Kinder bei ihr bleiben. Bei anderen überwachen die Behörden stärker und stoppen so die Spirale der Gewalt.

Ihr würdet aber gerne noch weiter gehen?

Ja, im Moment beschreiten wir einen neuen Weg und haben begonnen, uns auch um die Arbeit mit dem Täter zu kümmern. Im Durchschnitt hat ein Täter fünf Opfer, es lohnt sich also, mit ihm zu arbeiten.

Wie könnte das aussehen?

Die meisten Fälle sind glücklicherweise noch keine Vergewaltigungen, sondern unangenehme Berührungen sexueller Art. Das ist furchtbar und schlimm, aber wenn wir es schaffen, den Täter zu stoppen und mit der Familie zu arbeiten, besteht für alle Hoffnung. Viele Täter wollen selbst, dass es aufhört, schaffen es aber nicht. Wir arbeiten dann damit, dass sie ein Dokument unterzeichnen, dort die Taten einräumen und wissen, dass sie, wenn wieder etwas vorkommt, angezeigt werden. Dazu kommt, dass sie stärker überwacht werden. Das hat in einigen Fällen für die Kinder die Situation enorm verbessert. Die Erwachsenen haben sich Hilfe gesucht. Die Drohung hat gewirkt.

Wie geht es jetzt weiter?

Die Finanzierung für das laufende Jahr ist gesichert. Dann würden wir uns wünschen, dass wir entweder einen privaten Förderer bekommen, so dass wir die Arbeit vielleicht in kleinerem Rahmen oder in etwas veränderter Zielrichtung fortführen können. Oder eben, dass die Regierung diese Arbeit finanziert. Wir müssen als Gesellschaft verstehen, dass die Familie die Basis von allem ist. Wenn es den Kindern schlecht geht, wird das langfristig allen schaden.

Es besteht ja auch die Idee, ein vergleichbares Projekt in Cusco zu starten?

Ja, das stimmt, aber dort ist die Situation viel gravierender. Gewalt ist ein riesiges Thema, vor allem wegen des Alkoholkonsums. Was wir von dort an Fällen mitbekommen, sprengt alle Dimensionen. Die Arbeit wäre ungemein notwendig, aber vielleicht müssten wir anders ansetzen, weil die Situation so schlimm ist.

Umso wichtiger den Teufelskreis zu durchbrechen, denn wie oft werden Opfer auch zu Tätern, oder?

Ja, deshalb werden wir darum kämpfen, dass die Arbeit weiter geht. Erst einmal ist aber wichtig, dass wir wissenschaftlich hieb- und stichfest belegen können, wie erfolgreich wir dabei tatsächlich waren.

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Ich bin von Natur aus neugierig, will Menschen und ihre Beweggründe verstehen und ich liebe gute Geschichten über alles: Das macht mich zur Journalistin. Ich möchte aber den Dingen auch auf den Grund gehen und verstehen, was die Welt im Innersten zusammenhält: Das erklärt meine Faszination für Wissenschaft und Forschung. Nach dem Studium der Germanistik und Politikwissenschaft habe ich als Zeitungsredakteurin für viele Jahre das Schreiben zum Beruf gemacht. Später kamen dann noch Ausbildungen zur zertifizierten Mediatorin und zum Coach hinzu, die mich in meiner Auffassung bestärkt haben, dass das Menschliche und das Allzumenschliche ihre Faszination für mich wohl ein Leben lang nicht verlieren werden. Das Organisieren habe ich als Büroleiterin einer Europaabgeordneten gelernt, bevor ich im Juli 2012 als Referentin des Chefredakteurs bei Spektrum der Wissenschaft begonnen habe. Von dieser Tätigkeit bin ich nun erst einmal ab 1. Januar 2015 für ein Sabbatical beurlaubt. Und ganz gespannt, was das „Abenteuer Auszeit“ für mich bereithalten wird.

3 Kommentare

  1. Kinder sind auch bei uns die Menschen, denen am häufigsten Gewalt angetan wird. Einfach deshalb, weil Kinder sich nicht wehren können oder, weil sie es – wenn schon etwas älter -, nicht wagen, darüber zu sprechen.
    Wie verbreitet Gewalt und speziell sexuelle Gewaltanwendung bei Kindern ist, hängt von der Kultur ab. Es kann so etwas wie ein Gewohnheitsrecht geben unter dem bestimmte Praktiken häufig vorkommen selbst wenn die Erwachsenen ein Unrechtsbewusstsein haben. Da niemand davon erfährt werden solche Praktiken aber fortgesetzt.
    Ein Extrembeispiel sind die sogenannten Sugar Daddies in Südafrika, die dafür verantwortlich sein sollen, dass 28% der südafrikanischen Schülerinnen HIV-positiv sind (dagegen sind nur 4% der männlichen Schüler HIV-positiv). Es scheint hier allerdings nicht reine Gewalt vorzuliegen, sondern es handelt sich eigentlich um Kinder-Prositution, die im Dunklen abläuft.

    Junge Mädchen dürften sich nicht länger mit “Sugar Daddies” einlassen, forderte Motsoaledi [südafr. Gesundheitsminister], mit Männern, die sie für sexuelle Dienstleistungen bezahlen. Der Statistik zufolge wurden im Jahr 2011 94.000 Schulmädchen schwanger, die jüngsten schon im Alter von zehn Jahren. Weitere 77.000 Schülerinnen hätten abgetrieben.

    Wenn Gewalt, speziell sexuelle Gewalt Kinder betrifft, ist es für Aussenstehende nicht einfach, einzugreifen. Denn die Kinder bleiben ja in der Obhut ihrer Familie. Und die kann sich dafür rächen, dass etwas nach aussen gelangt worüber sie Stillschweigen erwartet haben.

  2. Ich denke, ein wesentlicher Punkt wird in all dieser “Aufklaerung” von Minderjaehrigen ueber den Paedophilen unterschlagen: dass es in der ueberwiegenden Mehrzahl gar keine Paedophilen sind, die diese Taten begehen. So wie ein hungernder Vegetarier irgendwann Schnitzel isst, so vergreifen sich viele unattraktive oder gehemmte Maenner aufgrund ihres Triebstaues an Minderjaehrigen, da diese leichter gefuegig zu machen sind, bzw. zwischen ihnen und den Kindern oder Jugendlichen oft ein asymmetrisches Gewaltverhaeltnis herrscht (Lehrer-Schueler, Priester-Ministrant, Gruppenfuehrer-Mitglied etc.). Und die “normalen” Maenner unterstuetzen diese Notluege freudig, macht es sie doch ihren Partner(innen) unverdaechtiger und laesst sie vor sich selbst als “Saubermann” dastehen!

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