Señora Julias Gespür für die Welt
BLOG: Das Sabbatical
In Cusco geht es bei aller Quirligkeit eines Touristenmekkas härter zu als anderswo in Peru. Der “Nabel der Welt” der Inkas liegt 1000 Meter höher als Arequipa und ist in Sachen Kriminalität und Alkoholismus eine Hochburg. Das schlägt sich nicht nur in Korruption, sondern auch in häuslicher Gewalt nieder. Gegen die geht Julia Diaz, die Leiterin des Kinderheims Casa Verde, im Rahmen ihrer Möglichkeiten an. Sie weiß, dass es nur ein Tropfen auf einem heißen Stein sein kann, was ihr und den Tutorinnen gelingt. Doch leicht aufgegeben wird keines der Mädchen. Sie wissen um die Chance, die sie hier erhalten. Auch wenn es nicht immer leicht ist, die Vergangenheit als vergangen zu empfinden.
In Cusco wird gerne gefeiert. Geschätzte 100 Feiertage umfasst das Jahr. Das wird in 3300 Meter Höhe mit reichlich Bier, Schnaps und allerlei Selbstvergorenem begossen – meist in der Männerclique. Viel vertragen tun die Peruaner in der Regel nicht und das führt dann im häuslichen Umfeld zu Übergriffen.
Wobei die resolute und offenherzige Señora Julia hierzu eine gewagte Theorie hat. Schon bei den Inkas spielte demnach Inzucht zum Erhalt der Blutlinie eine große Rolle. Das hat ihrer Ansicht nach dazu geführt, dass es auch bei deren Nachfahren kein allzu großes Tabu ist. Zum Leidwesen der Kinder. Frühe Schwangerschaften und schwerste Traumatisierungen sind ein riesiges, aber zumeist von der Öffentlichkeit ignoriertes Thema. Und der Staat schweigt ebenfalls. Deshalb versuchen die Behörden, wenn Kinder aus den Familien genommen werden müssen, diese auf schnellstem Wege irgendwo unterzubringen. Ob das Kinderheim dann richtig zum Problem des Kindes passt, ist zweitrangig.
Verschärft wird Julias Ansicht nach die Lage durch die zahlreichen Minen und den Arbeitern dort. Richtige Bordelringe von Minderjährigen sind darum herum entstanden.Obwohl Kupfer, Gold und Gestein das Wirtschaftswachstum tragen und ankurbeln, um diese fürchterlichen Begleiterscheinungen einzudämmen, ist kein Geld da, wird zumindest behauptet.
Doch davon ist der Sonntag in Casa Verde weit entfernt. Endlich einmal haben die Mädchen frei und keinen Druck. Zeit zum Glücklichsein sollte man meinen. Aber ganz so ist es nicht. Ich spüre, wie die Mädchen durchhängen und wie wichtig der feste Rahmen für sie ist.
Am Morgen geht es zum Volleyballspiel in den benachbarten Park. Die anfängliche Begeisterung verpufft, als hätte man Luft aus dem Ball gelassen. Edith, die peruanische Praktikantin, trotz ihrer kleinen Körpergröße wieselflink und effektiv auf dem Feld unterwegs, kann mit ihrer Motivation nicht anstecken. Die Stimmung kippt in Lethargie und ich komme zu meinem ersten Einsatz in einem Volleyballspiel.
Auch hier versetzen mich die Peruaner einmal mehr in Begeisterung. Ob ich die Angabe verhaue, hilflos auf dem Feld herumirre, meinen Platz suche oder ab und an einen Glückstreffer lande – sie nehmen es mit freundlich-unterstützender Gelassenheit. Keinen Menschen in meiner Mannschaft stört die rotierende Gurke in ihrer Mitte und so macht mir die Sache sogar Spaß, zumal ich ohnehin nur mit Mühe kapiere, wer gerade gewonnen hat.
Am Abend dann bei leckerem selbstgemachtem Hamburger und gefüllten Kartoffeln sowie Fruchtsalat gibt es dann eine Standpauke. Julia hat bemerkt, dass über vieles im Haus nicht offen geredet wird, sondern hinten herum. Das missfällt ihr. Sie möchte, dass von der Kleinsten bis zur Größten alle offen, aber respektvoll darüber sprechen, wenn es Konflikte gibt. Die Mediatorin in mir freut sich.
Auch unangenehme Sachen kommen jetzt auf den Tisch. Zwei der Mädchen ritzen sich. Julia erklärt, dass das, wenn es anhält, ein Grund zum Rauswurf ist. Sie kann es sich nicht leisten, dass ihr Haus in Verruf kommt. Die Kontrollen der Behörden sind streng. “Hier ist kein Gefängnis”, schärft sie den Mädchen mit ihrer ruhigen, eindringlichen Stimmen ein. Die darauf folgende Stille ist mit Händen zu greifen. “Wem es hier nicht gefällt, kann zu den Behörden gehen und das Haus verlassen”.
Dann kommt noch das Thema Hausarbeit zur Sprache. “Wir sind hier wie eine Familie”, unterstreicht Julia, “jeder muss mitanpacken, sonst läuft es nicht”. Die 51-Jährige hat bemerkt, dass wenn sie Nachtdienst hat, alles wie am Schnürchen läuft. Die anderen Tutorinnen tun sich da schwerer. Das wird nicht akzeptiert werden von ihrer Seite. Die Mädchen schweigen zunächst betroffen. Dann fangen auch sie an zu erzählen, wie sich die Situation aus ihrer Sicht darstellt.
Ich spüre, wie sie um den Zusammenhalt ringen, wie sehr sie Julia von Herzen zugetan sind, weil sie wiederum ihre Zuneigung spüren und ihre “Chefin” nicht enttäuschen wollen. Später erzählt mir Julia Diaz ein wenig von ihren Träumen. “Ich bin Optimistin und ich wünsche mir, dass wir die Mädchen hier für ein erfülltes Leben vorbereiten und ihr Selbstwertgefühl stärken”. Seit anderthalb Jahren macht die frühere Krankenschwester diese Arbeit. Mir imponiert, wie sie liebevollen Umgang mit Nachdruck kombiniert. Ihr gelingt die respektvolle Augenhöhe. Und was wäre ihr größter Wunsch? “Dass es eines der Mädchen aus Casa Verde Cusco eines Tages in die Politik schafft”! Dann, so ist sie überzeugt, könnte die Welt verstehen, wie wertvoll diese einst “aufgegebenen Kinder” sind und sie hätten endlich eine Stimme.