Kommt der Kondor oder kommt er doch nicht?

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Abenteuer Auszeit
Das Sabbatical

Es ist acht Uhr morgens. Auf fast 4000 Metern Höhe, mitten in den peruanischen Anden: Mirador Cruz del Condor. Schon jetzt knallt die Sonne erbarmungslos vom blauen Himmel. Vor mir öffnet sich der Colca-Canyon als gähnender Abgrund. Und kein Kondor in Sicht.

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Da hatten wir am Tag des Abstiegs von Capanaconde in den “Oase” genannten Ort Sagalle (Foto) mehr Glück. Beim Aufstieg von 1200 Höhenmeter war sich zumindest Frank sicher, einen gesichtet zu haben.

Nur ein Fünftel der Reisenden schafft es bis hierher. Ein Jammer, denn sie verpassen einen der erstaunlichsten Gegensätze, den dieses Land zu bieten hat. Schweißtreibend, aber nicht schwindelerregend gestalten sich Abstieg wie Aufstieg durchs helle Gestein. Unten, am Fluss, erwarten einen dann Swimmingpools, Palmen, Bananenstauden, Mittagessen und Übernachtungsmöglichkeiten.

Schon am frühen Morgen, kurz nach sieben Uhr, kommen den Wanderern Dutzende von Mulis entgegen. Ich bewundere deren Trittsicherheit auf dem steinig-steilen Untergrund und spüre Verachtung für die jungen Rucksackreisenden, die sich so schwankend nach oben schleppen lassen. Für die Maultierführer sind die 60 Soles pro Person (zwischen 15 und 20 Euro) die Grundlage ihrer Existenz und eröffnen die Möglichkeit, im Canyon zu bleiben. Die Tiere sind in gutem Zustand und tun das, wofür sie gezüchtet wurden. Wer bin ich, um darüber zu urteilen.

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Aber zurück: Der Kondor, eine Art Wappentier der Peruanaer (hier ein künstlerischer Darstellungsversuch), braucht keinen Vergleich zu scheuen. Er gilt als größter Raubvogel der Welt, und hat eine Flügelspannweite von mehr als drei Metern. Sein Nest, das gut geschützt an den Steilhängen liegt, umfliegt der nur rund zehn bis zwölf Kilo schwere Vogel in einem Umkreis von 100 Kilometern. In freier Wildbahn erreicht das zur Familie der Geier zählende Tier bis zu biblischen 100 Jahren.

Doch sein Image war lange denkbar schlecht. Als Viehdieb wurde der König der Anden bezeichnet, ernährt er sich doch nicht nur von Aas, sondern schlägt auch mal neugeborene oder kranke Lämmer. Für verschwundene Kühe, Pferde oder Mulis, war er jedoch noch nie verantwortlich. Genau so wenig wie Körperteile des Kondors das Böse abwehren oder die Potenz steigern konnten. Auch deshalb wurde er so vehement gejagt, dass er seit 1970 auf der Roten Liste steht.

Doch sein Ansehen hat sich gebessert, seit sich täglich – egal, ob Regenzeit oder nicht – Hunderte von Menschen ans Ende der Welt karren lassen, um dem Kondor dabei zu beobachten, wie er sich in die Höhe schraubt. Heute warten sie vergeblich. Dafür erzählt mir ein Student der Philosophie und des Spanischen aus Mainz, dass die Quechua-Sprache eine echte Besonderheit aufweist. In die Übertragung der Information fließt nämlich deren Herkunft ein.

Es gibt drei Formen davon:

– Habe ich selbst gesehen….

– Hat mir jemand erzählt….

– Leite ich aus diesen und jenen Fakten ab….

“Das wäre fürs Medienwesen auch nicht schlecht”, schießt es mir als alter Journalistin durch den Kopf. Den ersten Adrenalinschub des Tages habe ich da bereits hinter mir. Der Bus von Capanaconde zum Mirador sprengt meine Vorstellungskraft davon, wie viele Leute in ein solches Gefährt hineinpassen können: Mit aller Gewalt werden die letzten in die Tür gedrückt. Das Vehikel ist so schwer, dass es bei jedem Anfahren ein paar Meter zurückrollt. Ich klammere mich krampfhaft an die Trennwand zwischen Fahrer und Fahrgäste. An meinen Waden spüre ich jedes Mal, wenn der Fahrer, der nebenbei noch an seinen Deutschkenntnissen feilt, schaltet. Die Augen habe ich geschlossen – das mache ich fatalistischer Weise in solchen Situation immer – atme tief in den Bauch und kämpfe die Panik nieder.

Aber ich wollte ja unbedingt Bus fahren und nicht trampen. Als ich mich endlich umdrehen kann, sehe ich, dass die Scheibe einen Sprung hat und etliche Steinschläge aufweist. Warum nur fällt mir jetzt der deutsche Werbeslogan ein, dass die Teilkaskoversicherung das doch übernimmt. Meine einheimischen Mitreisenden würden wohl verständnislos den Kopf schütteln, versuchte ich das zu erklären. Obwohl. Die neue Mittelschicht der Minenarbeiter und gut situierten Angestellten in Arequipa schützt ihr Zuhause ja auch mit spitzen Stacheln, Elektrozäunen und Hunden auf dem Dach.

Nun sitze ich also hier und warte auf den Kondor, der wohl nicht kommen wird. Ausharren muss niemand länger als zehn Uhr. Denn die Kondoren sind Bürokraten. Nur zwischen acht und zehn werden hier die Kreise gezogen, nur dann ist die Thermik perfekt. Als die ersten Touristen schon enttäuscht von hinnen ziehen, kommt er dann doch noch, der Kondor.

Majestätisch zieht er ein paar Kreise, während die Kameramotoren sirren, dann macht er sich davon, ebenso leise, wie er gekommen ist. Und ich frage mich, gibt es vielleicht Buchhalter unter den Kondoren oder gar Dienstpläne? So nach dem Motto: Unter 500 Leuten am Aussichtspunkt muss niemand los. Heute bist Du dran, Pedro. Aber nicht zu lange, das Essen liegt auf dem Fels und für den kleinen Haufen machen wir da keine große Show.

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Ich bin von Natur aus neugierig, will Menschen und ihre Beweggründe verstehen und ich liebe gute Geschichten über alles: Das macht mich zur Journalistin. Ich möchte aber den Dingen auch auf den Grund gehen und verstehen, was die Welt im Innersten zusammenhält: Das erklärt meine Faszination für Wissenschaft und Forschung. Nach dem Studium der Germanistik und Politikwissenschaft habe ich als Zeitungsredakteurin für viele Jahre das Schreiben zum Beruf gemacht. Später kamen dann noch Ausbildungen zur zertifizierten Mediatorin und zum Coach hinzu, die mich in meiner Auffassung bestärkt haben, dass das Menschliche und das Allzumenschliche ihre Faszination für mich wohl ein Leben lang nicht verlieren werden. Das Organisieren habe ich als Büroleiterin einer Europaabgeordneten gelernt, bevor ich im Juli 2012 als Referentin des Chefredakteurs bei Spektrum der Wissenschaft begonnen habe. Von dieser Tätigkeit bin ich nun erst einmal ab 1. Januar 2015 für ein Sabbatical beurlaubt. Und ganz gespannt, was das „Abenteuer Auszeit“ für mich bereithalten wird.

2 Kommentare

  1. Hi Kirtsen,

    da werden Erinnerungen wach: Wir waren 1988 im Colca-Tal. Die Unterkunft war völlig verlottert, dafür gab es gleich ein halbes Dutzend Kondore zu sehen. Touris waren nur wenige da, dafür kam Monate später der Sendero Luminoso vorbei und hat unsere damalige Unterkunft gebrandschatzt… Gute/schlechte alte Zeiten…

    Liebe Grüße
    Daniel

  2. Hallo Kirsten, ach, ich erinnere mich auch soooo gut an diesen Abstieg und den Wiederanstieg! Da habe ich das Wandern für mich entdeckt, obwohl es mir soooooo wahnsinnig schlecht ging, als wir unten in der Lagune ankam, dass ich alles dafür gegeben hätte, durch ein Wunder nach Hause gebeamt zu werden. Stattdessen fand ich einen Skorpion unterm Bett. Aber es war so toll, wieder oben zu stehen. Sehr schön zu lesen, dass ich das gut “überstanden” habt!

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