Die Hunde von Cusco
BLOG: Das Sabbatical

Die Hunde von Cusco leben in einer Art Paralleluniversum. Ihre Zahl dürfte in dieser Stadt, die 350.000 menschliche Bewohner zählt, in die Zigtausende gehen. Doch die beiden Welten berühren sich kaum, sie existieren nebeneinander her, wie zwei sich nur punktuell überlappende Biotope. Zwei- und Vierbeiner leben nebeneinander her und teilen sich einen Lebensraum. Berührungspunkte sind der öffentliche Raum, die Straßen und die Abfallhaufen, von denen sich die Hunde ernähren. Vielleicht hat so die Geschichte zwischen Mensch und Hund auch irgendwann einmal angefangen.
Ich liebe Vierbeiner seit ich denken kann. Pferde und Katzen zuallererst, aber Hunde auch, obwohl ich immer große Zweifel gehegt habe, ob ich je einen hätte erziehen können. Deswegen war es auch nicht verwunderlich, dass es bei Cockerspaniel Ricolas und mir eine Art Liebe auf den ersten Blick wurde. Als Laufpartner sind wir unschlagbar und seine Entwicklung ist abgeschlossen, obwohl er mir zuliebe viel besser hört als am Anfang.
Er ist kein Straßenhund, sondern ein Dachhund und damit ein Beweis für die merkwürdige “Tierliebe” vieler Peruaner. Einerseits mag sich kaum einer ein Leben ohne Katze oder Hund vorstellen, andererseits fristen sie dann, wenn sie groß geworden sind, oft ein Dasein als lebendige Alarmanlage auf den Flachdächern und werden ansonsten vergessen. Dass so ein Tier nicht nur Futter, sondern auch Zuwendung und Auslauf braucht, gerät schnell in Vergessenheit. Dafür werden sie, wenn sie klein sind, in Kleidchen gesteckt. Aber richtig um das Tier kümmern, das ist eher lästig. All das macht Impfkampagnen schwierig, wie derzeit in Arequipa, wo sich die Tollwut auszubreiten droht.
In vielem erinnert mich die Einstellung an Deutschland vor dreißig Jahren. Rassehunde werden angeschafft, weil sie knuddelig oder schick sind, Schwänze und Ohren werden kupiert. Tüten für die Häufchen dabei zu haben, fiele niemandem ein. Doch diese Hunde sind Haustiere, wie auch wir sie kennen. Sie fühlen sich mehr oder weniger gebunden an Menschen und Häuser, wollen gestreichelt werden und heulen, wenn sie zu Hause bleiben müssen.
Doch die Hunde von Cusco sind anders. Sie sind nahezu unsichtbar, obwohl sie so groß und so viele sind. Ich erkenne in ihrem Aussehen Golden Retriever, Riesenschnauzer, Schäferhunde, Dobermänner und vieles mehr, was es an Rassen gibt. Klitzekleine Exemplare und Riesenviecher scharen sich zu Rudeln zusammen oder streifen einzeln umher. Sie pennen überall, an Tankstellen, auf Verkehrsinseln, in Märkten und Parks, wo sie die Müdigkeit gerade überkommt. Niemand schert sich darum.
Überhaupt findet keinerlei Kontaktaufnahme statt. Diese Hunde schauen einen nicht an, bellen und knurren nicht, wollen nicht gestreichelt werden, behelligen nicht beim Joggen. Sie beschäftigen sich mit sich in ihrem Paralleluniversum. Dass es ab und an doch zu Kollisionen kommt, darauf weisen die vielen Hinkebeine hin. Außerdem hängt im Straßenraum mitunter ein Schild, dass man die Hunde nicht überfahren soll.
Meine These lautet, dass sich die Fähigkeit zum Unsichtbarmachen über die Generationen herausgemendelt hat. Damit sind sie perfekt an das urbane Leben angepasst. Ungebunden und frei. Die Hunde zeigen überdies erstaunlich wenig Territorialverhalten. Nur wenn eine Gruppe sich beispielsweise ständig in der Nähe einer Metzgerei oder eines Marktes herumtreibt, werden Eindringlinge verjagt. Auch Haushunde an Leinen wirken auf die “Rudel” befremdlich und haben kein leichtes Spiel. Aber insgesamt halten sich Raufereien schwer in Grenzen.
Die einzelnen Streuner jedoch sind durchweg friedlich und tolerant, kaum einer ist mager, der Abfalltisch in Cusco ist reich gedeckt. Aggressiv zu sein, würde wahrscheinlich zu viel Energie kosten. Experten vertreten die Ansicht, dass sich Hunde nur dann zu Rudeln mit Rangordnung zusammenschließen, wenn das einen Vorteil verspricht. Ansonsten binden sie sich nicht. Erbarmt sich ein Tourist eines Hundebabys, dann verhält sich der erwachsene Vierbeiner ganz genau so, wie wir es von unseren Haustieren kennen: sie sind eifersüchtig und liebebedürftig, verspielt und verfressen.
Die seit 4000 Jahren für Peru typischen Nackthunde sieht man nur selten unter den Straßenhunden. Kein Wunder, die Nächte sind kalt in Cusco. “Der Pero sin Pelo del Peru”, der seit altersher nicht nur als Wundermittel bei Rheuma, sondern auch als rituelle Speise Verwendung fand, hat zwar viele Fans, aber für das Leben auf der Straße ist er nur bedingt geeignet. Er friert nicht nur leicht, sondern bekommt auch Sonnenbrand. Zwar ist der friedliche Zeitgenosse mit der meist schräg vorne heraushängenden Zunge sogar für Tierhaarallergiker geeignet und bekommt keine Flöhe. Dafür muss er ab und an gebadet und dann eingeölt werden. Das ist in den Straßen von Cusco nur selten zu bekommen.
Ich vermute, die Hunde haben eine ähnliche soziale Entwicklung wie wir durchgemacht, die wir in Städten auf engstem Raum zusammenleben (müssen). Aggressivität und antisoziales Verhalten würde von den Mitbewohnern des eigenen Umfeldes sanktioniert werden, also verzichtet man besser darauf.
Es wäre bestimmt interessant zu erforschen, ob diese Verhaltensweise schon genetisch in den Hunden angelegt ist oder ob sie den in diesem Umfeld aufwachsenden Tieren ausschließlich durch ihre Sozialisation aufgeprägt wird.
Vielen Dank für den Artikel. Ein interessanter Einblick in eine völlig andere Welt. Und jetzt verstehe ich auch endlich, was es mit den Dach-Hunden auf sich hatte, die ich in Madeira gesehen habe.
Hunde, die etwas auf sich halten, die sich zum Primatenwesen anpassen, sind nicht ‘unsichtbar’, sondern klug, ‘herausgemendelt’ sozusagen, und nett, solange sie eine annehmbare und nicht Primaten meinende Fressperspektive haben.
Womit auch das Gegenteil adressiert wäre.
MFG
Dr. W