Bipolares Land
BLOG: Das Sabbatical
Wie ist es eigentlich, dieses Peru? Was beschäftigt die Menschen dort? Schwierige Fragen und knifflige Antworten. Natürlich ist der Andenstaat so wenig über einen Kamm zu scheren wie Deutschland oder die USA und so wenig zu fassen wie Du oder ich. Was mir aber neben der großen Schere zwischen arm und reich auffällt, ist die bipolare Spannung, die überall zu spüren ist.
Das knapp über 30 Millionen Einwohner zählende Land mit seit 20 Jahren rund fünf Prozent Wirtschaftswachstum verfügt über eine wunderschöne Natur und unermessliche kulturelle Reichtümer und ist doch auch wieder öde und trostlos oder einfach hemmungslos verdreckt und verseucht. Die Menschen sind zurückhaltend und freundlich, aber, wenn – wie derzeit in Arequipa – ein Generalstreik angesagt ist, liegt Gewalt in der Luft. Da werden die Schulen geschlossen, die Sammeltaxis eingestellt, die Geschäfte verrammeln ihre Fenster und mir stellen sich die Nackenhaare. Aber nur ein paar Meter weiter im Park knutschen die Liebespaare wie immer und die Atmosphäre ist so friedlich, wie man sich das nur wünschen kann. Ganz zu schweigen von der Wüste wenige Kilometer außerhalb der zweitgrößten Stadt Perus (Foto: Dennis Beckmann).
Wieder einmal geht es beim Streik um Perus Ehrgeiz, der größte Kupferproduzent der Welt zu werden. Die Mine, die das ermöglichen soll, liegt nahe Mollendo, fast am Meer, im Valle Tambo, einem der wenigen Täler an der Pazifikküste, in dem nahezu tropische Verhältnisse herrschen. Reisfelder, Palmen, Mangobäume und ein Vogelschutzgebiet. Die Menschen dort fürchten um ihre nackte Existenz, zumal die Gutachtenlage ausgesprochen dürftig ist und das Kupfer mit Quecksilber aus dem Gestein gelöst werden soll. In der Region herrschen seit Monaten fast bürgerkriegsähnliche Verhältnisse. Der Riss zwischen der Wunsch nach Arbeitsplätzen und der Angst um die Ackerflächen geht quer durch die Familien.
Doch damit genug. Ein fast schizophrenes Verhältnis haben vor allem die Behörden zu den “niños abandonados”, den aufgegebenen Kindern. 1500 von ihnen sind in den rund 40 Waisenhäusern der Millionenstadt Arequipa untergebracht, viel mehr Plätze würden benötigt. Die Verwaltung und Gerichtsbarkeit nimmt die Kinder aus den Familien und weist sie dann den Heimen zu. Soweit, so normal. Wenn es aber darum geht, die Schützlinge zumindest mit Nahrungsmitteln oder gar Geld zu versorgen, versagt der Staat. Es gibt keinen Cent. Egal, ob für das dreijährige Mädchen, das drei Mal mit ansehen musste, wie seine Mutter versuchte, sich die Pulsadern aufzuschneiden, bis schließlich die Nachbarn die Polizei alarmierten. Oder der Junge, der zuhause massiver Gewalt ausgesetzt war und sich seine karge Nahrung als Schuhputzer verdiente, statt in die Schule zu gehen. Für ihren Unterhalt fühlt sich niemand verantwortlich.
Sie finden in “Casa Verde” oder bei “Familia International” ein neues Zuhause, manchmal so lange, bis sie erwachsen sind, die Schule abgeschlossen und eine Ausbildung absolviert haben. Viele dieser Einrichtungen werden komplett mit Spenden aus Europa oder den USA finanziert. Damit die Rechnung, vor allem bei den explodierenden Mieten und Häuserpreisen irgendwie aufgeht, knausern sie bis zum Geiz. Da werden Zahnpasta und Shampoo abgewogen und zugeteilt, um jede Anschaffung wird erbittert gerungen und jedes Fest am Munde abgespart (Foto: Beckmann).
Umso schikanöser dann, dass von Seiten der Behörden die Kontrollen mehr als pingelig sind, immer knapp am Rand der üblen Unterstellung. Überhaupt, so entspannt hier vieles wirkt, in Sachen Bürokratie sind die Peruaner unschlagbar. Kafka hätte seine helle Freude. Das macht mich wütend, wenn ich sehe, wie schwer es den Mitarbeitern der Heime gemacht wird. Dabei arbeiten sie doch schon für einen Hungerlohn, sind hoch qualifiziert als Lehrer oder Psychologen, übernehmen so viel Verantwortung und sind sich nicht zu schade, zu kochen oder auch mal bei den Kindern zu übernachten, wenn sonst niemand da ist.
Manchmal hilft dann ein Vergleich mit europäischen Verhältnissen, wo die Lage vor 50, 60 Jahren nicht viel besser war oder ein Gespräch mit Profis wie Volker Nack. Auch der kämpft mit seiner Frau Dessy seit knapp zwei Jahrzehnten mit Casa Verde und der Dachorganisation Blansal gegen die Missstände an. Und er hat sich eine gewisse Gelassenheit zugelegt, einfach weil er auch die positiven Entwicklungen sieht. Und er ist überzeugt, dass irgendwann Peru Verantwortung für seine aufgegebenen Kinder übernehmen wird. Doch bis dahin wird wohl noch einiges an Wasser den Rio Chili hinunterfließen. Und einiges an Unterstützung notwendig sein (http://www.blansal-casaverde.org/).
Der Code ‘bipolar’ wird hier unzureichend verstanden; was gewagt werden könnte, wäre einmal die politische Situation in Peru aufzuzeichnen und die demographische:
-> http://en.wikipedia.org/wiki/Peruvian_general_election,_2011
-> (Webverweis, Basis: Google Data Explorer, nur ein Beispiel)
MFG
Dr. W