Von Kriegszitterern und Starkstromtherapien – Sündenfall deutscher Psychiater im Ersten Weltkrieg

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Ein richtig „heißes Eisen“ hat Dirk Liesemer für Gehirn und Geist angepackt. Im Interview mit dem Heidelberger Medizinhistoriker Professor Wolfgang Uwe Eckart für “Gehirn und Geist” setzt er sich auf die Spur des Sündenfalls deutscher Psychiater im Ersten Weltkrieg. Sie versuchten traumatisierte Soldaten, die am damals so genannten „Kriegszittern“ oder der „Kriegshysterie“ litten, mit Starkstrom und ähnlichen Foltermethoden wieder kampffähig zu machen. Viele dieser Mediziner vertraten die Ansicht, dass sich psychische Leiden wie Krankheitserreger verbreiten und dementsprechend bekämpft werden müssten. Wir haben Dirk Liesemer, der selbst Zivildienst in der Psychiatrie geleistet hat, zu seinen Recherchen befragt.


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Träumst du manchmal von deinem Zivildienst?
Dirk Liesemer: Nein, träumen tue ich nicht davon. Aber meine Frau ist Psychiaterin, von daher ist mir das Thema noch immer sehr nah. Was mich damals als Zivi so beeindruckt hat, war der Einblick in eine mir völlig unbekannte Welt. Da gab es Menschen mit Geschichten, die ich so nicht für möglich gehalten hätte. Die Erfahrungen waren dermaßen vielfältig, dass ich manche auch heute noch kaum in Worte fassen kann. Dazu kam aber noch, dass ich mich selbst enorm gut kennenlernt habe. Ich weiß seither, wie wichtig es ist, sich vom Leiden der anderen abzugrenzen, ohne dass man seine Empathie aufgibt. In der Zeit wurde ich natürlich auch mit den Abgründen und der Empfindsamkeit des Menschen generell konfrontiert.
Gelernt habe ich, dass eine psychische Erkrankungen jedem Menschen passieren kann, egal welchen Beruf, welche Herkunft, welches Geschlecht er oder sie hat. Erlebt habe ich aber ebenso, dass viele wieder als gebessert entlassen werden konnten.
Da war es dir sicher willkommen, für GuG eine solche Geschichte anzugehen?
Dirk Liesemer: Auf jeden Fall, ich war sofort neugierig, vor allem, weil es über das Thema psychiatrische Behandlung von traumatisierten Soldaten im Ersten Weltkrieg so gut wie gar nichts gibt, was zugänglich war.
Also richtig journalistisches Neuland?
Dirk Liesemer: Ja, unbedingt. Und durch die Diskussion um den Beginn des Ersten Weltkriegs vor 100 Jahren hat das Thema große Aktualität gewonnen. Die Meisten wissen, was in den Schützengräben von Verdun passiert ist oder haben von der Heimatfront und den Hungernden dort gehört. Aber von diesen Menschen, die später fast alle von der Bildfläche verschwunden sind, weiß so gut wie niemand etwas. Das hängt sicher auch damit zusammen, dass die Kriegspsychiater danach noch in einer sehr starken Machtposition waren und ihr Handeln weder reflektieren noch sich rechtfertigen mussten.
Wie kam es zum Gespräch mit dem Medizinhistoriker Professor Wolfgang Uwe Eckart?
Dirk Liesemer: Das war Glück. Wir hatten ein sehr langes Manuskript von ihm vorliegen und es war klar, dass wir das entweder ganz stark bearbeiten oder eine neue Form finden mussten. Da bot sich ein Interview quasi an. Für mich diente der Text als eine ungemein wertvolle Quelle, um mich dem Thema von vielen Seiten her nähern zu können.
Was im Manuskript nicht vorkam, aber jetzt im Interview deutlich wird, war Eckarts eigene Bewertung der Geschehnisse; also beispielsweise, ob man sich diese Psychiater als Sadisten vorstellen muss oder einfach als ehrgeizige, skrupellose Mediziner. Auch die Frage nach der juristischen Bewertung als Kriegsverbrechen stand noch aus.
Was ist für dich die wichtigste Erkenntnis im Interview?
Dirk Liesemer: Dass es auch damals schon anders ging. Beispielsweise in Österreich, wo es eine Aufarbeitung und viele Verurteilungen gab. Dass es auch damals viele Psychiater gab, die die Ursache anders eingeschätzt haben. Und dass bereits andere Behandlungsformen existierten, die sich jedoch nicht in Deutschland, sondern im US-Militär durchgesetzt haben. Es lohnt sich folglich, Geschichten miteinander zu vergleichen.
Was sollten die Nachgeborenen daraus lernen?
Dirk Liesemer: Geschichtsschreibung tendiert dazu, anzunehmen, dass sich Dinge so ereignen mussten. Das ist aber häufig nicht der Fall. Hier haben sich lediglich die Leute durchgesetzt, die sagten, wir müssen unsere Soldaten züchtigen und bändigen. Aber es gab daneben noch diejenigen, die sagten, das geht in die falsche Richtung.
Rechnest du mit Reaktionen auf deinen Beitrag?
Dirk Liesemer: Ich hoffe darauf. Aus meinem Umfeld waren die Reaktionen bislang sehr positiv, vor allem, weil ich da ein weitgehend medial unbeackertes Gebiet angegangen bin. Einen Nerv trifft das auf jeden Fall. Viele sagen: Darüber habe ich mir nie Gedanken gemacht. Es lohnt sich also, sich damit zu beschäftigen. Das ist eine Geschichte der Verlierer und Traumatisierten, wie sie selten so offenbar wird.

Psychiater im Fronteinsatz des 1. Weltkrieges (€ 1,49)

Dirk Liesemer, Jahrgang 1977, schreibt als freier Journalist über Natur, Umwelt und Wissenschaft sowie über historische und gesellschaftliche Umbrüche. Er hat in Münster und Rennes (Frankreich) Internationale Politik, Ideengeschichte und Philosophie studiert und lebt in München. Er ist Absolvent der Henri-Nannen-Schule und schreibt unter anderem für Geo, ZEIT Wissen, die F.A.Z. sowie Spektrum der Wissenschaft.

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Ich bin von Natur aus neugierig, will Menschen und ihre Beweggründe verstehen und ich liebe gute Geschichten über alles: Das macht mich zur Journalistin. Ich möchte aber den Dingen auch auf den Grund gehen und verstehen, was die Welt im Innersten zusammenhält: Das erklärt meine Faszination für Wissenschaft und Forschung. Nach dem Studium der Germanistik und Politikwissenschaft habe ich als Zeitungsredakteurin für viele Jahre das Schreiben zum Beruf gemacht. Später kamen dann noch Ausbildungen zur zertifizierten Mediatorin und zum Coach hinzu, die mich in meiner Auffassung bestärkt haben, dass das Menschliche und das Allzumenschliche ihre Faszination für mich wohl ein Leben lang nicht verlieren werden. Das Organisieren habe ich als Büroleiterin einer Europaabgeordneten gelernt, bevor ich im Juli 2012 als Referentin des Chefredakteurs bei Spektrum der Wissenschaft begonnen habe. Von dieser Tätigkeit bin ich nun erst einmal ab 1. Januar 2015 für ein Sabbatical beurlaubt. Und ganz gespannt, was das „Abenteuer Auszeit“ für mich bereithalten wird.

4 Kommentare

  1. Mediziner als unfreiwillige Folterer – Folterer nur darum, weil sie falschen Theorien anhängen -, das gab es schon lange vor dem 1. Weltkrieg. So hat der Leibarzt von Ludwig XIV seinem Patienten sämtliche Zähen gezogen aufgrund seiner Theorie Zähne seien ein gefährlicher Infektionsherd.

    Auch der später übliche Aderlass war für die Patienten mit einem beträchtlichen Risiko verbunden. Gefährlicher war nur noch die Geburt in den damaligen Spitälern, wo bis zur Hälfte der Wöchnerinnen an der Folge von noskomialen Infekten verstarben.

    Schlussfolgerung: Nichts ist gefährlicher als falsche Theorien, welche ohne Rücksicht auf Verluste in die Praxis umgesetzt werden. In der Medizin kommen die falschen Theorien heute allerdings von den Alternativmedizinern, nicht von den Schulmediziner, denn die Schulmediziner haben sich der evidenzbasierten Medizin zugewandt: Sie wenden Therapien an, deren Wirksamkeit untersucht und belegt ist.

  2. Lieber Herr Bednarik,

    jeder Krieg bringt eigene Krankheitsbilder hervor, das ist jedenfalls eine Aussage von meinem Interviewpartner. Der Erste Weltkrieg war vor allem an der Westfront ein Stellungskrieg, der Zweite Weltkrieg hingegen vielmehr ein Bewegungskrieg. Zwischen 1939 und 45 litten die Soldaten deshalb eher unter chronischem Stress.

    Herzlichen Gruß
    Dirk Liesemer

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