So war “Die Stadt der Blinden” im Stockdunkeln
BLOG: Das innere Spektrum
Gefühlt ist es schon Ewigkeiten her, aber da ich versprochen habe, darüber zu berichten, wie es war bei der Lesung von José Saramagos “Die Stadt der Blinden” in der stockdunklen Alten Feuerwache in Mannheim und beim anschließenden Gespräch, will ich das auch halten.
Eines vorab: Meine Aufregung war berechtigt. Zwar ist die Schauspielerin Nina Petri, die den Lesepart virtuos übernahm, ein echter Vollprofi und durch nichts zu erschüttern, doch alle anderen – inklusive mir – waren wirklich bis zur letzten Sekunde gespannt, ob dieses Mammutprojekt gelingen würde.
Die Veranstaltung selbst mit 200 Plätzen war ausverkauft – unsere “Gehirn und Geist“-Hefte, aus dem Hause Spektrum, die wir als Medienpartner verteilen durften, gingen als Lesefutter weg wie die sprichwörtlichen warmen Semmeln. Aber all diese neugierigen Menschen im dunklen Schwarz der hermetisch-lichtdicht gemachten Alten Feuerwache von Blinden und Blindenlehrern einzeln zu ihren Plätzen bringen zu lassen, war ein langwieriges Abenteuer. In der Ilvesheimer Schlossschule kennen die “Führungskräfte” natürlich jede Ecke, jeden Vorsprung, jede Schwelle, nicht jedoch in Mannheim.
Ich saß mit Nina Petri hinter der Bühne auf dem Sofa und wartete gefühlte Stunden sehnsüchtig auf den Startschuss. Für die Schauspielerin war eine so genannte Black Box auf der Bühne gebaut worden, eine Lesekabine mit kleiner Lampe, Tisch und Stuhl, so abgedichtet, dass kein Lichtstrahl nach außen dringen konnte. So war sie physisch ganz nah dran am Publikum, konnte jedoch im Hellen lesen.
Das war angesichts des komplexen Textes auch dringend notwendig. Ihr Manuskript, auf das ich einen Blick erhaschen durfte, sah aus wie ein Feld bunter Blumen mit all den Zeichen, die sie sich gemacht hatte. Der portugiesische Literaturnobelpreisträger José Saramago spart sich nicht nur über weite Teile die Satzzeichen und reiht alles anneinander, sondern er hat sich auch für das Blindenthema eine spezielle Technik ausgedacht: Wenn er in die direkte Rede wechselt, gibt es keine Zuschreibung zu einer bestimmten Person, sondern Leser und Hörer müssen erahnen, wer da gerade spricht. Genau so wie es einem blinden Menschen ergehen würde, der Stimmen noch nicht so gut auseinander halten kann. Meine Hochachtung wuchs ins Unermessliche, schon passiv den Text zu lesen, ist anstrengend, aber laut, mit der richtigen Betonung…. Später im Gespräch auf der Bühne erzählte die Hamburgerin, dass sie – ganz anders als bei sonstigen Lesungen mit Licht – in ihrer Black Box regelrecht geschauspielert habe, um die Komplexität des Textes zu knacken. Die Zuhörer konnten sie zwar nicht sehen, aber ihren Körpereinsatz fühlen. Denn das Hörerlebnis war so eingängig, dass die Kompliziertheit vollends hinter dem Geschehen verschwand.
Ich saß, wie geschrieben, hinter der Bühne, wartend auf meinen Auftritt für die Moderation. Dort war es dunkel, aber nicht stockdunkel, das Schild des Notausgangs war gerade noch zu erkennen. Von den Zuhörern war ich durch einen Vorhang abgetrennt. Doch ich spürte deren Aufregung, beziehungsweise ich hörte sie. Wenn sich Sehende im Dunkeln nämlich ein bisschen fürchten, reden sie unheimlich laut miteinander, zumal wenn sie auf etwas warten. Ich denke, das hängt damit zusammen, dass wer im Dunkeln nichts sagt, von den anderen nicht wahrgenommen wird und so quasi verschwindet. Um das zu verhindern, wird gequatscht, was das Zeug hält. Gleichzeitig wächst das Gemeinschaftsgefühl und man würde gerne den Nebensitzenden berühren, selbst wenn man ihn noch nie zuvor gesehen hat.
Als dann der Gong ertönte und Nina Petri ihre einstündige Lesung begann, zogen ihre Worte alle Aufmerksamkeit auf sich. Es war so unglaublich still in der Alten Feuerwache, dass es schier nicht zu fassen war. Die Einheit von Lesender und Zuhörenden war so intensiv, dass ich sie körperlich fühlte wie ein einziger großer Organismus. Trotz der Härte des Textes, in dem sehr drastisch beschrieben wird, wie die Menschen nacheinander erblinden, in einer Psychiatrie weggesperrt werden und dort eine Gewaltherrschaft ausbricht, musste niemand aus dem Dunkel hinausgeführt werden.
Wie meine Moderation des Gesprächs mit Nina Petri, dem blinden Mädchen Kerstin Peters (12 Jahre) und ihrem ebenfalls blinden 13-jährigen Mitschüler Daniel Avendar sowie der Leiterin der Schloss-Schule Ilvesheim Stephanie Liebers und dem Chef des Veranstaltungsorts Alte Feuerwache Sören Gerhold war? Ehrlich gesagt, ich weiß es nicht. Ich weiß nur, dass ich unglaublich froh war, dass das Licht wieder anging und am Ende alle begeistert applaudierten. Ich weiß noch, dass ich vor allem Daniel und Kerstin bewundert habe, wie souverän sie vor so zahlreichem Publikum geantwortet haben und auch ganz ehrlich erzählten, wann sie sich ausgeschlossen fühlen. Wie berührt ich von Stephanie Liebers’ Engagement für ihre Schützlinge war und davon, wie vehement sie uns als Gesellschaft aufgefordert hat, diesen Schatz zu erkennen, den diese Kinder und Jugendliche mit sich bringen. Wie ungemein spannend ich die Ausführungen von Nina Petri dazu fand, wie sie sich auf diese ganz besondere Lesung vorbereitet hat und wie klug ihre Interpretationen des Textes waren und wie sehr ich mich darüber gefreut habe, dass Sören Gerhold meinte, er könne sich eine solche Veranstaltung durchaus wieder einmal vorstellen …
Übrigens, auf die Frage von SciLog-Leserin Renate Ries, woran blinde Menschen ihren ersten Eindruck festmachen, gab’s auch eine Antwort. Die Stimme spielt eine große Rolle und die Sprache, aber auch, wie einfühlsam und zuvorkommend sich jemand verhält.
Ich bedaure sehr, daß ich da nicht dabei war! Toll!