• Von Philipp P. Thapa
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Das Muster durchbrechen


Welche Erinnerung genau zu welcher der Nächte gehört, die ich als Forschungsmitglied eines EU-Kulturprojekts Ende August in Rīga verbrachte, das ist mir nicht immer auf Anhieb klar. Geschah es in den frühen Morgenstunden gleich der ersten Nacht, nachdem wir von der viertägigen Projekteinkehr draußen im flachen Lettland in die Hauptstadt zurückgekehrt waren, daß zwei unserer Residenzkünstler·innen und ich auf dem Weg zu unseren jeweiligen Betten ein längeres Stück gemeinsam durch die schlafende Stadt spazierten und über Karma, Gewohnheiten und die Macht der Muster diskutierten, bis ich am Bastejkalns-Park abbog? Es waren jedenfalls dieselben beiden, eine lettische Installations- und Performancekünstlerin und ein ungarischer Photograph, mit denen ich am Nachmittag nach unserer Rückankunft das Teehaus am Vērmane-Garten besucht hatte.

Auf der sommerlich warmen Teehausveranda war unser Gespräch zwischen Heißwasserflaschen und chinesischem Teegerät unter anderem in die sumpfigen Gefilde der Astrologie mäandert. Den beiden Kolleg·innen half die Vorstellung, daß Tierkreiszeichen den Charakter prägen, offenbar dabei, mit sich selbst und anderen Menschen zurechtzukommen. Ohne über weltanschauliche Wahrheit zu streiten, entdeckte ich daran den freundlichen Gesichtspunkt, daß die Tierkreiszeichen unsere Vielfalt menschlicher Persönlichkeiten gewissermaßen kosmisch rechtfertigen – vielleicht ein gesundes (wenn auch nicht das einzig denkbare) Gegengewicht zu Moralvorstellungen, die auf einen idealen Einheitscharakter zulaufen.

Wenn meine Chronologie stimmt, verbrachte ich den späteren Nachmittag mit anderen Kolleg·innen bei einer fußläufigen Galerientour, die auf dem Vidzeme-Bauernmarkt endete. Dort fand sich eine wachsende Gruppe zusammen, die per Bus ans östliche Daugava-Ufer in den Vorstadtbezirk Āgenskalns wechselte, um nach dem Abendessen und einem Kurzbesuch in der Pils-Bar rechtzeitig im Uzvara-Park einzutreffen. Es dämmerte längst, als im dortigen Skategelände die öffentliche Generalprobe einer Performance begann, die aus einer weiteren Künstlerresidenz unseres Projekts hervorging. In dem düsteren Mitmachszenario schnallten wir, das Publikum, Kunstlungen an und folgten den Performern in einen unterirdischen Luftspeicher, um die Vergiftung der Erdatmosphäre zu überleben. Danach landete ich wie viele andere Kolleg·innen wieder in der Stadtmitte, in einem freundlichen Kulturzentrum mit Bar und Elektro-DJ, in das wir auch an den folgenden Abenden einkehrten. Und von dort aus dürfte ich nach langen Gesprächen, zu sehr später Stunde, jenen Fußweg zu meiner Unterkunft angetreten haben, den ich ein Stück weit wieder mit der Installationskünstlerin und dem Photographen teilte.

Er sei gefangen, rief der junge Photograph, in Verhaltensmustern, die ihm schadeten, und so genau er sie auch kenne und verstehe, gelinge es ihm nicht, ihnen zu entkommen!

Ich vermute, daß wir alle drei bei dieser Beobachtung auch an die Umweltkrise dachten. Wir hatten uns gerade vier Tage lang in einer Projektgemeinschaft ausgetauscht, die im Medium von Kunst und Kultur mit solchen Fragen ringt.

Den Photographen allerdings quälten neben Eß-, Trink- und Schlafgewohnheiten vor allem seine Beziehungsmuster. Der Begriff des Karma kam ins Gespräch. Ich gab zu Bedenken, daß Karma, oder der Grundsatz von Ursache und Wirkung, auch diesseits der Wiedergeburtenlehre zu verstehen sei. Was wir tun, wirke sich ja schon innerhalb eines Lebens auf unsere Zukunft aus, nämlich auch, indem es Gewohnheiten begründe, die wir mit jeder Wiederholung weiter verstärken. Karma sei nicht Schicksal, sondern eröffne auch die Möglichkeit, bessere Gewohnheiten einzuüben – auf englisch habits, ein zentraler Begriff in der praktischen Philosophie und Bildungspsychologie nach John Dewey.

Er müsse pinkeln, sagte der Photograph, und zwar dringend. Im Park zwischen Nationalem Kunstmuseum und Rainis-Denkmal spielte er mit dem Gedanken, sich dafür in die Büsche zu schlagen. Wir rieten ab. Es sei unhöflich gegenüber dem Andenken an Rainis, den großen lettischen Dichter. Und die Installationskünstlerin erzählte, ein britischer Tourist sei für immer des Landes verwiesen worden, nachdem er sein Wasser nur wenige hundert Meter entfernt am lettischen Freiheitsdenkmal abgeschlagen habe. (Für diese Härte finde ich keinen Beleg, aber in einigen Fällen wurden mehrtägige Freiheitsstrafen verhängt.) Leider schienen die öffentlichen Toiletten hinter dem Rainis-Denkmal um diese Stunde verschlossen zu sein. Der Photograph beschloß, weiter durchzuhalten.

Gewohnheitsmuster seien ja nicht grundsätzlich schlecht, diskutierten wir weiter, während wir aus dem Park wieder auf die hellerleuchtete Straße traten. Wir brauchten Muster, um überhaupt leben zu können. Ja, sei nicht Leben geradezu definiert als eine bestimmte Art der Musterbildung im Materie-Energie-Fluß? Der Photograph wurde zunehmend nervös. Darum verhielten sich alle Lebewesen musterhaft, nur hätten wir Menschen unter ihnen die größte Freiheit, unsere Denk- und Handlungsmuster gezielt zu verändern, anzupassen, zu verbessern. Und auch der Umgang mit Situationen, die unerwünschte Gewohnheitsmuster auszulösen drohen, lasse sich gezielt trainieren, wie etwa in Therapieprogrammen gegen Trinksucht … Jetzt müsse er es doch laufenlassen, sagte der Photograph, als wir den Bastejkalns-Park erreichten. Oder nein, es gehe doch noch. Wir sagten gute Nacht, ohne anzuhalten, und ich bog am ersten Baum und Busch ab. Die beiden Kolleg·innen nahmen den ausgeleuchteten Hauptweg. Ach, er tue es jetzt doch!, hörte ich den Photographen hinter mir rufen und blickte zurück.

Ich sah eine dunkle Silhouette vor dem gelben Laternenschein, die ruckartig umkehrte und loslief. »Break the pattern!«, rief ich dem Kollegen noch nach, als er panisch ins Gebüsch stürzte.

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Ökologe, Philosoph und Autor. Fellow beim Sustainable Europe Research Institute Germany (SERI), Forschungsleiter im EU-Verbundprojekt The Big Green. Lehrbeauftragter für Umweltethik an der Hochschule für nachhaltige Entwicklung Eberswalde. Lehrte auch an den Universitäten Rostock, Freiburg (2011–2023), Greifswald, LMU München, Lübeck. Forscht zur Funktion von Phantasie und Kreativität in der Umweltphilosophie und in der Praxis der nachhaltigen Entwicklung.