Weihnachtsmanns Werden

BLOG: Con Text

Wörter brauchen Gesellschaft.
Con Text

Adventszeit, Märchenzeit. Abgesehen vom Märchenprogramm der ARD-Sender – im Wesentlichen die Dauerschleife des brillanten tschechischen Films Drei Nüsse für Aschenbrödel – bekommen wir vor allem Sagenhaftes aus christlicher Tradition vorgesetzt. Natürlich weiß jeder, der es wissen möchte, dass Weihnachten und Silvester von Missionaren im Frühmittelalter kooptiert wurden. So wie die Römer Frieden brachten [lat. pacere], nicht Krieg und Ausplünderung. Die germanischen und keltischen Lichterfeste wurden erst verchristlicht, im 19. Jahrhundert durch die deutsche Romantik verklärt und geschmückt, zuletzt von Softdrinkunternehmen kapitalisiert. Es gibt aber schöne, unterhaltsame Alternativen zu Neuerzählungen christlicher Abenteuergeschichten. Eine davon schuf L. Frank Baum.

Machen Sie sich keine Sorgen, falls sie den Namen noch nie gehört haben, er ist in Europa, besonders in Deutschland, nicht so bekannt. Sein berühmtestes Werk kennen die meisten Menschen eh nur als Film – The Wizard of Oz. Der Amerikaner schuf zwischen 1900 und 1920 insgesamt 16 wundervolle Bücher rund um das fabelhafte Land Oz, dazu viele weitere Romane, Gedichte, Abenteuerromane, die meisten für Kinder und Jugendliche.

1902 kam seine Version des Weihnachtsmannes in die US-amerikanischen Buchläden: The Life and Adventures of Santa Claus. Wie in seinen anderen Kindergeschichten, schuf er eine ganz eigene Welt. Er löst sich dabei bewusst fast vollkommen von europäischen Vorbildern. Genau wie John Ford mit seinen Western eine ganz eigene Ikonografie und sagenhafte Geschichtsschreibung für die USA hervorbringen wollte, war es das Ziel Baums, eine amerikanische Märchenwelt zu entwickeln. Er mochte die Brutalität der alten Märchen nicht, deren Moralisierung, deren immer gleiche Figuren.

Aus dem Märchenwald

Bei Baum ist der Weihnachtsmann kein Bischof aus Kleinasien, er ist ein Findelkind, eines Tages gefunden im Märchenwald von Burzee vom Meister des waldes, der das Baby einer Waldnymphe anvertraut, die gerne ein Kind aufziehen möchte. Sie nennt ihn ‘den Kleinen’, in ihrer Sprache ‘Claus’, was zu ‘Neclaus’, der Kleine von Necile [so der Name der Waldnymphe] wird. Alle Wesen des Waldes helfen, das Kind groß zu ziehen, sogar der große Wald-Meister.

In einem harmlosen Initiationsritus muss Claus erkennen, wie schlecht die Menschen – seine eigene Art! – sind. Sie behandeln Kinder schlecht und bekriegen sich, statt gemeinsam gegen Armut zu kämpfen. Seine Güte macht ihn bald bekannt, er hilft Kindern und beschenkt sie mit Spielzeug, das er selbst herstellt. Wie es sich für eine spannende Kindergeschichte gehört, gibt es auch böse Wesen, die Claus das Leben schwer machen, weil sie wollen, dass Kinder sich schlecht benehmen oder einfach nur ein wenig Spaß haben wollen.

Schritt für Schritt lässt Baum Claus Episoden erleben, die den Lesern die verschiedenen Weihnachtsbräuche erklären, bis hin zu seinem Namen:

[B]ut the mothers, watching the glad faces of their dear ones, whispered that the good Claus was no mortal man but assuredly a Saint, and they piously blessed his name for the happiness he had bestowed upon their children.

“A Saint,” said one, with bowed head, “has no need to unlock doors if it pleases him to enter our homes.”

And, afterward, when a child was naughty or disobedient, its mother would say: “You must pray to the good Santa Claus for forgiveness. He does not like naughty children, and, unless you repent, he will bring you no more pretty toys.”

But Santa Claus himself would not have approved this speech. He brought toys to the children because they were little and helpless, and because he loved them. He knew that the best of children were sometimes naughty, and that the naughty ones were often good. It is the way with children, the world over, and he would not have changed their natures had he possessed the power to do so.

And that is how our Claus became Santa Claus. It is possible for any man, by good deeds, to enshrine himself as a Saint in the hearts of the people.*

 

Baum verfolgte sicherlich keine christlich-missionarische Agenda, auch wenn es in dieser Passage so aussehen mag. Der letzte Satz macht deutlich, dass er hier nicht die katholische Definition für ‘Saint’ benutzt, sondern eine umgangssprachliche.

Noch stärker als im Zauberer von Oz gelingt es Baum mit seiner überschäumenden Fantasie eine ganz eigene Welt zu schaffen, in die wir schnell eintauchen wollen. Und aus der wir nur ungern wieder auftauchen. Weil er seine kindliche Zielgruppe Ernst nimmt, macht es auch Erwachsenen Spaß, sein Weihnachtsmannmärchen zu lesen. Sein Wortwitz mag dem abgestumpftem Intellektuellen zu albern erscheinen, erfreut aber den Leser, weil er spielerisch bleibt. Da finden sich Wesen, die Knooks heißen oder Ryls, ein kleiner Junge namens Weekum und so fort.

Alle Werke L. Frank Baums sind im Original Public Domain und u.a. bei Project Gutenberg erhältlich; eine deutsche Übersetzung von The Life and Adventures of Santa Claus gibt es als Insel Taschenbuch.

*aus L. Frank Baum. The Life and Adventures of Santa Claus. 1902 [Public Domain, verwendete Quelle bei Project Gutenberg]

Weitere Quellen:

  • Roger Sale. Fairy Tales and After: From Snow White to E. B. White. Cambridge, MA: Harvard University Press, 1978.
  • Jerry Griswold. Audacious kids: coming of age in America’s classic children’s books. New York, NY: OUP, 1992. 
  • Neil Earle. The wonderful wizard of Oz in american popular culture: uneasy in eden. Lewiston, ME: Edwin Mellen Press, 1993.
  • Michael O. Riley. Oz and Beyond: The Fantasy World of L. Frank Baum. Lawrence, KS: University of Kansas Press, 1997.
  • http://thewizardofoz.info/

Nach dem Abitur habe ich an der Universität Hamburg Anglistik, Amerikanistik, Soziologie und Philosophie studiert. Den Magister Artium machte ich 1992/93, danach arbeitete ich an meiner Promotion, die ich aus verschiedenen Gründen aufsteckte. Ich beschäftige mich meist mit drei Aspekten der Literatur: - soziologisch [Was erzählt uns der Text über die Gesellschaft] - technisch [Wie funktioniert so ein Text eigentlich] - praktisch [Wie bringen wir Bedeutung zum Leser] Aber auch theoretische Themen liegen mir nicht fern, z.B. die Frage, inwieweit literarische Texte außerhalb von Literatur- und Kunstgeschichte verständlich sein müssen. Oder simpler: Für wen schreiben Autoren eigentlich?

7 Kommentare

  1. Scilogger Dierk!

    Du jetzt auch hier. Genial! Dein erster Beitrag hier gefällt mir richtig gut, werde gleich mal bei gutenberg.org vorbeischauen.

    Willkommen in unseren Reihen!

  2. Legenden in neuem Gewand

    Danke für diese Geschichte, sie rührt mich an, ich kannte sie noch nicht. Meine Phantasie geht gleich auf die Reise, ob nicht andere Legenden mit neuer Bedeutung gefüllt werden könnten um den oft moralischen Anspruch zu mildern und zeitgerecht zu präsentieren.
    Ich bin in der Grundschule in “den Zauberer von Oz” abgetaucht (ich hatte eine Ausgabe mit wundervollen Bildern) und fand danach jede Verfilmung mehr als unbefriedigend, weil ich den Zauber der Geschichte vermisste
    Ihr Artikel regt mich dazu an, die Werke von L. Frank Baum nun im Original zu lesen.

  3. @Dierk

    Herzlich willkommen bei den Chronologs! Eine Historikerin, ein Wirtschafsethiker, ein Literaturwissenschaftler – jetzt sind wir hier endlich in der interdisziplinären Königsklasse angekommen, juchhu!

    Danke auch für den interessanten Blogbeitrag, der wieder richtig Lust auf Weihnachtsgeschichten macht. 🙂

  4. Ja!

    Auch meinerseits herzlich willkommen. Ich möchte es auch für mich als positive Herausforderung nehmen. Und: die hier in ChronoLogs jetzt dreifach erweiterte Vielfalt kann allen nur gut tun.

  5. Ernst im Spiel

    Ja, und die Betonung, dass er „spielerisch bleibt“ finde ich gut.
    Spielerisch bleiben – auch mit verschiedenen Erzählmöglichkeiten zu verschiedenen Nikoläusen – ist gut, wenn man es ernst nimmt.