Was der Doktor im Netz sucht

BLOG: Con Text

Wörter brauchen Gesellschaft.
Con Text

In den letzten Wochen dominiert ein 370 Seiten langer, gedruckter Rant Talkshows, Schlagzeilen, Blogs und Twitter. Manfred Spitzer folgt den Beispielen großer [z.B. Platon und Aristoteles] und kleiner Geister, die alle paar Jahre den Untergang des Abendlandes, der Kultur prophezeiten oder doch zumindest darüber klagten, dass die nachfolgende Generation so viel dümmer und unkultivierter sei als die eigene.

In meiner Kindheit war es der Konsum von Büchern, der angeblich zu schlechten Augen führte [und natürlich verfettete, Beweglichkeit nahm, ‘Kind, geh doch mal an die frische Luft spielen!’], dann das Fernsehen, das all das schaffte, was vorher dem Buch vorbehalten war und zusätzlich noch schneller verblödete.

Selbstverständlich gibt es schlechtes TV, ebenso wie es schlechte Bücher gibt. Allerdings dürfte es weniger von Ersterem geben. Gerade das Fernsehen hat in den letzten 25 Jahren eine beachtliche Entwicklung hingelegt. Es gibt zwar mehr und mieseren Dreck vor allem bei Spielshows und Reportagen, aber gleichzeitig stieg die Qualität fiktionaler Stoffe auf jeder Ebene an.

Während der Kinofilm selbst bei den ausufernden Längen, die ein Peter Jackson oder James Cameron gerne füllen, am ehesten mit der Kurzgeschichte oder Novelle zu vergleichen ist, erlauben Fernsehserien das breite Erzählen des Romans  und des Epos. Ein paar Beispiele, von denen wohl jeder schon etwas gehört hat: The Sopranos, The Wire, Breaking Bad, Mad Men.

Seit letztem Samstag läuft bei der BBC wieder deren Erfolgsserie Doctor Who, die älteste aktive SF-TV-Show der Welt. 1962 1963 begann sie, wurde 1989 ausgesetzt, hatte in den 1990ern nur einen TV-Film und startete 2005 unter der kreativen Führung von Russell T. Davies, der auch für die Ableger Torchwood und The Sarah Jane Adventures verantwortlich zeichnet.

Die aktuelle Staffel zur Feier des fünfzigsten Geburtstags ist die dritte, bei der Steven Moffat Head Writer und Produzent ist. Für jene Leser, denen Plots ganz wichtig sind, sei gesagt: Here be spoilers.

Ich werde nicht die lange Geschichte aufdröseln, nicht einmal, um zu zeigen, wie sich Erzählform, Charaktertiefe, Ideenhöhe verändert haben. Mich interessiert, wie das Internet die Werkrezeption und damit die Werkschöpfung verändert.

Anders als noch bis in die 1990er beschäftigen wir uns heute nicht mehr nur mit Filmen/Serien im Kino bzw. im Wohnzimmer. Wir erhalten aus dem Internet Vorinformationen, die meist von Marketingabteilungen platziert werden. Das gab es auch vor dem Internet, das Kino zeigte Trailer, die dann irgendwann in die Fernsehwerbung schwappten, Journalisten schrieben Rezensionen oder über Dreharbeiten. Dies alles war Werbung auf Boulevardniveau, deren Techniken auch von TV-Sendern übernommen wurden.

Recht neu ist die Einbindung solcher werblicher Vorabinformationen in die eigentliche Erzählung. Es entsteht außerhalb des Kernangebots der TV-Serie Doctor Who in unserem Falle – ein eigener Spannungsbogen, der die Serie ergänzt. Als Anheizer zur neuen Staffel gab es ca. einminütige Webisodes über das Alltagsleben der Ponds. Die kurzen Pastiches vertiefen Charaktere und lassen Spekulationen über die Storyentwicklung sprießen. Zumindest die interessierteren Zuschauer beschäftigen sich mit dem Gezeigten, denken über die Bedeutung von Kleinigkeiten nach, entdecken und interpretieren Symbolisches.

Nicht schlecht für verdummende Medien.

Steven Moffat nutzt aber nicht nur die Webisodes, auch seine Interviews* sind Teil seines Gesamtkunstwerks Doctor Who. Noch im letzten Fr´ühjahr schimpfte er über Fans und Journalisten, die Geschichten spoilern. Nun gehören zumindest milde Spoiler schon lange zur Tradition der Serie, in der die Hauptfigur ähnlich James Bond immer wieder von neuen Schauspielern dargestellt wird. Auch die companions wechseln immer wieder, was bereits im Vorfeld bekannt ist, da Schaupieler engagiert oder entlassen werden.

Bestes Beispiel ist die aktuelle 7. Staffel. Schon lange vor Ausstrahlung wurde bekannt gegeben, dass der Doctor eine neue Begleiterin bekommt – Amy und Rory werden von einer jungen Frau abgelöst, die Jenna Louise Coleman verkörpert. Allerdings wird diese neue Partnerin erst in der Weihnachtsfolge die TARDIS besteigen. Niemand erwartete Coleman gleich in der ersten Folge der neuen Staffel. Doch genau dort tauchte sie auf, in einer Rolle, die gleich doppelt überraschte und zu Spekulationen beim Zuschauer führt.

Moffat gelang es, seine Zuschauer an der Nase herumzuführen, wie es sich für einen guten Schriftsteller gehört. Er machte die kaum geheim zu haltenden Informationen zu einem wesentlichen Bestandteil seiner Erzählung. Nun war er bereits vorher als Autor bekannt, dessen Drehbücher sehr genau kalkuliert sind. Seine Zuschauer sind es gewohnt, auch auf die kleinsten Details zu achten, selbst nebenbei hingeworfene One-liner erhalten – manchmal viel später – Bedeutung.**

So passiert es, dass moderne Medien wie das über 75 Jahre alte Fernsehen und das auch schon über 40 Jahre alte Internet zusammenwachsen und Gesamtkunstwerke schaffen, die uns vom passiven Zuschauer zum aktiven Mitdenker machen. Wir denken heute mehr über das Gesehene nach, über die innere Logik der Plots und Geschichten, über die Charaktere und deren Hintergrund, über die Ideen, die in der spannenden Story verborgen stecken.

Dumm macht das alles nur, wenn man damit dumm umgeht.

 

*Nochmal: Doctor Who dient hier als Beispiel, Moffat ist nicht der einzige Show-Leiter, der sich die Wünsche der Marketingspezialisten kreativ zunutze macht. Ein anderes prominentes Beispiel ist Vince Gilligan von Breaking Bad.

**Falls Sie Steven Moffat nicht durch Doctor Who kennen, haben Sie vielleicht schon seine andere aktuelle Serie gesehen, Sherlock. Oder jenes Meisterwerk der romantischen Sitcom Coupling. Auch sehr empfehlenswert ist Jekyll, seine moderne Interpretation der Novella The Strange Case of Dr Jekyll and Mr Hyde von Robert Louis Stevenson.

 

[Update] Da ich meine Moffatts und Moffats und Moffetts immer wieder mal durcheinander bekomme, habe ich den Namen des Doctor Who Headwriters korrigieren müssen.

[Korrektur] Ich hatte Doctor Whos Geburt im Text mit 1962 angegeben, was natürlich Unsinn ist; die erste Folge der Serie lief am 23. November 1963.

Nach dem Abitur habe ich an der Universität Hamburg Anglistik, Amerikanistik, Soziologie und Philosophie studiert. Den Magister Artium machte ich 1992/93, danach arbeitete ich an meiner Promotion, die ich aus verschiedenen Gründen aufsteckte. Ich beschäftige mich meist mit drei Aspekten der Literatur: - soziologisch [Was erzählt uns der Text über die Gesellschaft] - technisch [Wie funktioniert so ein Text eigentlich] - praktisch [Wie bringen wir Bedeutung zum Leser] Aber auch theoretische Themen liegen mir nicht fern, z.B. die Frage, inwieweit literarische Texte außerhalb von Literatur- und Kunstgeschichte verständlich sein müssen. Oder simpler: Für wen schreiben Autoren eigentlich?

5 Kommentare

  1. Ökonomie intelligenter TV Shows

    Ein Post der mehr Kommentare verdient.

    Solche Serien haben mich als TV-losen plötzlich wieder zum “Fernsehen” gebracht (auf dem Computerschirm und per DVD).

    Die Initialzündung für diese Renaissance ist wohl auch dem Modell des US Amerikanischen Kabelsenders HBO zu verdanken, der in den frühen 90er angefangen hat, Serien nicht nur einzukaufen. sonder selber zu produzieren (mit allen guten und schlechten Risiken die damit kommen). Dies erwies sich kreativ und ökonomisch als Erfolgsmodell (hier ein interessanter Artikel aus dem Economist dazu) und das auch neue Standards für die Konkurrenz setzte.

    Last but not least wollte ich noch nachfragen, ob du wirklich meinst, dass der Doktor wirklich repräsentativ ist. Das ganze Rätseln und Spekulieren scheint mir in diesem Extrem vor allem auch möglich, weil der Doktor eine eingefleischte Fanszene hat und inzwischen ganze Generationen mit ihm aufgewachsen sind. Ich bin zwar einverstanden mit der Aussage, bin mir aber nicht so sicher ob der Doktor ein gutes Beispiel ist.

  2. Avantgarde

    Repräsentativ ist er sicher nicht, die meisten TV-Serien laufen immer noch einkanalig 1->viele. Es wundert mich wenig, dass gerade SF-Werke hier Vorreiter sind, schließlich haben die immer eine – oft kleine – sehr [laut]starke Fangemeinde hervorgebracht. Einige haben daraus mächtige Werkuniversen geschaffen: Star Trek, Star Wars, Stargate, Dr Who. Ursprünglich waren die Spielzeuge, Comics, Romane [Novelisations und Weiterführungen] eine Möglichkeit der Produzenten mehr Geld zu machen.

    Heute sind Webisodes, Twitter und Blogs fester Bestandteil der Kerngeschichten, und das nicht nur im SF-Genre, sondern auch bei Krimis und Dramen. JJ Abrams und Joss Whedon sind weitere Beispiele für den Trend zum medienverknüpften Erzählen.

    Wir stehen da immer noch am Anfang, das hängt auch mit der Technik im Wohnzimmer ab: Wenn die Schwelle zum Wechseln der Kommunikationskanäle tatsächlich so klein geworden ist, wie die Schwelle beim Wechseln des Programms, wenn also der Normalzuschauer ganz einfach und natürlich teilhaben kann, dann werden wir mehr davon sehen.

  3. Sie schreiben: „… die alle paar Jahre den Untergang des Abendlandes, der Kultur prophezeiten oder doch zumindest darüber klagten, dass die nachfolgende Generation so viel dümmer und unkultivierter sei als die eigene.
    In meiner Kindheit war es der Konsum von Büchern, der angeblich zu schlechten Augen führte [und natürlich verfettete, Beweglichkeit nahm, ‘Kind, geh doch mal an die frische Luft spielen!’], dann das Fernsehen, das all das schaffte, was vorher dem Buch vorbehalten war und zusätzlich noch schneller verblödete…“

    Da geht etwas durcheinander. Die Warnungen vor den Büchern hatten nicht das Geringste mit jenen Kulturuntergangswarnungen zu tun, die sich jetzt gegen Fernsehen und Internet richten. Niemand hat den Kindern das Lesen verboten, weil sie dadurch dumm oder kulturlos würden. Da war etwas ganz anderes am Werk (von ganz vernünftiger Sorge um die Gesundheit abgesehen): Die Mischung aus Haß, Verachtung, Minderwertigkeitsgefühlen und Angst, mit der man in den Bildungs-Unterschichten – also da, wo man meint, im „richtigen Leben“ zu stehen – auf diejenigen blickt, die Bücher lesen, jedenfalls bessere Bücher. Diese Haltung ist derjenigen der Leute ziemlich verwandt, die heute das

  4. Richtig, in meiner Kindheit war es der Comic, der kulturzersetzend wirkte, das Buch war nur noch teilweise drin, nämlich wenn es um Karl May ging, Ganghofer, Perry Rhodan, Kommissar X, die gelbe Reihe von Ullstein und so fort. Aber das ‘Beweg dich an der frischen Luft’-Argument wird explizit von Manfred Spitzer benutzt.

    Ob nun das Zerstörerische für die Kultur oder die real world-Klage – wer sich nicht in die richtige Welt begibt, wird dumm – übergeordnet ist, scheint mir uninteressant.

  5. @ Dierk kein Betreff

    „Ob nun das Zerstörerische für die Kultur oder die real world-Klage – wer sich nicht in die richtige Welt begibt, wird dumm – übergeordnet ist, scheint mir uninteressant.“

    Das find’ ich gerade nicht. Es sind ja im allgemeinen die genau entgegengesetzten politisch-kulturellen Lager, die die eine und die die andere Klage führen.

    Wer den Kindern den Comic verbieten will, gehört nicht zu denen, die ihnen das Bücherlesen verbieten wollen, sondern der sagt, sie sollen lesen, sehr nicht sowas. Wer sagt, daß man sich in die richtige Welt begeben soll, der hat in aller Regel nichts gegen das Fernsehen und das Internet. Er verteidigt das mit Argumenten wie „das gehört nun mal zu unserer modernen Wirklichkeit“, der denkt rein funktional und geschäftsmäßig, der findet Einschaltquoten etwas Wichtiges und selbstverständlich zu Berücksichtigendes und begeistert sich daran, daß man über das Internet an viel „Information“ kommt – der mag also alles, was einem typischen Kultur-Verteidiger ein Greuel ist. Ein solcher verteidigt die nicht-wirkliche Welt, die der Ideen (wenn er mehr von der aufklärerischen Sorte ist) und die der Träume und Fantasien (wenn er mehr von der romantischen Sorte ist) gegen die Welt des Faktischen, gegen das, was im angeblich richtigen Leben zählt. Kultur ist hier eben das, was über das sogenannte Lebensnotwendige hinausgeht. – Wenn man aus früheren Zeiten eine Parallele zu der Klage über Fernsehen und Internet finden will, dann besteht die in der verbreiteten, meist kulturkonservativen(und selbstverständlich berechtigten) Aversion gegen Zeitungen und Journalismus, aber nicht in dem Versuch, das Bücherlesen zu verbieten.