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Wörter brauchen Gesellschaft.
Con Text

Recherche: Stapel Bände der Encyclopedia BritannicaDass Juden bis zurück in antike, polytheistische Gesellschaften verfolgt wurden, sollte nicht mehr zur Debatte stehen. Die Belege sind vielfältig, die alten Denunziationen werden immer wieder eingesetzt. Selbst die Kennzeichnung, die der nationalsozialistische Staat Juden aufzwang, war keine neue Erfindung, er geht zurück auf das 12. Jahrhundert – bereits damals mussten Juden gelbe Erkennungszeichen auf der Kleidung befestigt tragen, damit jeder sofort erkannte, mit wem er es zu tun hatte.1

In der Mitte des 19. Jahrhunderts bekam der Hass auf Juden eine neue Qualität. Diverse Publizisten, Historiker, Biologen etc. entwickelten wissenschaftlich klingende Theorien, weshalb ‘die Juden unser Unglück’2 seien. Sie stellten die semitischen den arischen Rassen gegenüber, entlehnten ihre Begrifflichkeit dabei aus der in den Kinderschuhen steckenden Sprachwissenschaft, übertrugen sie wiederum auf diverse Merkmale phänotypischer wie kultureller Art.

Praktisch von Beginn an wurde ‘semitisch’ synonym für ‘jüdisch’ benutzt, u.a. weil nicht-jüdische orientalische Kulturen damals hoch angesehen waren3. Als wissenschaftlich neutral klingende Verbrämung setzte sich der Neologismus ‘Antisemitismus’ ab den späten 1870ern/frühen 1880ern durch.4

Die Gründung des Staates Israel ist das Ergebnis eines Jahrtausende langen historischen Prozesses, der im Holocaust gipfelte. Theodor Herzls Zionismus war eine Antwort auf die allgemeine Unterdrückung des Judentums und die besonderen pseudowissenschaftlichen Publikationen seiner Zeit. Spätestens nach der Dreyfus-Affäre sah er eine ganz konkrete Gefahr für jeden Juden, der in Europa lebte, der nur begegnet werden konnte, indem der jüdischen Nation auch ein Staatsgebiet zugesprochen wurde.

Seine Hoffnung, den Antisemitismus damit zu besiegen, ging auch nach der widerwärtigen systematischen, industriellen Vernichtung des europäischen Judentums und der folgenden Gründung des Staates Israel nicht auf. Der Antisemitismus änderte seinen Namen, wurde erst zum Antizionismus, dann zur Israelkritik.

Mit ‘Israelkritik’ wird implizit die Existenz des Staates beargwöhnt. Doch diese ist nicht diskutierbar; wer die Existenz des Staates Israel ablehnt, muss sich klar sein, dass dies eine antisemitische Position ist.5 Israelkritik ist als Bezeichnung besonders perfide, tut der Begriff doch so, als ginge es nicht um ‘die Juden’. Tatsächlich wird aber auch hiermit das Volk/die Religion in einen grossen Sack getan und dann drauf geschlagen. Setzen wir einen anderen Staatsnamen in das Wort ein, sagen wir Deutschland – Deutschlandkritik. Zu Recht würden wir irritiert und verärgert sein, wenn der Staat an sich kritisiert würde, denn genau das passiert damit.

Der Versuch den Antisemitismus-Vorwurf auszuhebeln, indem auf den linguistischen Gebrauch der Wortwurzel ‘semitisch’ verwiesen wird, ist somit historischer Unfug. Im schlimmsten Fall ist er nur ein – im Grunde leicht zu durchschauender – Versuch, seine problematische Argumentation bzgl. Israels rein zu waschen.

Wer den Hintergrund des Wortes nicht kennt, kann diesen mit wenig Aufwand erfahren. Wer das nicht tut oder entgegen dem Gelernten darauf besteht, nicht antisemitisch zu argumentieren, da man ja nur Israel, nicht aber Araber kritisiere, ist unaufrichtig.

 

Wenn Sie sich näher mit der Geschichte und Soziologie des Antisemitismus beschäftigen möchten6:

Definition bei Merriam-Webster

Einführung in die Geschichte des Antisemitismus in der Encyclopedia Britannica

Ausführlicher Artikel in der internationalen Wikipedia mit reichhaltiger Bibliografie

Wie man Israel kritisiert, ohne antisemitishc zu sein

Henryk M. Broder über Antisemitismus und Antizionismus

 

Notes:
1. Das hätte den Stürmer-Lesern in den 1930ern und 1940ern zu denken geben sollen, offenbar waren die dort benannten und gezeigten jüdischen Merkmal alles andere als Merkmale der Juden.
2. nach Heinrich von Treitschke
3. vgl. dazu ‘Orientalismus’
4. Besonders der Publizist Wilhelm Marr ist hier zu nennen, der sich viel später von seinen Ideen distanzierte.
5. Eine Ausnahme ist die Diskussion innerhalb des Judentums. Neben der zionistischen Strömung, die einen eigenen Staat für die Sicherheit des jüdischen Volkes als essenziell sieht, gibt es auch jene, für die eine Diaspora wesentliches Element des Judentums ist. Diese Debatte steht Nichtjuden aber nicht zu.
6. Die ersten vier Artikel sind in englischer Sprache, der fünfte ist Deutsch.

Nach dem Abitur habe ich an der Universität Hamburg Anglistik, Amerikanistik, Soziologie und Philosophie studiert. Den Magister Artium machte ich 1992/93, danach arbeitete ich an meiner Promotion, die ich aus verschiedenen Gründen aufsteckte. Ich beschäftige mich meist mit drei Aspekten der Literatur: - soziologisch [Was erzählt uns der Text über die Gesellschaft] - technisch [Wie funktioniert so ein Text eigentlich] - praktisch [Wie bringen wir Bedeutung zum Leser] Aber auch theoretische Themen liegen mir nicht fern, z.B. die Frage, inwieweit literarische Texte außerhalb von Literatur- und Kunstgeschichte verständlich sein müssen. Oder simpler: Für wen schreiben Autoren eigentlich?

6 Kommentare

  1. Mit ‘Israelkritik’ wird implizit die Existenz des Staates beargwöhnt. Doch diese ist nicht diskutierbar; wer die Existenz des Staates Israel ablehnt, muss sich klar sein, dass dies eine antisemitische Position ist.

    Alles richtig oder zumindest aus Sicht Ihres Kommentatorenfreundes zustimmungsfähig, aber hier noch der kleine Hinweis, dass sich Antizionisten oder “Antizionisten” an der Existenz Israels als jüdischer Staat reiben oder zumindest angeben dies zu tun.

    MFG
    Dr. W (der allerdings Nationalstaaten nicht wesentlich anders definiert kennt)

  2. Der Antizionismus ist der Antisemtismus der Linken. Aufgekommen und zunehmend erstarkt ist er im Deutschland der 1970er Jahre (natürlich nicht nur in Deutschland).
    Interessant ist, wieviele “Israelkritiker” es heute gibt und das über alle politischen Strömungen und Richtungen hinweg. Auch ich habe früher nicht kritisch über den Begriff Israelkritik gedacht und kaum darüber nachgedacht. Dabei ist offensichtlich, dass das Infragestellen eines ganzen Landes – das nämlich steckt als Wurzel in der Israelkritik – für ein europäisches Land undenkbar wäre. Das Undenkbare scheint im Falle Israels aber beinahe der Normalfall zu sein.
    Mir scheint es für einen Aussenstehenden eine natürlichere Position den Konflikt Israels mit seinen Nachbarn ähnlich zu sehen wie beispielsweise von hier aus den – nun ausgestandenen – Nordirlandkonflikt. Warum nur gibt es nur sehr wenige Europäer, die Israel gegenüber den Blick des Aussenstehenden einnehmen, also den Blick eines Menschen, der schockiert ist über das was dort immer wieder an gewalttätigen Auseinandersetzungen passiert, der sich aber nicht anmasst, als Aussenstehender ein letztgültiges Urteil abzugeben. Warum wissen die Leute hier so gut, was die Juden in Israel alles richtig und vor allem was sie alles falsch machen. Nicht einmal viele Berliner können an den Bayern so viel aussetzen wie sie es gegenüber den Israelis tun.

    • @ Herr Holzherr :

      Der Antizionismus ist der Antisemtismus der Linken.

      Kleiner Widerspruch: Der Internationalismus der Linken leitet dazu an Nationalstaaten anzulehnen und insofern könnte sich durchaus der Anspruch ergeben Israel als jüdischen Staat abzulehnen ohne antisemitisch zu sein.

      Der Schreiber dieser Zeilen kennt die Argumentatorik [1] aus jenem Gebiet seit Jahrzehnten,

      Letztlich steht hier der Internationalismus, der Kultur-Relativismus und der Neomarxismus in Frage, dies aber nur am Rande angemerkt.

      MFG
      Dr. W

      [1] ‘Argumentationsweise’, es sollte nicht behauptet werden, dass es das gebrauchte Wort wirklich gibt

      • * Nationalstaaten abzulehnen
        ** Letztlich stehen

        MFG
        Dr. W (der nichts gegen eine Vorschau hätte, die womöglich einstmals dagewesen ist; der dbzgl. natürlich nicht jammern möchte, zumindest noch nicht)

  3. Okay.

    Ja wie soll man denn kritisieren? Gar nicht!
    Dazu habe ich mich entschlossen. Es ist mir egal, denn das
    einzige was scheinbar geht, ist Kritik an den Palästinensern, der Hamas oder einem der arabischen Staaten zu üben. Dafür bekommt man sehr selten entgegengeworfen, es handle sich hierbei um tumben Antiarabismus oder Arabophobie siehe (http://de.wikipedia.org/wiki/Araberfeindlichkeit).
    Ich weiß mir wirklich nicht mehr zu helfen. Ich halte, um ehrlich zu sein, meine Meinung hier auch im Freundeskreis zurück. Und das inzwischen in beide Richtungen. Es führt fast zu einem Desinteresse meinerseits. Dies hat mit einem sehr harten Artikel von Hendrik M. Broder begonnen.
    Ich bin mir der Situation und insbesondere der verschiedenen Positionen durchaus bewusst. Und ich beschäftige mich durchaus mehr mit diesem Thema als der Durchschnitt. (Eine Empfehlung die ich aussprechen kann ist die “Jung & Naiv Reihe aus Israel – hier kommen doch einige unterschiedliche Positionen zu Wort.). Ich kann die verlinkte Anleitung nur bestätigen und folge dieser auch. Dennoch: Wenige Menschen sind so reflektiert und zu schnell befindet man sich an einem Ort wo Stammtischpositionen ausgetauscht werden.
    Die Folge des ganzen: Meine Aufmerksamkeit richtet sich an einen anderen Ort. Ich verliere das Interesse. Nein, besser: Ich habe Angst mich mit diesem Thema auseinander zu setzen. Ich finde, zu recht, den Vorwurf antisemitische Positionen zu bekleiden, sehr hart. Wehret den Anfängen. Wir wollen da hin nicht zurück.

    Aber: Ich dachte immer, es sei eine Eigenschaft von gebildeten Menschen, sich mit Themen zu beschäftigen. Hier ist, fast zum ersten mal in meinem Leben, ein Punkt erreicht an dem ich aufgebe. Fast schon Angst habe. Dabei hat man mir und meiner Generation schon oft Desinteresse vorgeworfen. Ja, ich bin desinteressiert. Aber primär weil das Thema ein Minenfeld ist. Soviel dazu. Als Vorschuss … für die Frage wo mein Interesse war, als es los ging. Es war da. Ich habe nun aber Angst meine Meinung zu äussern.

  4. Pingback:Markierungen 08/30/2014 - Snippets