• Von Dierk Haasis
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So lange du mich verstehst, ist alles gut

BLOG: Con Text

Wörter brauchen Gesellschaft.
Con Text

Ich möchte hier gar nicht so sehr über die Problematik der unterschwelligen Falschdarstellung von Autismus beschäftigen. Das machen andere, oft selbst Autisten sowie gelernte Experten dazu, besser als ich. Kommt leider trotzdem nicht an, wie man sieht.

Mich stören hier zwei andere Aspekte:

a) Was soll das eigentlich heissen?

b) Fällt euch wirklich nichts Besseres ein?

Jene Autoren, meist Journalisten, also professionelle Wortschmiede, die ‘Autismus’ zu einem Catch-All-Schimpfwort erkiesen, entschuldigen sich bei Ansprache gern damit, sie hätten das Wort ‘metaphorisch’ benutzt. Es soll uns Leser also einen Sachverhalt greifbar machen, indem er auf ein bereits gut verstandenes Phänomen zurückgreift, möglicherweise ein Abstraktum konkret macht. Die Metapher ist eine Art erweitertes Symbol. Letzteres steht in einem direkten, einfachen Zusammenhang zur benannten Sache, ein Verkehrsschild für Einfahrt verboten z.B. Die Metapher ist deutlich komplexer und weiter vom Gegenstand an sich entfernt.

Aber verständlich müssen beide sein.

Ebert’s First Law of Symbolism: If you have to ask what it symbolizes, it didn’t. 1

Autismus ist selbst bisher alles andere als gut verstanden und sicher noch nicht im alltäglichen Gebrauch gefestigt. Es ist ein sehr komplexes Phänomen, das sich schlicht nicht eignet, das Verständnis für eine andere Sache zu vereinfachen. Ausser man benutzt ‘Autismus’ oder ‘Autist’ als Schimpfwort, so wie ‘behindert’. Es wäre dann komplett seiner Denotation beraubt – was aber Quatsch ist, denn es handelt sich immer noch um einen Diagnosebegriff aus der Psychologie. Es gibt also Betroffene. Die es selbstverständlich nicht so gern sehen, als blosses Klischee oder gar als Buhmann für Denkfaule zu dienen.

Lese ich eine Schlagzeile wie ‘Der Autismus der 68er’, bleibe ich stecken. Ich muss mir erst einmal sehr aktiv Gedanken machen, was das denn bedeuten soll. Und das noch, bevor ich mir klar werden kann, was denn ‘die 68er’ sein sollen. Gehen wir einmal davon aus, es gäbe diese homogene Gruppe Menschen ’68er’, benannt nach dem Jahr, in dem Martin Luther King, jr. und Robert Kennedy umgebracht wurden. Wie kann diese Gruppe als solche Autismus haben? Sind damals nicht etwa die 1940-1950 geborenen auf die Strasse gegangen, um u.a. mal zu klären, wo die Generation vorher eigentlich nach 1945 gelandet ist? Protestierten damals nur Menschen, die nach ICD-10 mit F84 diagnostiziert waren? Oder was will man mir sonst sagen? Ich weiss es nicht, wirklich.

Verwunderlich ist, dass so wenig Journalisten – noch einmal: Menschen, die professionell mit Wörtern umgehen! – sich Gedanken zu ihrer Wortwahl machen. ‘Autismus’ ist längst zu einem Klischee geworden. Ich habe nicht grundsätzlich etwas gegen Klischees, helfen sie uns doch, Botschaften schnell zu verstehen. Stellen Sie sich vor, Sie fahren mit dem Auto durch die Stadt. Da sehen Sie am Strassenrand immer wieder grosse Werbeflächen, sogenannte 18/1 oder Grossflächen. Die Werbeagentur und deren Kunde möchten, dass Sie erkennen, was für ein tolles Produkt da angepriesen wird und warum es gerade für Sie … Sie sollen aber keinen Unfall bauen, weil Sie sich auf die Entschlüsselung einer Werbebotschaft konzentrieren. Also Klischee.

Das ist so lange in Ordnung, wie das Klischee noch eine Bedeutung hat. Ist die nicht mehr vorhanden, bleibt nur eine hohle Phrase, die eher ärgerlich als hilfreich ist. Wird ‘Autismus’ rein abwertend benutzt – ‘Nein, ich meine doch gar nicht echte Autisten …’ -, ist es genau dies: eine hohle Phrase.

Jetzt sagen Sie mir: Wie desinteressiert muss ein Journalist an seinem Beruf sein, das erstbeste Wort, das ihm einfällt, zu benutzen? Einfach irgendein Klischee nehmen, morgen ist die Zeitung eh nur noch Käfigauslage. Ist es nicht gerade das, was man als Journalist lernt, möglichst keine Klischees nutzen? Sollen man nicht ein treffendes Wort finden, ein verständliches? Konkret sein, statt abstrakt?

Ich würde gerne einen Vorschlag machen, wie die Headline des fraglichen Artikels besser wäre. Einen konkreten. Dafür müsste ich verstehen, was gemeint ist. Im Moment bleibt mir nur, alle Redaktionen aufzurufen, die Benutzung des Begriffs ‘Autismus’ und seiner Ableitungen auf Artikel zu beschränken, in denen es um die Diagnose geht. Ansonsten überlege ich

PS: Eine Ausrede, die möglicherweise auf die Schlagzeile zutrifft, die ich als Aufhänger für diesen Text nutze, ist die des Zitats. Mag sein, irgendein Depp hat in der Debatte irgendwas Dummes mit ‘Autist’ gesagt. Allerdings heisst das nicht, dass es einfach zu wiederholen ist. Schon gar nicht als Headline. Noch weniger ohne Anführungszeichen! Käme auch bei der FAZ kein Redakteur auf die Idee, antisemitisches Stürmer-Vokabular in Titel oder Anreisser zu setzen, ohne sich klar abzugrenzen.

 

[Edit 24. April 2018, 17:05 Uhr] In der ursprünglichen Fassung stand vor ‘Psychologie’ noch das Adjektiv ‘medizinisch’. Man machte mich darauf aufmerksam, dass es sich dabei um ein Fachgebiet innerhalb der Psychologie handelt, das nichts mit dem Thema zu tun hat. Daher habe ich es gestrichen.[Edit]

Notes:
1. Roger Ebert

Nach dem Abitur habe ich an der Universität Hamburg Anglistik, Amerikanistik, Soziologie und Philosophie studiert. Den Magister Artium machte ich 1992/93, danach arbeitete ich an meiner Promotion, die ich aus verschiedenen Gründen aufsteckte. Ich beschäftige mich meist mit drei Aspekten der Literatur: - soziologisch [Was erzählt uns der Text über die Gesellschaft] - technisch [Wie funktioniert so ein Text eigentlich] - praktisch [Wie bringen wir Bedeutung zum Leser] Aber auch theoretische Themen liegen mir nicht fern, z.B. die Frage, inwieweit literarische Texte außerhalb von Literatur- und Kunstgeschichte verständlich sein müssen. Oder simpler: Für wen schreiben Autoren eigentlich?