Man wird sich doch über Behinderte lustig machen dürfen!

BLOG: Con Text

Wörter brauchen Gesellschaft.
Con Text

Seit ein paar Tagen geistert ein Bild durch die sozialen Medien, das sehr viele Leute sehr komisch finden. Ich nicht. Das Bild sagt nämlich genau das Gegenteil dessen, was viele meinen. Worum es geht? Behinderte. Und ‘behindert’ als Beleidigung. Aber ist ja nur Satire. Der Grossteil der Leute lacht drüber. Was bekanntlich immer ein Zeichen für herausragende Qualität ist.

Das Bild, das ich hier nicht einbinde oder verlinke, auch weil damit Persönlichkeits- und Urheberrechte verletzt werden, ist ein Screenshot. Es zeigt eine sehr kurze Konversation, in der eine junge Frau darum bittet, dass jemand ‘das Behindertending’ mit Photoshop aus ihrem Selfie entfernt. Als Antwort bekommt sie das Bild zurück – sie fehlt jetzt, der blau-weisse Aufkleber mit symbolisiertem Rollstuhlfahrer ist weiterhin drin. Dazu geschrieben: ‘Fertig!’

Es mag sein, dass die junge Frau herablassend daherkommt, einem die alberne Pose mit Smartphone vor dem Spiegel nicht gefällt oder sie sprachlich daneben greift, ist wirklich sie diejenige, die sich daneben benimmt. Oder sind es die Lachenden und der/die Photoshopper/in?

Die selbstporträtierende würde gerne den Hintergrund von einem ablenkenden Element gesäubert haben, damit sie und nur sie im Mittelpunkt des Porträts steht. Eine Routineangelegenheit, die täglich von allen Porträtfotografen durchgeführt wird. In diesem speziellen Fall mag man das für moralisch verwerflich halten, sofern es der Frau um den Inhalt des Klebers ginge. Stört es sie, dass dort ein höchst stilisierter Behinderter zu sehen ist? Ich weiss es nicht. Niemand ausser ihr weiss das.

Ich weiss aber, dass jene, die sie aus ihrem Bild entfernten, sie als ‘das Behindertending’, das weg gemacht gehört, definieren. Ebenso wie diejenigen, die das lustig finden und einen tiefsinnigen Beitrag pro Behindertenrechte halten:

  1. Sie wird zur Behinderten erklärt.
    [Weil sie den Kleber aus dem Bild will? Weil sie seltsam verrenkt dasteht? Weil sie ‘Behindertendings’ schreibt statt ‘Aufkleber’?]
  2. Behinderte gehören offenbar weg gemacht, denn anders ist kaum zu erklären, warum man sie dort raus retuschiert.
    [Noch einmal: Sie selbst wollte einen AUFKLEBER entfernt haben.]
  3. Die Retuschierer und die Beifall lachende Menge machen Menschen damit zu Dingen.

Bereits im ersten Schritt wird ‘behindert’ zum Schimpfwort gemacht. Nicht etwa von der jungen Frau vor dem Spiegel, sondern von jenen, die ihr Verhalten als moralisch falsch und sozial unerwünscht sehen. Herzlichen Glückwunsch, da wurde soeben der erste Preis für Heuchelei vergeben!

Es kommt dazu, dass ‘Behindertendinger wegmachen’ auf Personen bezogen – nicht aber auf wirkliche Gegenstände, wie hier das Schild – verdammt nah an rechtsradikaler Abtreibungsrhetorik zu Menschen mit Behinderungen ist.

Alles in allem ist es schlimmer, eine Person gehässig als Behindertending zu betrachten, dies durch eine Handlung [hier: retuschieren] tätlich beleidigend zu unterstreichen, oder ein Schild ungeschickt flapsig zu bezeichnen?

Nach dem Abitur habe ich an der Universität Hamburg Anglistik, Amerikanistik, Soziologie und Philosophie studiert. Den Magister Artium machte ich 1992/93, danach arbeitete ich an meiner Promotion, die ich aus verschiedenen Gründen aufsteckte. Ich beschäftige mich meist mit drei Aspekten der Literatur: - soziologisch [Was erzählt uns der Text über die Gesellschaft] - technisch [Wie funktioniert so ein Text eigentlich] - praktisch [Wie bringen wir Bedeutung zum Leser] Aber auch theoretische Themen liegen mir nicht fern, z.B. die Frage, inwieweit literarische Texte außerhalb von Literatur- und Kunstgeschichte verständlich sein müssen. Oder simpler: Für wen schreiben Autoren eigentlich?

21 Kommentare

  1. Hm ich weiß nicht.. Natürlich, ich verstehe worauf das hinausläuft .. Und natürlich ist auch diese Lesart irgendwie latent Menschen feindlich .. Man müsste halt mehr über den Hintergrund wissen, wer das wann mit welchen Gedanken gebastelt hat. Hat da jemand zu häufig Selfies machende, höchst oberflächliche Menschen gesehen Und darüber irgendwann die Wut bekommen? Auch das macht es dann natürlich nicht entscheidend richtiger, aber zumindest wäre es dann verständlich .. .

  2. Einer der letzten Orte an denen man über sowas noch lachen kann ist South Park.

    Hoffentlich gibt es die Serie noch viele viele Jahre, Sie beschreiben hier ein Extrembeispiel, bei vielem anderen wird man allerdings inzwischen schon schief angeschaut wenn man lacht.

    Ich fand dieses Bild (gefunden auf reddit) übrigens amüsant.

  3. Naja, versteh’ nicht warum son Geseier bei mir im Briefing auftaucht.
    Gebt dem Dierk mal was vernünftiges worüber er sich hermachen kann, klingt ja fast so schlimm wie Bettina Wulff…

  4. ‘Die Retuschierer und die Beifall lachende Menge machen Menschen damit zu Dingen.’

    Dinge können keine Wünsche äußern.

  5. Da wurde wohl was mißverstanden. Die Frau ist eigentlich nicht behindert, jedenfalls nicht körperlich. Sie will “das Behindertending” (also das Rollstuhlsymbol) wegretuschiert haben und dadurch zeigt sie sich sozusagen als emotional oder sozial behindert.

    Allenfalls könnte man den Vergleich von körperlicher und sozialer Behinderung problematisieren, aber die meisten werden das schon so verstehen wie gemeint.

  6. Viele Spässe sind derb und nicht wenige dieser Spässe machen Menschen zu Dingen. Dazu kommt: Humor hat fast immer eine aggressive Seite. Dies dürfte übrigens die einfachste Erklärung dafür sein, dass Komiker, Humoristen und Satiriker fast immer Männer sind. Und Humor wirkt auch darum kathartisch, weil er agrressiv/lustig Dinge angeht, die einen auch bedrücken könnten.

    Nun zum konkreten Fall: Die (Zitat) “Selbstporträtierende” will das BehindertenDing weg haben Die naheliegenste Interpretation ist doch diese: Sie will nichts mit Behinderung zu tun haben und nicht damit in Zusammenhang gebracht werden, deshalb will sie das Behinderten-Ding weghaben. Mit andern Worten die (Zitat) Selbstrporträtierende zeigt selber Aggression gegenüber Behinderten, sonst würde sie nich die Wortkombination Ding und wegmachen verwenden.

    Das Wegretourchieren der (ZItat)>Selbstporträtierenden ist somit nichts anderes als eine Gegenaggression. Wie beim Boxen. Sie hat den ersten Boxschlag getan und der Witzemacher macht den Gegenschlag.

  7. …Ebenso wie diejenigen, die das lustig finden und einen tiefsinnigen Beitrag pro Behindertenrechte halten…

    Gibt es wirklich Leute, die das für einen Beitrag pro Behindertenrechte halten? Mir war eine solche Reaktion bisher noch nicht begegnet. Ich sah besagtes Bild nur als weitere semi-lustige Instanz des alten Mems der mutwillig schlechten oder absichtlich falsch verstandenen Photoshop-Requests. Gut, ich hatte dieses Bild bislang nur auf einer Plattform und in der englischsprachigen Übersetzung gesehen und erst jetzt nach diesem Post das französischsprachige (vermutliche) Original gefunden. Es kann also gut sein, dass in anderen Filterblasen die Deutung als pro Behindertenrechte vorkommt oder gar vorherrscht. Aber besonders weit verbreitet scheint sie mir nicht zu sein.

    • Humor ist selten für etwas und wenn, dann ist es meist kein Humor mehr, sondern sich humorig gebende Belehrung, mithin humoriges Moralisieren.
      Der hier besprochene Bildhumor richtet sich eindeutig gegen die Selbstdarstellerin. Nur wer im Angriff auch Verteidigung sieht, kann deshalb darin eine Verteidigung von Behinderten sehen.

  8. Eigentlich hast Du vollkommen recht. Man stelle sich nur vor, ich würde jemanden bitten, das dumme Ding mittels Photoshop zu entfernen, was eines meiner Selfies total unansehnlich macht. Wenn der dann das falsche retuschieren würde, wäre es ja auch Schluss mit lustig.

    Nein, im Ernst:

    “verdammt nah an rechtsradikaler Abtreibungsrhetorik”

    Humorkritik, selbst immer wieder voller Humor. Beim Lesen des Artikels musste ich herzhaft lachen, echt komisch. Gratuliere.

  9. Die Selbstdarstellerin ist behindert weil sie mit Behinderung nichts zu tun haben will

    Das genau ist die Aussage der Bildsequenz um die es geht. Der Bildwitz ist folgender:

    Die Selbstdarstellerin will das BehindertenDing wegmachen und wird dann selbst weggemacht.

    Damit haben wir die für Witze typische Verschiebung auf eine andere Ebene, denn die Selbsdarstellerin will ja nur ein Bildelement wegmachen lassen, dass auf Behinderung hinweist und wird nun selber weggemacht.Diese Bedeutungsverschiebung scheint problematisch zu sein, denn Dierk Haasis schreibt dazu:
    Es kommt dazu, dass ‘Behindertendinger wegmachen’ auf Personen bezogen – nicht aber auf wirkliche Gegenstände, wie hier das Schild – verdammt nah an rechtsradikaler Abtreibungsrhetorik zu Menschen mit Behinderungen ist

    Das stimmt schon. Nur ist das Wegmachen, Ausradieren von Figuren etwas, was aus vielen Comics (auch TV-Comics) bekannt ist und dort meist als Waffe des Zeichner eingesetzt wird (ja das ist etwas Aggressives, das ist eine Waffe). Der Comic-Zeichner bestraft dort missliebige Figuren einfach damit, dass er sie auslöscht, wegradiert. Dieser Topos, der von Comic-Zeichnern erfunden wurde, wird im Bildwitz hier in ein anderes Medium übertragen, die Ebene des Fotos/Fotowitzes. Hier wird die Selbstdarstellerin mit Auslöschung bestraft. Das ist schon derb und aggressiv. Nur finden sie so etwas in dutzenden von Comics.

    Wenn wir schon bei Behindertenwitzen sind, sollte man hier Oliver Polak erwähnen, den Juden, der über Jude Witze macht ( Ich darf das – ich bin Jude). Oliver Polak hat auch vor Behinderten über Behinderte Witze gemacht worüber in Herr Polak, wie macht man Gags über Randgruppen? berichtet wird.

  10. Das eigentlich Witzige ist eine Reaktion wie in diesem Artikel. Da hat einer einen spontanen Einfall und nimmt die Frau auf die Schippe , das ist alles , vielleicht stört er sich sogar an der Idee oder Formulierung mit dem “Behindertending” und möchte diese soziale Inkompetenz auf originelle Weise auf die Frau zurückwerfen.
    Ein klasse Joke , die einzigen , die mal wieder nix begreifen , sind die politisch Korrekten.Diese Jünger der Humorfreiheit und der Verbissenheit sind unser eigentliches Problem , sofort vermuten sie Diskriminierungen , wenn ihre Lieblingsgruppen nicht sofort den roten Teppich ausgerollt kriegen , sobald sie irgendwo in Sichtweise kommen , tatsächliche Diskriminierungen aber sind ihnen piepschnurzegal. Wo sind denn die shitstorms , wenn es etwa um elitäres Gepöbel gegen sozial Schwächere geht oder wenn sich der braune Mob vor Flüchtlingsheimen zusammenrottet?

    Ein kluger Mann hat mal gesagt “Wer nicht abundzu auch mal verarscht wird , gehört nicht wirklich dazu “.

  11. Was ist so schlimm daran, wenn man einer Frau, die sich recht gedankenlos darüber äußert, sich von einem “Behindertendings” gestört (sic!) zu fühlen, den Spiegel vorhält und ihr zeigt, dass Behinderung ähnlich gedankenlos auch gegen sie selber, hinsichtlich ihres eigenen Verhaltens, verwendet werden kann? Um Menschen zu zeigen, wie gedankenlos verletzend ihre tagtäglichen Äußerungen sein können, hilft es nichts, ihnen immer nur höflich, lächelnd und wohlwollend zu begegnen. Das weckt nicht auf.

    Nahezu täglich darf ich aus diversen Medien entnehmen, welche Egomanen, Misanthropen oder Idioten als “Autisten” tituliert werden, ohne dass sie dies wären. Eine Auswahl hier: http://autismus-ist.de/hall-shame/ Von daher geht das schon in Ordnung, so jemandem mal auf die Unfug schreibenden Fingerchen zu klopfen. Der seelische Schaden wird sich in engen Grenzen halten.

  12. Das Bild wurde ein meinen Timelines nicht „humoristisch” aufgefasst. Nicht etwa wurde die Frau im Kontext als Behindertending betrachtete, sondern ihr Ansinnen, das alleine auf ihren Gedanken fußt.

    Das ist schon noch mal ein bisschen etwas anderes.3

  13. “Ich weiss aber, dass jene, die sie aus ihrem Bild entfernten, sie als ‘das Behindertending’, das weg gemacht gehört, definieren. Ebenso wie diejenigen, die das lustig finden und einen tiefsinnigen Beitrag pro Behindertenrechte halten:”

    Völliger Quatsch! SIE hat das “Behindertending” definiert, das weggemacht gehört, nicht diejenigen, die dann das Bild retuschiert haben! Diese in meinen Augen diskriminierende Haltung ihrerseits wurde auf satirische Weise gegen sie verwendet, indem man ihr den Spiegel dadurch vorhielt, dass sie aus dem Bild entfernt wurde. Ich als Rollstuhlfahrer fand das auch sehr passend und lustig.

  14. Einen besonderen Grund zur Aufregung wird hier weder so, noch so gesehen; die Frage ‘Könnt ihr mal das Behindertending wegmachen?’ war vielleicht ein wenig dull, die Reaktion ein wenig keck, aber sonst?!

    Ansonsten ist die Feststellung in der Überschrift des hiesigen WebLog-Artikels vielleicht von Interesse, die die Frage anleitet: ‘Darf man sich über Behinderte lustig machen?’

    Die übliche Antwort lautet: Natürlich! – Es ist sozusagen ein Menschenrecht, dass Humor, auch gelegentlich ein wenig aggressiver Humor allen gelten darf, unabhängig von ihrer Erscheinung.
    Nur rein vorsichtshalber angemerkt: An der Behinderung selbst ist natürlich nichts lustig.

    MFG + schönen Sonntagabend noch,
    Dr. W

  15. Pingback:Markierungen 12/21/2015 - Snippets

  16. Die Selfish-ige Person, die das Behindertending aus ihrem Selfie wegmachen lassen will ist nur ein Repräsentant für viele.Die Mutter einer Freundin sagte mir beispielsweise, sie wolle nicht erleben, dass im Hotel, in dem sie Ferien gebucht hat, auch Behinderte auftauchen – wofür mache sie sonst Ferien. Heute ist diese Haltung weniger verbreitet, denn Behinderung ist stärker Teil des Alltags geworden. Tendenziell ist diese Haltung aber immer noch vorhanden.
    So gesehen kann man dem Bildwitz mit dem Behindertending sogar attestieren, dass er etwas aufgreift was es gibt.

  17. wird nicht ein wenig der folgende Satz aus dem Ausgsgansartikel vergessen:

    “Die selbstporträtierende würde gerne den Hintergrund von einem ablenkenden Element gesäubert haben, damit sie und nur sie im Mittelpunkt des Porträts steht. Eine Routineangelegenheit, die täglich von allen Porträtfotografen durchgeführt wird”
    ?

  18. Na liebe Leute…
    Ich sitze selbst im Rollstuhl, deshalb darf ich den Joke gutfinden 🙂
    Und trotz meiner eigenen Lage hätte ich vermutlich den Aufkleber nach Möglichkeit auch nicht mitfotografiert. Das ist ganz normale Verdrängung des großen Weltschmerzes. Die wenigsten meiner Mitmenschen sind so psychopathisch, dass sie die Grausamkeiten des Lebens ungeschminkt ins Auge fassen und ertragen.
    Menschlich-allzumenschlich – deshalb können wir auch drüber lachen. Wir fühlen uns nett ertappt.

  19. Pingback:Markierungen 03/01/2016 - Snippets