Gruppendynamisch
BLOG: Con Text
Kennen Sie das, Sie haben eine Komödie im Kino gesehen und sich köstlich amüsiert, als Sie einige Monate später denselben Film zuhause allein anschauen, lässt er sie völlig kalt? Das Phänomen gibt es auch bei anderen Genres, aber bei Komödien ist es am deutlichsten.
Bühnenautoren und –schauspieler wussten immer, dass sie dem Publikum im Saal nach einer Pointe eine Pause gönnen müssen. Nicht wenige Autoren hängen daher an einen witzigen Satz eine uninteressante Coda, wie es lt. Friedrich Torberg Franz Molnar ihm einmal erläuterte
Weil Sie Schauspieler nicht kennen, lieber Freund. Wissen Sie, was das für neidige Schurken sind? Wenn einer eine Pointe hat, gönnt ihm der andre die Wirkung nicht und beginnt zu sprechen, während das Publikum noch lachen will. Also muss der, der die Pointe hat, noch einen Nachsatz bekommen. Dann kann er schön warten, bis das Publikum genug gelacht hat – und gibt dem Partner erst dann das Stichwort zum Weiterreden.1
TV-Produzenten haben noch etwas ganz Wichtiges erkannt: Lachen ist ansteckend. Menschen lachen mit. Auch wenn jemand einen Witz nicht sofort versteht, er wird in einer Gruppensituation mitlachen. Das geht meist ganz automatisch, da hat die Evolution für gesorgt – möglicherweise, weil lachen sehr schnell ernste Situationen, die ins dramatische kippen können, entschärft.
Wir mögen aber auch ungern dumm und alleine dastehen, beugen uns also einem nichtintentionalen Zwang der Gruppe. Das hilft auch, in die richtige Stimmung zu kommen, um einen Film oder ein Theaterstück genießen zu können. Aus diesen Beobachtungen heraus, haben US amerikanische Sitcom-Hersteller den laugh track erfunden. Damit fühlt sich der Zuschauer zuhause in einer lachenden Gruppe, weiß, wo Pointen sind, die er nicht mitbekommt, und erlebt Heiterkeit.
Das funktioniert in gleicher Weise auch für Propaganda. Die wenigsten von uns werden die Gewaltorgien im Namen des Rechts [oder des proklamierten Guten], die in Actionfilmen üblich sind, gutheißen. Polizisten wie Harry Callahan oder Martin Riggs, die im Kreuzzuge ihrer Ermittlungen Kleinkriminelle, Prostituierte, Hippies, Zeugen, Unschuldige bedrohen und verprügeln oder halbe Stadteile in Schutt und Asche legen, möchte keiner von uns in echten Polizeieinheiten sehen.
Sitzen wir im Kino mit vielen anderen, jubeln wir bei jedem flapsigen One-liner, den “unser” Held seinem Todesopfer hinterher ruft. Die Simpsons nehmen das seit bald 25 Jahren mit McBain2 aufs Korn. Auch die Autoren und Regisseure der Dirty-Harry-Reihe versuchten von Anfang an, die Zwiespältigkeit ihrer Hauptfigur und deren Handlungsweisen satirisch aufzubereiten.3
So werden Harrys Waffen im Einsatz gegen den Hauptgegner immer größer und phallischer, bis hin zu Bazookas oder Walharpunen. Eastwoods Darstellung macht Callahan vom ersten Film an zu einer Karikatur des handelnden, nicht fragenden Revolverhelden. Ein John-Wayne-Held in einer modernisierten Sergio-Leone-Vorhölle.
Wenn wir heute Filme zuhause anschauen, dann steht uns eine Qualität zur Verfügung, die beim Klang kaum und beim Bild recht wenig hinter dem, was uns im Kino geboten wird zurücksteht. Große Bildschirme mit hoher Auflösung und damit einhergehend kleinem Betrachtungsabstand – wodurch das Bild noch größer wirkt –, Ton wie er im Kino auch vorliegt. Eine gute AV-Anlage kann so manch Kino aufgrund schlechter Pflege und Einstellung der dortigen Technik schon an die Wand spielen.
Aber eines hat das Kino – und das Theater – dem Home Cinema immer noch voraus: Das Gruppenerlebnis.
Für einen guten Filmregisseur ist dieses Gruppenerlebnis eines der Werkzeuge, um die gewünschte Wirkung zu erzielen. Für Komödien ebenso wie für Horror – z.B. die Erschütterung einer ganzen Sitzreihe, weil Zuschauer zusammenzucken – oder Krimi oder Drama. Er manipuliert die Emotionen einzelner dahingehend, dass diese zur Gruppe werden und die Gruppe zum Teil des Films wird.
Eine überschwappende Dynamik kennen wir von The Rocky Horror Picture Show, der als Film für sich genommen, nicht gerade zu den Meisterwerken gehört. Gerade dies hat aber dazu geführt, dass sich das Publikum besonders stark in den Film einbringt. Es werden eigene, sarkastische Dialoge eingeflochten, man tanzt mit, spielt Szenen während der Vorführung im Saal und vor der Leinwand mit. All das macht aus dem Film mehr, als was auf der Leinwand zu sehen und aus den Lautsprechern zu hören ist.
Vielleicht
sollte man einen Oscar für die besten “Public Relations” erfinden, für den die Zuschauer gefilmt und von der Academy bewertet werden.
Mitnichten
Hm, bin ich wirklich der einzige Snob, der sich im Kino eher (still, ganz still) darüber aufregt, dass das größte Gelächter bei zu sehr gewollten Flachwitzen aufbrandet, während er das stumme Schmunzeln der Gleichgesinnten an den richtigen Stellen, den versteckten Pointen, nicht wahrnehmen kann? Ne, ich geh nicht ins Kino wegen der anderen Leute. Mir sind leere Kinos die liebsten.
@jhermes
Nein, du bist nicht der einzige. Ich wüsste bis heute auch niemanden, der davon ausgeht, dass alle Menschen exakt gleich agieren oder reagieren. Selbstverständlich gehen gruppendynamische Effekte an einigen – mir scheint allerdings: nicht der Mehrheit – vorbei. Manche reagieren sogar genau entgegengesetzt zur Erwartung; contrarians nennt man diese Menschen im Amerikanischen. Gerade im Bereich der Filmkritik und -rezeption ist das bekannt, da gibt es einige Kritiker und eine kleine Menge Zuschauer, die ‘gegen den Mainstream’ stehen.
Übrigens sind das keine bewussten Entscheidungen – ‘Ach, heute lache ich mal mit allen mit.’ -, die dort ablaufen. Wir können uns natürlich unser Bewusstsein zur Hilfe nehmen, um z.B. unsere Laune einem kulturellen Ereignis anzupassen. Wir sind vielleicht mit Freunden unterwegs, die uns aufheitern wollen [oder einfach nicht von uns runtergezogen werden wollen], oder wir haben viel Geld für eine Konzertkarte bezahlt, das wir ‘jetzt gefälligst auch genießen’ wollen. Aber das ist nicht die Regel.