Ein wenig Wehrtechnik

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Markus A. Dahlem stellt in seinem Blog eine These über die Form von Festungsanlagen als Widerspiegelung migränoser Visionen auf. Er gibt dort selbst zu, dass diese These gewagt ist. Ich verstehe wenig von Neurologie, praktisch gar nichts von den Spezifika neurologischer Störungen wie Migräne oder Epilepsie. Architektur und Militärgeschichte sind allerdings Hobbies von mir, daher möchte ich kurz den Hintergrund von Wehranlagen aus der Zeit nach Erfindung des Schießpulvers erläutern.

Vor dem Schießpulver

Bevor das Schießpulver erfunden wurde standen Angreifern vor allem [tierische] Muskelkraft und Federmechanik zur Verfügung, um schwere Gegenstände, z.B. Steine oder Metallkugeln, aber auch Brennbares in belagerte Ortschaften zu schleudern. Als Verteidigung reichte es aus, Mauern dicker und höher zu bauen. Damit konnten Geschosse direkt abgewehrt werden oder durch Beeinflussung des Schusswinkels ineffektiv gemacht. Ein manchmal mit Wasser gefüllter Graben samt steilen Ufern erschwerte Angreifern das schnelle Erklettern der Burgmauern.

Falls es doch zu einem Durchbruch kam, gab es hinter der hohen Außenmauer oft eine weitere Mauer, getrennt durch schmale Laufgänge. Außerdem waren viele Burgen und Schlösser fast labyrinthartig gestaltet, so dass Angreifer – egal, ob sie über die Mauer kamen oder durchs Tor – erhebliche Zickzackwege zurücklegen mussten. Wege, die eng gehalten waren, um leicht verteidigt zu werden. Ein bis heute voll erhaltenes Paradebeispiel ist das japanische Schloss Himeji, das sehr oft in Spielfilmen zu sehen ist, u.a. im James-Bond-Film You Only Live Twice oder in diversen Werken Akira Kurosawas.

Schwere Artillerie

Die ersten Schießpulverwaffen wurden in Europa in der ersten Hälfte des 14. Jahrhunderts eingesetzt und wurden über die nächsten hundert Jahre immer größer, schwerer und effektiver. Statt großer Pfeile zum Brechen von Holztoren wurden sehr viel kleinere, aber zerstörerischere Eisenkugeln auf Festungen abgefeuert. Für die zu verteidigenden Orte wurde das zu einem Problem, zwar nutzten auch sie Kanonen, da sie aber aus Wehranlagen abgefeuert wurden, die vor allem die Überwindung durch Kletterer verhindern sollten, konnten sie nur in eine Richtung feuern. Damit ergaben sich tote Winkel, die von den Angreifern zum Näherrücken genutzt wurden.

Es war der Architekt Leon Batista Alberti, der in den 1440ern bemerkte, dass eine effektive Verteidigungsanlage nicht geradlinig aussehen durfte, sondern unregelmäßig sein musste, einer Säge ähnlich. Die erste Form, die sich praktisch ergab, war die Bastion, die den Angreifern eine recht breite Front bot, dazu kurze Flanken bot, die wiederum noch einmal eingesägt waren und so auch eine seitliche Verteidigung ermöglichten. Diese Bastionen verstärkten zuerst die Ecken rechteckig angelegter Burgen:

Prinzip des toten Winkels und wie die Form des Bastions sie ausschließt

Damit war die Grundlage für die heute so faszinierenden Formen alter Festungsanlagen gelegt. Im 15. und 16. Jahrhundert wurden so komplett neue Wehranlagen konstruiert, es kamen weitere Elemente dazu:

Kronenwerk Kronenwerk [das kronenförmige Teil oben im Bild]

HornwerkHornwerk [das große Teil in der Mitte]

Wallschild

Wallschild [ganz rechts im Bild, die pfeilspitzförmigen Teile]

Die Illustrationen zeigen die inzwischen verbreitetste Variante der Bastion, mit einer spitz zulaufenden Front statt einer geraden Mauer.

Die vermutlich vollkommenste Umsetzung der trace italienne, wie diese Form der Wehranlagen seit dem 15. Jahrhundert genannt wird,  ist die Festung Neuf-Brisach, auf der französischen Rheinseite:

Plan Neuf-Brisachs von Sébastien Le Prestre de Vauban, 1697

Luftbildaufnahme Neuf-Brisach

[Luftbildaufnahme von Luftfahrer]

 

Angreifer müssen durch die Staffelung und Formen der Verteidigungswerke diverse, sehr unterschiedliche Hindernisse überwinden, immer im Kugelhagel der Verteidiger. Das schwächt. Der zweite und dritte Teil der Lord of the Rings-Trilogie zeigen das ganz gut bei den Schlachten von Helm’s Deep und Minas Tirith.

Ich bezweifele eine direkte Verbindung von Migräne und Verteidigungsanlagen der trace italienne, sie wurden nicht aus ästhetischen Gründen geschaffen, sondern aus rein praktischen Erwägungen. Die Proportionen mögen dabei auch auf Schönheit angelegt sein, das wäre aber nicht der Punkt, um den es Markus A. Dahlem geht.

Verwendete Literatur:

Geoffrey Parker [ed.]. Cambridge Illustrated History of Warfare. CUP, 1995 [updated 2008],  S. 112ff.

Patrick Goode [ed.]. The Oxford Companion to Architecture. OUP, 2009.

M. Fazio, M. Moffett, L. Wodehouse. A World History of Architecture. 2nd ed. Laurence King Publishing, London, 2009.

Wikipedia International zu Neuf-Brisach, crownwork, hornwork, bastion, ravelin, star fort für die Bilder.

Nach dem Abitur habe ich an der Universität Hamburg Anglistik, Amerikanistik, Soziologie und Philosophie studiert. Den Magister Artium machte ich 1992/93, danach arbeitete ich an meiner Promotion, die ich aus verschiedenen Gründen aufsteckte. Ich beschäftige mich meist mit drei Aspekten der Literatur: - soziologisch [Was erzählt uns der Text über die Gesellschaft] - technisch [Wie funktioniert so ein Text eigentlich] - praktisch [Wie bringen wir Bedeutung zum Leser] Aber auch theoretische Themen liegen mir nicht fern, z.B. die Frage, inwieweit literarische Texte außerhalb von Literatur- und Kunstgeschichte verständlich sein müssen. Oder simpler: Für wen schreiben Autoren eigentlich?

1 Kommentar

  1. Gott der Baumeister

    Ich hatte Dir ja auch drüben schon geantwortet und will auch hier kurz den Grundgedanken wiederholen:

    Ich sehe natürlich die Entstehungsgeschichte auch im Kontext der Nutzbarkeit dieser Anlagen.

    Fakt ist aber, dass diese Fortifikationen sehr ähnlich den Auren sind. Ob dies eventuell auch den Baumeistern aufgefallen ist, wenn sie selber unter Migräne mit Aura litten, wissen wir nicht. Aber es ist nicht unwahrscheinlich.

    Es ist aber unplausibel, dass wirklich Konstruktionsmerkmale übertragen wurden, das war ein wenig gewagt. Ich distanziere mich ja sogar selber sprachlich doppelt von der These. Mit es “sei möglicherweise”, nicht mal es “ist möglicherweise” schiebe ich slebt die Möglichkeit weit weg von mir.

    Dies also nochmal betont, steht ich völlig zu dieser Aussage: Diese Parallele zwischen Militärarchitektur und Gehirnforschung aufzuzeigen, könnte für beide Disziplinen ungemein anregend sein.

    Denn wie mit “Visionen”, also mit neurologischen Störungen, umgegangen wird, wie diese in Kunst und Technik integriert wurden und werden, wie sie damals Gott dem Baumeister zugeschrieben wurden, das alles ist spannendes Forschungsfeld.