Die Verwundbarkeit der Deutschen

BLOG: Con Text

Wörter brauchen Gesellschaft.
Con Text

… Vorteil von Literatur ist die prinzipiell anerkannte Struktur. Menschen sind immerhin geborene Musterfinder, wir erkennen selbst dort Muster, wo keine sind. Ein Blick in die Wolken und wir sehen Schafe, Gesichter, Häuser und vieles mehr.

Lesen wir Romane, wollen wir selten zusammenhanglose Langeweile finden, wie es das richtige Leben überwiegend ausmacht. Wir wollen einen Plot, der uns leitet. Wir wollen eine Story, die Aktionen in logische Folgen stellt. Wir wollen Charaktere, deren Entscheidungen für Aktionen, nachvollziehbar sind.

‘One of them is a success story […] and the other is a goddamned horror story.’ Actually, neither was a story at all. Like most people, they had lived through a series of episodes, most of which were frustrating and unsatisfactory. [Len Deighton, Winter, S.4]

In seinem Roman Winter erzählt der englische Spannungsautor Len Deighton die Geschichte einer deutschen Familie, genauer zweier Brüder, die auf ganz unterschiedliche Weise durch die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts* kommen. Den Rahmen stellt der Nürnberger Prozess, in dem einer der beiden Brüder Winter – es wird erst zum Ende klar, ob Peter oder Paul – einen Naziminister verteidigen soll. Den Hauptteil macht dann ein großer Rückblick aus, der mit Beginn des neuen Jahrhunderts anfängt; am Neujahrsmorgen 1900 wird der jüngere der beiden Brüder geboren, ‘child of a new century’. Er steht damit zugleich symbolisch für das neue, moderne Jahrhundert.

Eine in der Spannungsliteratur übliche zusammenhängende Handlung fehlt, Deighton erzählt den Roman anekdotisch. Manche Episode hat dabei durchaus einen klar definierten Anfang, einen Höhepunkt und ein Ende. Meist fehlen diese klassischen Elemente aber. Wir lesen kleine, unspektakuläre Geschichten, zusammengehalten durch die Familie, die dem Buch den Titel gibt, und durch den Bogen, der sich von der wilhelminischen Zeit über die Entwicklung der Demokratie nach dem Ersten Weltkrieg hin zum aufkommenden Faschismus und Zweiten Weltkrieg schwingt.

Die Methode ist der Walter Kempowskis sehr ähnlich. Beide Autoren schaffen Familienalben, die selten bis nie direkt große Politik zeigen, wie es ein prächtiger Konzeptbildband würde. Stattdessen wird das normale Leben dargestellt. Und wie im richtigen Leben ist eine Beurteilung über die bedeutenden Ereignisse, und wie sie sich auf die Personen und ihre Handlungsweisen auswirken, erst viel später im Rückblick möglich.

Anders als bei Kempowski – dessen Bürgerliche Chronik weniger symbolisch ist und voller Ironie steckt – wird das alles nicht aus der sehr persönlichen Ich-Position beschrieben, sondern durch einen allwissenden Erzähler zusammengefasst. Er folgt verschiedenen Figuren, zeigt deren Perspektive, setzt so Schwerpunkte für den Leser. Die allwissende Stellung wird aber nie genutzt, um dem Leser Entscheidungen über Beweggründe abzunehmen.

Nachdem beide Brüder bei einem Segeltörn ins Wasser springen, obwohl der jüngere, Paul, Angst vor Wasser hat, fasst Deighton Überlegungen anderer Figuren dazu zusammen:

Many years later explanations were offered: his wife said it was a desperate wish to destroy himself; a prison psychologist interpreted it as some sort of baptismal desire; and Peter […] said it was straightorward heroism […]. Pauli himself said it was fear that drove him from the safety of the boat into the water; he felt safer with his brother […]. But that was typical of Pauli, who tried to make a joke out of everything. [Len Deighton, Winter, S. 53]

Ein breites Arsenal weiterer Charaktere ermöglicht es dem Autor bei aller Symbolhaftigkeit anhand ähnlicher aber auch sehr unterschiedlicher Lebenswege zu zeigen, dass es nicht die eine Motivation, das eine Set von Umständen gibt, die einen zum Nazi oder Widerständler machten. Trotz gleicher Ausgangsposition wird ein Winter Nazi, der andere stellt sich gegen sie, läuft zu den Amerikanern über.

Youâ’re a bad man to say nasty things about His Majesty. He’s my emperor. Germany hast to be strong, to fight the French and the English and the Russians. The world will respect the Kaiser. I’ll never go to America […] [Len Deighton, Winter, S. 35]

Das sagt eben jener Winter-Sohn, dessen Mutter noch dazu Amerikanerin ist.

Viele Menschen empfinden Geschichte als langweilig; je jünger sie sind, desto häufiger hören wir Homer Simpsons ‘booooooring’. Irgendwelche längst tote Menschen tun irgendwas in irgendeinem längst vergessenen Jahr. Eine Bedeutung für das hier und jetzt und mich ist selten zu erkennen – oder sehen Sie eine Auswirkung der Entscheidung John Churchills, seine Truppen ausgerechnet rheinaufwärts marschieren zu lassen?

Literatur verknüpft historische Ereignisse mit persönlichen Schicksalen. Mit letzteren können wir uns identifizieren, wir verstehen sie, weil sie weniger abstrakt sind. Truppenbewegungen, Jahreszahlen, Anzahl von Toten sagen uns nichts, sie sind bloße Statistik, die wir oft nicht einmal fassen können. So ist es kein Wunder, dass uns das Schicksal der Anne Frank den Horror des Holocaust näher bringt, als die hohe Zahl der in den KZs umgekommenen Menschen.

 

Len Deightons Winter [1987] – verwendete Ausgabe: Grafton, London, 1988 – ist lose verknüpft mit seinen Spionagetrilogien Game, Set & Match und Hook, Line & Sinker, die teilweise vorher entstanden, viel später spielen und einige Figuren mit Winter teilen.

Ashenden ist eine Kurzgeschichtensammlung über einen britischen Agenten von William Somerset Maugham.

Bevor mich irgendein Schlauberger des Selbstplagiats – was soll das eigentlich sein? – bezichtigt: Dieser Beitrag basiert auf einem Kapitel aus meiner MA-Arbeit von 1993.

Der Titel dieses Beitrags stammt aus einem Zitat Len Deightons:

I have never been able to see Hitler as an extraordinary man. Hitler was an ordinary man given extraordinary power by people who were prepared to do anything they were told without questioning it. Perhaps Germans are particularly vulnerable to such tyranny but it would be dangerous to think they are unique in this respect. [aus einem Interview in: Edward Milward-Oliver (1985/87). The Len Deighton Companion. Grafton, London, 1988.]

 

*20. Jahrhundert hier stand ursprünglich fälschlicherweise ’19. Jahrhundert’; nachdem Helmut Wicht mich auf den Fehler aufmerksam machte, korrigierte ich das im Text.

Nach dem Abitur habe ich an der Universität Hamburg Anglistik, Amerikanistik, Soziologie und Philosophie studiert. Den Magister Artium machte ich 1992/93, danach arbeitete ich an meiner Promotion, die ich aus verschiedenen Gründen aufsteckte. Ich beschäftige mich meist mit drei Aspekten der Literatur: - soziologisch [Was erzählt uns der Text über die Gesellschaft] - technisch [Wie funktioniert so ein Text eigentlich] - praktisch [Wie bringen wir Bedeutung zum Leser] Aber auch theoretische Themen liegen mir nicht fern, z.B. die Frage, inwieweit literarische Texte außerhalb von Literatur- und Kunstgeschichte verständlich sein müssen. Oder simpler: Für wen schreiben Autoren eigentlich?

6 Kommentare

  1. “In seinem Roman Winter erzählt der englische Spannungsautor Len Deighton die Geschichte einer deutschen Familie, genauer zweier Brüder, die auf ganz unterschiedliche Weise durch die erste Hälfte des _19. Jahrhunderts_ kommen. Den Rahmen stellt der Nürnberger Prozess..”

    _20stes_ Jahrhundert, oder?

    Über die Frage, ob das Leben eine Aneinanderreihung von zufälligen Anekdoten oder eine Verkettung von notwendigen Schicksalen sei, müsste man sich noch mal separat unterhalten.

    Ich plädiere (aus dem Bauch) für das Schicksal.

  2. Oops, stimmt, das ist selbstverständlich das 20. Jahrhundert. Für diejenigen, die Kommentare nicht lesen, korrigiere ich das oben.

  3. Hitler

    I have never been able to see Hitler as an extraordinary man. Hitler was an ordinary man given extraordinary power by people who were prepared to do anything they were told without questioning it.

    Hitler als Politiker war außergewöhnlich und auch kein reiner Schreier wie aus einigen Tondokumenten (Reden) fälschlicherweise entnommen worden ist, vgl. auch:
    http://www.spiegelfechter.com/…r-off-the-records (die Tondokumente beachten)

    Dasselbe gilt für Goebbels, Speer, Eichmann und Konsorten…

    Die Totalitarismustheorie Ahrendts hat hier vielleicht irregeleitet (“Banalität des Bösen”), gilt aber als nicht gut belegt – zurück zur Kultur bzw. Kunst: Filme wie auch Romane transportieren, auch wenn man es nicht erwartet oder dem Produkt kaum entnehmen kann, in aller Regel komplexe Sichten, Beispiele: ‘Casablanca’, ‘Pulp Fiction’, ‘The Good, the Bad & the Ugly’ und ‘The eagle has landed’ (Roman + Film)

  4. Struktur

    Ja, ihr habt es gut. Bei uns in der Naturwissenschaft wird oft Symmetrie gesehen, wo keine ist. Bei euch weiß man, dass die Literatur absichtlich strukturiert ist.

    Was mich aufhorchen lässt die der Aspekt der langweiligen Geschichte. Vielleicht trifft dasselbe auf Wissenschaft zu. Was wir dann bräuchten wären wirklich gute Wissenschaftsromane. Solche, die den Vorgang der Wissenschaft persönlich erfahrbar machen.

  5. “Viele Menschen empfinden Geschichte als langweilig; je jünger sie sind, desto häufiger hören wir Homer Simpsons ‘booooooring’. Irgendwelche längst tote Menschen tun irgendwas in irgendeinem längst vergessenen Jahr. Eine Bedeutung für das hier und jetzt und mich ist selten zu erkennen – oder sehen Sie eine Auswirkung der Entscheidung John Churchills, seine Truppen ausgerechnet rheinaufwärts marschieren zu lassen?”

    Als Teil dieser beschriebenen “Jüngeren” empfinde ich das ein wenig anders. Geschichte ist nicht langweilig, sondern höchst spannend und auch lehrreich. Es fehlt allerdings ein wenig die mediale Unterstützung und der fehlende Einstieg in die Materie, der meiner Meinung nach vielen die Lust vergehen lässt. In heutiger Zeit, sollte eine andere Herangehensweise an deutsche Geschichte erfolgen, weg von der vererbten Schuld des Nationalsozialismus. Ich will nicht vergessen, aber Distanz wahren. Ich fühle keine Verantwortung für die begangen Taten in mir, lediglich den Wille, so etwas niemals wieder geschehen lassen.

  6. Wenn Geschichte zur Gegenwart wird

    Die Art der Literatur, die hier am Beispiel von Len Deighton’s Winter beschrieben wird, spielt nur vorgeblich in der Vergangenheit. Sie spielt – wenn ihr das Kunststück gelingt – in der Gegenwart. In der Gegenwart des Lesers nämlich, der mit den Roman-Figuren mitlebt und an ihren inneren Kämpfen teilnimmt.

    Es gibt übrigens einige Bücher, denen das Kunststück gelingt, die Nazi-Zeit miterlebbar zu machen. Sicher einmal Anne Frank’s Tagebuch, aber auch das Jugendbuch The Boy in the Striped Pyjamas

    Die Idee Len Deighton’s, Figuren seiner übrigen Bücher in der jüngsten, jedoch schon verblassenden Geschichte zu verankern verleiht diesen Figuren eine Tiefe, die sie sonst nicht hätten und lässt den Leser sinnieren, ob nicht auch Menschen, mit denen er täglich verkehrt geprägt sind von einer vergangenen Zeit in der andere Gesetze galten und die Menschen ganz anders dachten als heute.