Bedeutungsvoll

BLOG: Con Text

Wörter brauchen Gesellschaft.
Con Text

Wieder einmal trafen Sie sich in der finstersten Provinz und beratschlagten. Sie waren arg verwundert, ob des wunderbaren Standes der wissenschaftliche Bloggerszene in den USA. Sie gaben sich des Rausches und der Völle hin. Sie diskutierten und lachten. Sie arbeiteten schwerst und kamen zu keinem Ergebnis.

Deutsche Wissenschaftsblogger in der Pfalz.

Joachim Schulz hat bereits einen Aspekt aus einem Workshop verbloggt, den er und ich recht spontan angeboten hatten. Es ist keine Neuigkeit, dass meinungsstarke Menschen sich gerne in Leserbriefen und Kommentaren äussern. Der Unterschied zur guten, alten Zeitung mit ihrem sehr begrenzten Platz: Meinungsunterschiede werden in Kommentar-Threads schnell zu Meinungsverschiedenheiten, die zu Flamewars.

Wesentlicher Faktor dieser sehr scharf gerittenen, persönlichen Auseinandersetzungen seit dem Usenet ist das Missverständnis. Zuerst recht harmlos, mit fortschreitendem Hin und Her tückisch – wenn bewusst Instanzen für ein Missverständnis eingebaut werden –, zuletzt aggressiv.

Begriffe

In der letzten Phase beharren Disputanten auf einem Entweder-Oder-Schema, sie lassen nur ihr eigenes Verständnis von Wörtern gelten, jedwede Konnotation wird ausgeschlossen, selbst lexikalische Alternativen werden abgetan. Besonders häufig passiert dies bei gesellschaftlichen Themen, zum Teil, weil jeder meint, ’die Gesellschaft’ zu verstehen, schliesslich gehören wir alle dazu. Daraus folgt das zweite Problem. Da wir alle dazu gehören, glauben wir auch zu wissen, alle Aspekte zu verstehen, alle Begriffe zu kennen.

Leider ist das nicht so. Die Allgemeinsprache lebt geradezu – Linguisten mögen mich schlagen – von Ambiguität und vager Definition. Für die üblichen Gespräche unter Fremden genügt es ‘zu erkennen, wenn wir es sehen’1. Für fachliche Diskussionen reicht dies aber nicht aus. Hier müssen Begriffe scharf abgegrenzt werden, um Missverständnisse zu vermeiden und ein klar umrissenes Untersuchungsfeld zu haben.

Beispiel

Zur Themenwoche ‘Toleranz’ einer grossen deutschen Sendeanstalt kam es zur Frage, ob Toleranz überhaupt das richtige Wort im Umgang zwischen Menschengruppen sein darf. Darauf gibt es zwei Antworten: Ja und Nein. Je nachdem, welche Idee, welche Definition von Toleranz man zu Grunde legt.

So lässt sich zurück gehen auf die lateinische Wurzel und Toleranz als ‘erdulden’ oder ‘ertragen’ interpretieren. Nimmt man für diese Eindeutschung noch den schlimmstmöglichen Fall an – ‘die nerven und stören mich und ich mag sie nicht, aber da muss ich wohl durch, Gott prüft seine Schäfchen hart’ –, dann ist Toleranz einer Mehrheit gegenüber einer Minderheit eine schwere Beleidigung.

Eine technische Definition für Toleranz, übertragen auf ein gesellschaftliches Phänomen bringt uns ‘die einen sind so, die anderen sind so, ist aber alles im grünen Bereich’.

Dann gibt es noch die Bedeutung, die vermutlich die meisten mit dem Wort in Verbindung bringen2:

 Definition 2 'Toleranz' in Wahrig Deutsches Wörterbuch: Respektierung der Meinungen, Wertvorstellungen, Verhaltensweisen anderer

Während die erste Definition Interpretationsspielraum offen lässt, indem Toleranz als ‘tolerantes Verhalten’ beschrieben wird, ist die zweite Definition synonym zu Respekt3, einem von zwei besser zu verwendenden Wörtern, die in der Debatte vorgeschlagen wurden.4

Benutzen wir in Diskussionen nur das Wort, ohne jemals klar zu machen, was jeder von uns darunter versteht, kommen wir nicht weit. Wir werden uns anschimpfen, die Emotionen hochkochen lassen, aber letztendlich auf unterschiedlichen Ebenen kommunizieren, die sich nur an einer Stelle schneiden. Wir reden aneinander vorbei.

Bedacht

Eine Ursache – wir fanden noch ein paar mehr, siehe auch Joachim Schulz’ Beitrag – für ausufernde, oft aggressiv werdende Diskussionen unter Blogbeiträgen ist also die begriffliche Verwirrung der Teilnehmer. Der erste Schritt diese zu verringern, ist Klarheit im Ausdruck der Blogautoren. Ein gewisses Dilemma, wollen wir doch meist für das allgemeine Publikum lesbare Texte erstellen.

Das alleine hilft allerdings nicht, wie sich bei der Diskussion zu einem Beitrag von Markus Pössel herausstellte. Obwohl er recht klar die Gemengelage aus individueller Befindlichkeit, strukturellen Problemen der Gesellschaft und spezifischem Kommunikationsmanko des Falles auseinander klamüsert, dreht sich der Kommentarbereich sehr schnell in einen kleineren Flamewar, weil wieder alles vermischt wird.5

Wir gehen als Schreiber davon aus, interessierte Leser zu haben, die sich zumindest mit den Grundzügen der Materie auskennen oder gewillt sind, sich bei Unsicherheiten und Unkenntnis mit Thema, Fach und Methodik bekannt zu machen. Gegen ehrliche Nachfragen dürfte kaum jemand etwas haben.

Notes:
2. Renate Wahrig-Burfeind (Hrg), Wahrig – Deutsches Wörterbuch. 8. Auflage, Wissen Media Verlag, 2006. s.v. ‘Toleranz’
3. Einer Bedeutung von Respekt, um genau zu sein.
4. Das andere war ‘Akzeptanz’, was ich persönlich für erheblich unglücklicher als ‘Toleranz’ halte.
5. Ersparen Sie mir und uns allen, das alles hier zum 3.542.689. Mal wiederzukäuen.

Nach dem Abitur habe ich an der Universität Hamburg Anglistik, Amerikanistik, Soziologie und Philosophie studiert. Den Magister Artium machte ich 1992/93, danach arbeitete ich an meiner Promotion, die ich aus verschiedenen Gründen aufsteckte. Ich beschäftige mich meist mit drei Aspekten der Literatur: - soziologisch [Was erzählt uns der Text über die Gesellschaft] - technisch [Wie funktioniert so ein Text eigentlich] - praktisch [Wie bringen wir Bedeutung zum Leser] Aber auch theoretische Themen liegen mir nicht fern, z.B. die Frage, inwieweit literarische Texte außerhalb von Literatur- und Kunstgeschichte verständlich sein müssen. Oder simpler: Für wen schreiben Autoren eigentlich?

3 Kommentare

  1. Kommentatoren geht es beim Kommentieren wesentlich auch um sozialen Kontakt, Selbstdarstellung, Verbreiten der eigenen Meinung und das Überzeugen anderer. Es handelt sich nicht nur um eine sachliche Diskussion, sondern um eine soziale Interaktion, um eine Auseinandersetzung auf dem Forum als Feld der Ehre. Man kann sich auch blamieren, selbst wenn man unter Pseudonymen agiert. Die Anonymität ohne persönlichen Kontakt verleitet schnell zu Überreaktionen, ebenso wie die Unkenntnis des Gegenüber zu Fehlschlüssen in dessen Äußerungen verleitet.
    Ich befürchte, dass Sich-Streiten-Wollen ist eine menschliche Konstante, die schwer zu zähmen ist. Johann Huizinga hat in Homo Ludens in einem Kapitel “Schimpfturniere” (so der Titel in der deutschen Übersetzung 1956, S.69) über Streitrituale in diversen Kulturen berichtet. Es scheint beim Menschen gewisse psychische Attraktoren zu geben (bei jedem Individuum andere), worüber er sich aufregt, auf die er zu sprechen kommen möchte, über die er eine heftige Diskussion führen möchte. Es genügen ein paar code-Wörter (oder was man in einem produktiven oder destruktiven Missverständnis dafür hält), und man gerät früher oder später auf diese bestimmte Diskussionsschiene. Wenn man diese Mechanismen durchschaut, kann man sich vom eigenen Verhalten besser distanzieren und auch auf eine Antwort verzichten.

  2. Das absolute Begriffe zum Verständnis zwingend verwendet werden müssen, ist nicht wahr. Ein geschilderter Gegenstand erzeugt seine Begriffe im Kopfe der Rezipienten von selbst – so der bei der Sache sei (also dem Verstehen des Kommentars). Verlangte der aber uneingeschränkt die Fachbegriffe und ansonsten “off-topic” rückmeldet, will er gar nicht verstehen oder vom Kernthema seiner Ergüsse kein Stück abweichen – wenn denn Abweichung überhaupt gegeben sei.
    Und dann gibts noch die Gegenstände, die noch gar keinen “Fachbegriff” haben.

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