Der Biologe David Sloan Wilson zur Evolutionsforschung der Religion

BLOG: Natur des Glaubens

Evolutionsgeschichte der Religion(en)
Natur des Glaubens

David Sloan Wilson gehört zu den bekanntesten und einflußreichsten Evolutionsbiologen unserer Zeit. Dabei erschließt er auch immer wieder neue, evolutionäre Forschungsgebiete und Wege, die Öffentlichkeit zu informieren und einzubinden – wie das Online-magazine Evolution: This View of Life. Zusammen mit jungen Teammitgliedern wie Robert “@RobertMKadar” Kadar und Hadassah “@Haddie” Head entsteht derzeit ein neuartiges, interdisziplinäres Onlineangebot. Mich überzeugte er davon, den Religionsbereich von ETVOL zu übernehmen. Zu unseren Ideen gehörte eine Videoeinführung aus biologischer Sicht und ein Web-Interview.

1. David, als führender Evolutionsbiologe hast Du das “Evolution – This View of Life” (ETVOL)-Online-Magazin auf den Weg gebracht, das “alles und jedes aus einer evolutionären Perspektive betrachtet”. Warum hast Du das getan?

Meine berufliche Laufbahn habe ich der Erweiterung der Evolutionsforschung über die biologischen Wissenschaften auf alle Aspekte der Menschheit hinaus gewidmet. So beteilige ich mich an Forschungen zur höheren Bildung (EvoS) und öffentlicher Politikberatung (The Evolution Institute). Die Idee für ein allgemeines Online-Magazin stammt von einem meiner Studierenden namens Robert Kadar. Es war ein großartiges Abenteuer, mit ihm zusammen zu arbeiten, um es zu einer Realität zu machen.
2. Die Evolutionsbiologie war in den letzten Jahren ein Feld intensiver Debatte. Zusammen mit nur wenigen Verbündeten hast Du Gruppen- oder Multiebenenselektion erfolgreich zurück in die Wissenschaft gebracht, nachdem diese zuvor jahrzehntelang verdammt und tabuisiert worden waren. Was denkst Du – warum haben Kollegen wie Richard Dawkins so viel Aktivität darauf verwandt, solche empirisch haltbaren Perspektiven so lange zu unterdrücken?

Historiker werden eine gute Zeit haben, wenn sie die Gruppenselektions-Kontroverse erkunden. Sie haben mit Büchern wie The Price of Altruism von Oren Harmon und Evolutionary Restraints von Mark Borello bereits damit begonnen. Ich spiele die Rolle des Historikers auch selbst in einer Serie von Posts auf meinem “Evolution for Everyone”-Blog mit dem Titel “Truth and Reconciliation for Group Selection” (start hier). Zwei Punkte scheinen mir besonders bemerkenswert zu sein. Erstens, wenn eine große Gruppe von Leuten zu einem Konsens findet, den sie als grundlegend betrachtet, ist es für sie schwer, davon wieder wegzukommen – in der Wissenschaft nicht weniger als in anderen Lebensbereichen. Zweitens stand der individualistische Trend in der Evolutionstheorie in der Mitte des 20. Jahrhunderts in einer allgemeinen Tendenz zum Individualismus in der westlichen Kultur und anderen Forschungsbereichen wie der Ökonomie. Evolutionsforscher des 20. Jahrhunderts waren kulturell auf Individualismus so wie Darwin und seine Zeitgenossen von der Viktoranischen Kultur des 19. Jahrhunderts geprägt waren.
3. In Deinem neuen und teilweise autobiografischen Buch “The Neighborhood Project” reflektierst Du auch den wachsenden, religiösen Skeptizismus in Deiner evangelisch geprägten Familie. Nichtsdestotrotz hast Du mit “Darwin’s Cathedral” das heute dynamische Feld der Evolutionsforschung zur Religion tief geprägt. Und Du hast mich als Religion-Herausgeber für ETVOL mit dem Argument gewonnen, dieses Forschungsfeld dürfe nicht ausgeschlossen bleiben. Warum glaubst Du, dass Religion ein wichtiges Feld der Evolutionsforschung sei?

Meine Mutter und mein Vater, der Schriftsteller Sloan Wilson, Autor von The Man in the Grey Flannel Suit und A Summer Place waren nicht religiös, aber sie hatten einen starken Sinn für Moral, so dass “behandele andere so, wie Du selbst behandelt werden willst” mir so stark vermittelt wurde wie den meisten religiösen Glaubenden. Als ich auf dem College begann, über Evolution zu lernen, wurde mir gesagt, dass Gruppenselektion, die direkteste Erklärung für Altruismus, verworfen worden war. Ich nahm das als eine Herausforderung an. Mich faszinierte auch die Erforschung des Menschen aus evolutionärer Perspektive von Anfang an. Ich schätze, man kann sagen, dass ich einen Appetit für Kontroversen hatte.
Nach Jahrzehnten der Forschungen an Gruppenselektion und der Evolution des Menschen machte es einfach Sinn, Religion aus einer evolutionären Perspektive zu erforschen. Es ist unglaublich wie schnell das Feld der Evolutionsforschung zu Religiosität und Religionen seit der Veröffentlichung von Darwin’s Cathedral vorgerückt ist, dank talentierter Leute wie Dir und Deiner großartigen Arbeit an religiösen Einflüssen auf menschliche Fruchtbarkeit.
4. In den Vereinigten Staaten wird die Evolutionstheorie oft mit religiösen Begründungen kritisiert. In Europa akzeptieren die meisten Menschen die Evolution mit Bezug auf Pflanzen und Tiere, aber vor allem ältere Wissenschaftler weisen sie mit Bezug auf menschliche Phänomene zurück, da sie Reduktionismus und Sozialdarwinismus befürchten. Hast Du einen guten Rat für den Umgang mit solchen Ängsten?

Evolution mit Bezug auf menschliche Belange erwarb sich im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert einen schlechten Ruf, insbesondere als vermeintliche Begründung sozialer Ungleichheit. Als eine Folge meideten die meisten Forschungsdisziplinen zum Menschen evolutionäres Denken, bevor die heutigen Experten überhaupt geboren waren. Und doch streben alle Forschungsdisziplinen zum Menschen auch nach Konsilienz – Konsistenz mit anderen Wissenszweigen. Tatsächlich sagte ja jeder: “Meine Ideen sind mit Evolution vereinbar, ohne dass man viel über Evolution wissen muss.” Aber wenn diese Behauptung getestet wird, zeigt sich, dass viele Ideen der Forschungen zum Menschen versagen. Der beste Weg, um die Ängste vor Evolution abzubauen ist das Aufzeigen, wie Evolutionsforschung verwendet kann, um das menschliche Leben nicht nur zu verstehen, sondern zu verbessern.
Da stimme ich sehr zu. Evolution rockt und ich freue mich darauf, mehr zu Evolution: This View of Live (ETVOL) beizutragen. Danke dafür, David, dass Du Wissenschaft, Kooperation und Evolutionsforschung voran bringst.

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Dr. Michael Blume studierte Religions- und Politikwissenschaft & promovierte über Religion in der Hirn- und Evolutionsforschung. Uni-Dozent, Wissenschaftsblogger & christlich-islamischer Familienvater, Buchautor, u.a. "Islam in der Krise" (2017), "Warum der Antisemitismus uns alle bedroht" (2019) u.v.m. Hat auch in Krisenregionen manches erlebt und überlebt, seit 2018 Beauftragter der Landesregierung BW gg. Antisemitismus. Auf "Natur des Glaubens" bloggt er seit vielen Jahren als „teilnehmender Beobachter“ für Wissenschaft und Demokratie, gegen Verschwörungsmythen und Wasserkrise.

1 Kommentar

  1. Theorie und Praxis

    Evolutionsforschung der Religion – hört sich zwar gut an, wird auch immer wieder auf die Tagesordnung gesetzt – aber ist das wirklich so? Natürlich entwickelt sich die Religion, die Menschen glauben mal mehr mal weniger. Aber was man gern hätte – ist nicht die Praxis. Die Machenschaften der Religionsführungen und ihrer Unterstellten führten immer wieder mal zu starken Auseinandersetzungen ob Kreuzzüge, 30-jähriger Krieg, Hexenprozesse, Kindesmissbrauch… Obwohl mehrere Religionen in ihren Grundlagen zusammenhängen -Judentum, Christentum, Islam, Mormonen-, arbeiten die Religionen mehr für sich und auch gegeneinander.

    Das Christentum musste einst hart und opferreich um seine Existenz kämpfen – eine wahre Entwicklung von Unten. Ein Traum führte Konstantin zur Einsicht und den Christen zum Durchbruch http://geschichtsverein-koengen.de/…stentum2.htm . Solche Träume waren früher keine Seltenheit – im Gilgamesch Epos erhält Noah einen Traum vom Anunnaki-Gott Ea zum Bau der Arche. Könige erhielten Träume und Pläne zum Bau von Tempeln.
    In Afrika konnte sich die katholische Kirche etablieren, weil sie überlieferte Traditionen der Bevölkerung mit aufnahm.
    Wo ist da Evolution? Es sind einfach Machtinteressen. Und der Papstbesuch in vergangenen Jahr in Deutschland – ich wies auf die Fernsehdiskussion hin: https://scilogs.spektrum.de/…as-buch-von-thomas-gr-ter (31.10.11) zeigte auch ganz deutlich, dass Religion von Oben geführt wird.

    Die eigentliche Entstehung der Religionen ergibt sich aus den sumerischen Überlieferungen. Im Blog https://scilogs.spektrum.de/…10-05-18/lilith-und-lolth vom 04.06.2010 verwies ich auf Prof. Kramer und sein Buch „Die Geschichte beginnt mit Sumer“ u. a. Kapitel 10 Landwirtschaft in dem er schreibt: „… dass die hier formulierten Regeln nicht von dem Vater des Bauern stammen, sondern von dem Gotte Ninurta, dem „wahren Ackermann“ und Sohn der führenden Gottheit Enlil.“

    „Mich faszinierte auch die Erforschung des Menschen aus evolutionärer Perspektive von Anfang an. Ich schätze, man kann sagen, dass ich einen Appetit für Kontroversen hatte.“ Wo war der Anfang? Kontroversen? 1.Mo 1,26 hat vor 300.000 Jahren einen sehr konkreten Part, wie uns Prof. Pääbo bewies http://www.mpg.de/286644/Neandertaler?page=5 aber auch die UNI Essen mit einen Hinweis http://www.uni-due.de/…urse-stuff/meso-enuma.htm .
    Wenn wir das Gilgamesch Epos lesen, treffen wir viele (Anunnaki-)Götter, die hier ganz konkret handeln – und es werden mehr, wenn wir uns mit weiteren Epen aus „jener Feder“ auseinandersetzten. Hier liegen die wahren Grundlagen der Religionen…

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