Meine Erinnerungen an den 11 September 2001 – Und Ihre?

BLOG: Natur des Glaubens

Evolutionsgeschichte der Religion(en)
Natur des Glaubens

Diese Woche fragte der SWR ein Interview an, in dem einmal nicht die Wissenschaft im Vordergrund stand, sondern mein Engagement von 1998 – 2006 als Mitgründer und Vorsitzender der Christlich-Islamischen Gesellschaft (CIG) Region Stuttgart e.V.. Die Frage war: Wie hat sich das Verhältnis zwischen Christen, Muslimen, Anders- und Nichtglaubenden seit dem 11. September 2001 verändert?

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So kam es dann, dass ich wieder daran dachte, wo ich damals war, als die Nachrichten eintrafen, was mir in den folgenden Monaten besonders auffiel und ob sich in meinem Leben nach dem Schock etwas verändert hat. Hier sind meine Antworten – und die Frage – Wie war es bei Ihnen? Erinnern Sie sich noch – wo Sie waren, was Ihnen später auffiel, ob sich Weichen anders gestellt haben?

Hier meine Antworten:

1. Wo ich damals war…

Es klingt fast zu verrückt, aber ich war tatsächlich mit anderen Christen und Muslimen am 11. September 2001 in der Evangelischen Akademie Bad Boll um eine Dialog-Sommerakademie vorzubereiten mit dem (Arbeits-)Titel: "Christen und Muslime – Gemeinsam Gewalt verhindern".

Da öffnete sich die Tür und ein erschütterter Akademiemitarbeiter meinte nur: "Es ist zu spät, es hat angefangen…"

Nun ja – "angefangen" hatten die Konflikte zwischen den Kulturen schon länger, es gab auch bereits Anschläge, nur interessierte das in der Öffentlichkeit noch kaum jemanden. Wir waren ein Haufen vor allem junger Frauen und Männer aus den beiden Weltreligionen, die sich für Begegnung und Dialog einsetzten und uns immer wieder anhören mussten, "dass Religion doch eh von gestern" sei. Ein Kollege im Stadtrat meinte trocken: "Ach, Herr Blume, die Probleme mit Religion, das lösen wir mit Sozialhilfe!"

Und nun also kippte plötzlich die Wahrnehmung und "alles" war plötzlich Religion: Aus "Türken" wurden "Muslime" (ob sie sich selbst als religiös verstanden oder nicht) und die Diskussionen etwa um die Integration italienischer oder russischer Zuwanderer verschwand völlig. Wir kamen mit den Nachfragen nach Vorträgen, Theateraufführungen etc. kaum noch hinterher und zeitweise haben wir uns bis zur Erschöpfung ehrenamtlich engagiert. Im Nachhinein hat Michael Thumann den in Europa so entstehenden "Islam-Irrtum" und dessen Klischees sehr gut analysiert, gegen den wir schon damals ankämpften und den schlichte Geister – wie der eine oder andere Kommentator beim Nachbarblog "Der Islam" von Hussein Hamdan – auch heute noch nicht ablegen wollen.

Besonders in Erinnerung geblieben ist mir aber auch noch ein Anruf einer muslimisch-religiösen Freundin noch am 11. September 2001: Sie weinte, nicht aus Angst, sondern aus Fassungslosigkeit und Trauer, was Mörder aus dem Glauben gemacht hatten, den sie als friedlich und menschenfreundlich verstand und lebte. Ich musste oft an ihre Stärke denken – denn viele andere Muslime und Nichtmuslime versuchten sich den unangenehmen Fragen nach Extremismus dadurch zu entledigen, dass sie lieber absurden Verschwörungstheorien Glauben schenken woll(t)en… 

2. Was mir damals auffiel…

Die meisten Menschen waren ehrlich besorgt und viele informierten sich und suchten nach Möglichkeiten, etwas für Dialog und Frieden zu tun. Es gab aber auch andere, die es richtig zu genießen schienen, "dass es jetzt losgeht". Ein älterer Herr sagte mir nach einem Vortrag direkt ins Gesicht: "Endlich dürfen auch wir mal wieder andere verachten!"

Klar weiß ich, dass Fremdenfeindlichkeit ein unschöner Teil unseres menschlichen Erbes ist – doch kann ich den Hass nicht vergessen, der in den Augen dieses Mannes loderte und sich an den Kriegen weidete.

Hinzu kamen Hysterien und Verschwörungstheorien, die nicht nur unsere muslimischen Freundinnen und Freunde betrafen, sondern zunehmend auch gegen Christen gerichtet wurden, die "mit denen" zusammen arbeiteten. Nie werde ich vergessen, wie mich ein Journalist einmal fragte, ob ich beweisen könnte, Christ zu sein!

Sogar heute noch, Jahre später, ärgern sich Rechtsextremisten über das damalige Engagement – was ich als ehrenvolle und auch für die Zukunft verpflichtende Auszeichnung betrachte.

Denn nicht erst der Terroranschlag durch den Norweger Anders Breivik hat gezeigt – Islamophobe und Islamisten (islamische Extremisten) sitzen im selben Boot: Sie wollen von beiden Seiten die nicht-extremen Menschen einschüchtern, gegenseitiger aufstacheln und ein Zusammenleben in Vielfalt, Freiheit und Demokratie unmöglich machen.

3. Weichen anders gestellt…

Die Vielzahl an Anfragen, Vorträgen und Interviews führte bei mir persönlich zu einem Verdruss über Religionstheorien, die nichts dazu sagen konnten, "warum" Menschen überhaupt religiös sind. Oft wurde ich zum Beispiel gefragt "Ob die Welt nicht besser wäre, wenn niemand mehr an etwas glauben würde." Es verbreiteterte sich eine oft ebenso fanatische wie dümmliche Religionskritik, die sich gerne pseudo-wissenschaftlich auf die Evolutionstheorie berief, ohne z.B. Charles Darwins Thesen zur Evolution von Religiosität und Religionen jemals wahrgenommen zu haben.

Und da ich jahrelange Dialogerfahrung im interreligiösen Dialog zwischen Christen und Muslimen hatte sammeln können, schien mir der interdisziplinäre Dialog zwischen Natur-, Kultur- und Geisteswissenschaften eine reizende (Lebens-)Aufgabe.

Mein Fazit…

Die Terroranschläge wie auch viele folgende Verbrechen aller Seiten waren und sind Fanale der Menschenverachtung, die sich auch gegen das Zusammenleben in Freiheit, Vielfalt und Demokratie wandten. Aber ich bin mehr denn je davon überzeugt, dass die Extremisten auf allen Seiten die Schlacht(en) verlieren – zunehmend siegt das Miteinander über den Hass. Und auch die Aufstände auch der islamischen Bürgerinnen und Bürger gegen Diktaturen zeigen: Freiheit, Frieden und Demokratie brauchen Mut. Aber wir haben keine Wahl: Menschenrechte sind Menschenrechte, die uns allen zustehen und für die wir gemeinsam einstehen sollten.

Wie war es bei Ihnen? Erinnern Sie sich noch – wo Sie waren, was Ihnen später auffiel, ob sich Weichen anders gestellt haben?

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Dr. Michael Blume studierte Religions- und Politikwissenschaft & promovierte über Religion in der Hirn- und Evolutionsforschung. Uni-Dozent, Wissenschaftsblogger & christlich-islamischer Familienvater, Buchautor, u.a. "Islam in der Krise" (2017), "Warum der Antisemitismus uns alle bedroht" (2019) u.v.m. Hat auch in Krisenregionen manches erlebt und überlebt, seit 2018 Beauftragter der Landesregierung BW gg. Antisemitismus. Auf "Natur des Glaubens" bloggt er seit vielen Jahren als „teilnehmender Beobachter“ für Wissenschaft und Demokratie, gegen Verschwörungsmythen und Wasserkrise.

4 Kommentare

  1. Ich kann mich…

    …jedenfalls noch glasklar an den Nachmittag des 11. Septembers erinnern, den ich als “Student in Wartestellung” vor Beginn meines ersten Semesters bei meinen Eltern verbracht habe. Auf den ScienceBlogs habe ich heute mal ein paar ungeordnete Erinnerungen verbloggt:

    http://www.scienceblogs.de/…-am-11-september.php

    Rückblickend muss ich konstatieren, dass mich der 11. September persönlich gerade in politischer Hinsicht viel mehr beeinflusst hat, als mir das lange Zeit bewusst gewesen ist. Ein Tag, von dem ich mich mental nicht “entkoppeln” kann – was aber sicher für einen nicht geringen Teil meiner Generation insgesamt gilt…

  2. Der Tag u die Folgen

    Danke für den Anstoß… Und ich bin mal wieder hier 🙂

    Ja, ich war an dem Nachmittag bei einer Arbeitsbesprechung der „Notfallseelsorge“. Als ich rauskam, begegnete mir auf dem Flur ein anderer Kollege; und er zeigte sein üblich gestresst-grimmiges Gesicht. „Warum guckst du denn so bös?“ fragte ich ihn. Und er: „Wie sollte ich gucken, wenn halb New York brennt“. In Grundzügen sagte er mir die ersten Meldungen. Auf der Heimfahrt: Radio anschalten – irgend etwas Schlimmes musste dort in New York passiert sein.
    Zuhause wartete schon der lange angekündigte Besuch: ein alter Schulfreund. Wir hatten uns jahrelang nicht gesehen. Aber zuerst gemeinsam an den Fernseher, und dann erst Kaffeewasser heiß machen. Nach der zehnten Wiederholung schlug ich vor, den Fernseher wenigstens auf Lautlos zu stellen – eine klare (politische) Einordnung sei sowieso noch nicht möglich. Aber der Schulkamerad hing förmlich an den Bildern und den ewig gleichen hilflosen Kommentaren. Aus unserem Gespräch nach der langen Zeit wurde an diesem Spätnachmittag wenig.
    Na ja, und dann während ich im Büro mir einen Überblick verschaffte über die nächsten Aufgaben und vielleicht ein paar Papiere hin und her sortierte, immer wenigstens das Radio im Hintergrund und auch immer wieder zum Fernseher: Vielleicht wusste ja doch jemand, was Sache ist. Aber die Einzelbilder wollte ich mir nicht endlos ansehen.
    Eindrucksvoll in den nächsten Tagen, wie GW Bush einer Moschee einen Besuch abstattete. Das war in den Wochen drauf vergessen.
    Nach und nach schälten sich Zusammenhänge heraus. In der Pfarrerschaft unseres Kirchenbezirks wurde immer mehr deutlich, dass wir das Gespräch mit den Moslems wieder aufnehmen sollten: Es war Mitte der 90er-Jahre begonnen worden, aus Erschrecken über rechtsradikale Anschläge in Solingen und anderswo (1). War aber nach diplomatisch und theologisch steilen Höhenflügen auch wieder eingeschlafen. Mit der türkischen Gemeinde unserer Region hatten wir damit nicht die richtige Gesprächsebene gefunden. Im Lauf der nächsten Monate luden wir dann doch wieder ein: Begegnungen ohne große weltbewegende Theorien. Dafür umso nötiger. Bei den Verantwortlichen auf allen Seiten mit dem Bewusstsein:
    Verrückte gibt es überall; brennen kann auch etwas bei uns; oder dass Leute sich gegenseitig in Schlägereien und andere kriminelle Dinge verwickeln. Es ist gut, wenn man nicht nur übereinander redet sondern rechtzeitig miteinander. Leute, die jeden Exzess benützen, um rechthaberisch Gräben aufzureißen, gibt es überall. Es ist gut, wenn man schon vor einem solchen weiß, wem man dann trauen kann, um etwas miteinander aufzuarbeiten. Um Gräben zu überbrücken, bevor noch mehr hinein fallen oder verschütt gehen.

    (1) Die in der hervorragenden Zusammenstellung in Telepolis auch bereits für die 90er-Jahre aufgelisteten Ereignisse waren uns so nicht in ihrer ganzen Breite bewusst.

  3. Einige haben nachgedacht

    Die Ereignisse vom 11. September haben teilweise üble Verallgemeinerungen und Intoleranz zur Folge gehabt. Glücklicherweise haben auch manche die Situation diferenziert betrachtet.
    Das kleine Buch “Erzähl mir deinen deinen 11. September!” enthält Interviews von Menschen aus verschiedenen Ländern aus dem Jahr 2002-03. Die Meisten Interviewten verfallen nicht in Freund/Feind-Shema oder kritisieren ein solches Denken. Auch deshalb ist das Buch lesenwert.

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