Theologie als Wissenschaft Teil 1

BLOG: Landschaft & Oekologie

Unsere Umwelt zwischen Kultur und Natur
Landschaft & Oekologie

Vom 28.-29.9.2011 fand in der Forschungsstätte der Evangelischen Studiengemeinschaft (FEST) in Heidelberg eine Tagung statt zum Thema

„‚Bewahrung der Schöpfung.’ Theologische Ethik im interdisziplinären Gespräch“.

Ich war einer der Referenten. Während der Tagung kam es immer wieder zu Diskussionen vor allem unter den anwesenden Nicht-Theologen – Vertretern verschiedener Fachwissenschaften und Philosophen – über folgende Frage: Wofür soll es denn gut sein zu wissen, was in irgendwelchen alten Schriften zu einem Begriff wie „Schöpfung“ steht, oder wie es zu deuten ist, daß die Menschen „sich die Erde untertan machen“ sollen, also wozu die Theologie überhaupt von Nutzen sein kann im Hinblick auf Probleme der Umweltpolitik, denn um diese ging es letztlich. Nach der Tagung kam es zu einem Briefwechsel zwischen einem der Veranstalter, dem Theologen Dr. Thorsten Moos, und mir. Diesen Briefwechsel veröffentliche ich hier; ich danke Herrn Moos für sein Einverständnis. Hier ist der erste Brief:

 

Lieber Herr Moos,

Sie haben sich für meine „offenen Aussagen an die Adresse der Theologie“ bedankt. Mich hat jedenfalls die ganze Tagung hindurch die Frage beschäftigt, wofür es denn gut sein soll zu wissen, was genau in irgendwelchen alten Schriften zu einem Begriff, der in aktuellen Diskussionen auftaucht, steht, also wozu die Theologen überhaupt nütze sind. Alle Nicht-Theologen, mit denen ich in den Pausen gesprochen habe, hatten offenbar das gleiche Problem. Ich muß also vermuten, daß es von einer gewissen Bedeutung ist, falls es mit unserem Thema weitergehen sollte. Vielleicht ist es sogar so, daß für beliebige „interdisziplinäre Gespräche“, an denen Theologen beteiligt sind, eben dies das Hauptproblem ist (von Gesprächen unter Spezialisten abgesehen, denn diese Frage, die ja schon viele Jahrhunderte alt ist, ist sicher nach allen Seiten durchdacht und viel Neues wird dazu nicht mehr zu sagen sein, aber sie ist eben von und für Spezialisten durchdacht, dem Nichtspezialisten nützt das nicht so viel).

Natürlich weiß ich, daß es sinnvoll, ja (nach der Heidegger-Gadamer’schen Hermeneutik-Theorie) unumgänglich ist, die eigene Tradition aufzuhellen und gewissermaßen aus ihr zu leben. Aber das ergibt kein Kriterium für eine Auswahl unter der praktisch unendlich großen Zahl möglicher historischer Texte. Und eine solche damit in Richtung Relativismus und Dezisionismus tendierende Begründung (denn zu einer Tradition entscheidet man sich in gewissem Sinne) entspricht auch nicht dem Selbstverständnis der Theologen, die doch um das Verstehen einer bestimmten Schrift nicht aus dem Grund bemüht sind, daß diese nun einmal zu unserer Tradition gehört.

Das Gefühl, etwas begriffen zu haben, hatte ich gegen Schluß, als Sie auf die Habermas’sche Art, der Theologie ihren Platz zuzuweisen, hinwiesen: In den religiösen Texten könnten Einsichten verborgen sein, die der Philosophie aus systematischen Gründen oder zufällig entgangen sind, und diese Einsichten wurden in der Theologie bewahrt und entfaltet; so etwa. Ich sagte darauf, daß sich nur dann daraus nicht nur eine Lückenfüllerposition der Theologie ergibt, sondern eine, die vom Selbstverständnis der Theologen her akzeptabel sein könnte, wenn jene Einsichten nicht irgendwelche, sondern die allerbedeutendsten  sind.

Damit aber verliert die Theologie die Sonderstellung, die sie doch zu haben meint. Jede einzelne theologische Position und in gewissem Sinne die Theologie insgesamt wird zu einer philosophischen Position unter anderen, die ja den genannten Anspruch, das Allerbedeutendste auszusprechen, auch alle haben. Was die heute unter (christlicher) „Theologie“ laufenden philosophischen Positionen gemeinsam haben, ist dann (a) der recht marginale Umstand, daß ihre Quellentexte nicht ausgearbeitete „Philosophien“ sind, sondern heterogene literarische, historisch-deskriptive und mythologische Schriften, die nur bei erheblichem hermeneutischem Aufwand etwas hergeben, weshalb Theologen spezielle Fertigkeiten brauchen. Inhaltlich haben sie (b) gemeinsam, daß sie „Philosophien von Gott“ sind, worin sie sich von den Teilen der Philosophie, die auch dieses Thema haben, aber nicht unterscheiden – abgesehen von dem von der Sache her unbedeutenden Unterschied, daß sie eben durch Interpretation jener Schriften auf die richtigen Gedanken zu kommen versuchen.

Ob ich einen Sinn darin sehen kann, danach zu fragen, wie Sätze wie „machet euch die Erde untertan“ angemessen zu interpretieren sind – einen Sinn im Hinblick auf die Frage nach der Wahrheit dieses Satzes –, hängt dann aber ganz davon ab, ob er die Relevanz hat, die er beansprucht, und das heißt doch wohl: ob man mir klarmachen kann, daß es für den Glauben an die Instanz, der dieser Satz zugeschrieben wird, einen vernünftigen Grund gibt. Und was kann das anderes heißen, als daß dieser Satz wahr ist? Daß diese Instanz also identisch mit „der Vernunft“ ist, allerdings nicht nur der menschlichen? Andernfalls bestünde der Sinn der Beschäftigung mit der fraglichen Textstelle nur in der Aufhellung des Denkens einer bestimmten Kultur. Das kann historisch interessant sein und auch von einem gewissen praktischen Nutzen (Herr Stückelberger sprach in diesem Zusammenhang von der Notwendigkeit der Kontextualisierung universaler ethischer Gesetze in unterschiedlichen Kulturen), aber es entspricht nicht dem Anspruch derer, die mit solchen Sätzen argumentieren, und im Hinblick auf säkularisierte Kulturen oder nicht-christliche wäre dann gar kein Grund zu sehen, sich im Zusammenhang mit Umweltproblemen mit christlichen Theologen zu unterhalten.

 So jedenfalls reimt es sich für mich zusammen. Die (christliche) Theologie müßte sich als eine Philosophie unter anderen Philosophien verstehen. Das hätte aber die Konsequenz, daß man, wenn man sich „interdisziplinär“ mit Theologen über spezielle Fragen wie „Bewahrung der Schöpfung“ unterhält, über den Anspruch der (christlichen) Religion auf universelle Wahrheit verständigen müßte, sei es vorher, sei es jede Frage begleitend. Sonst könnte ich dieser Art von Gesprächen nur ein historisches oder sozusagen partikulares, durch meine lebensweltliche Zugehörigkeit zum protestantischen Milieu begründetes, damit recht schwach begründetes Interesse entgegenbringen, und die meisten Wissenschaftler und Philosophen könnten dann wohl nicht einmal dieses aufbringen.

Das ist ärgerlich, weil ganz praktisch so ein bei den grundlegendsten Grundlagen beginnendes Gespräch erfahrungsgemäß kaum bis zu den speziellen Fragen, um derentwillen man es doch begonnen hat, kommen wird. Aber so wie es lief und wohl auch sonst immer läuft, nämlich daß einige Teilnehmer, die Theologen, etwas vortragen, was bei den anderen ständig von der unbeantworteten Frage begleitet ist, wozu es denn überhaupt gut sein soll, sich mit so etwas zu beschäftigen (während umgekehrt die Theologen sicher sehr klare Vorstellungen, wenn auch verschiedene, davon haben, wozu Wissenschaften und Philosophie gut sind), bringt es nicht viel. Das scheint mir ein Dilemma. Da ich aus mir selbst ziemlichen unklaren Motiven ein starkes Interesse an solchen Gesprächen habe, wäre mir daran gelegen, aus diesem Dilemma herauszukommen. Haben Sie dazu Ideen?

Viele Grüße

Ludwig Trepl

 

Hier ist die Antwort von T. Moos:

 

Lieber Herr Trepl,

haben Sie Dank für Ihren ausführlichen Brief, den ich gerne gelesen und als sehr ernsthaften Versuch der Auseinandersetzung mit dem Thema empfunden habe, das sich im Laufe der Tagung als ein Kernthema herausgestellt hat. Ich möchte versuchen, Ihnen eine ebenso ernsthafte Antwort zu geben. Um der Prägnanz willen kleide ich meine Antwort in Thesen.

1. Theologie ist nicht die Wissenschaft der Deduktion von Aussagen aus der Bibel. Wenn die Geltung theologischer Aussagen von einem historisch kontingenten Textkonvolut abhinge, wäre es um ihren Status als Wissenschaft schlecht bestellt.

2. Die Referenzgröße der Theologie, wie ich sie verstehe, ist die christliche Religion. Diese untersucht Theologie auf ganz unterschiedliche Weise: historisch, philologisch (bezogen auf die Textkorpora), soziologisch, religionsphilosophisch – alles im Übrigen Wissenschaften, die auch außerhalb der Theologie existieren. Die Geltung theologischer Aussagen bemisst sich in diesen Fällen also nach den Kriterien dieser Wissenschaften: Geschichtswissenschaft, Kulturwissenschaften, Philologien, Sozialwissenschaften und – unter vielen anderen – eben auch Philosophie.

3. Des Weiteren hat es Theologie auch mit der Explikation von Glaubensinhalten christlicher Religion zu tun (die systematische Aufgabe). In diesem Zusammenhang geht es darum, die Denkbarkeit des Geglaubten auszuloten. Diese Aufgabe ist nahe an der Philosophie und im Gespräch mit ihr. Gleichwohl ist kann der Geltungsstatus solcher Aussagen nicht volle Allgemeinheit beanspruchen, da er das (kontingente) Faktum christlicher Religiosität voraussetzt, die die Theologin/der Theologie expliziert und an der sie/er auch selbst Anteil hat. Theologie ist mithin systematische Explikation christlicher Religion aus der Innenperspektive.

4. Insofern hat christliche Theologie in ihrer systematischen Aufgabe in der Tat kontingente, die Allgemeinheit ihrer Aussagen einschränkende Aspekte. Diese beruhen aber nicht auf irgendwelchen wackeligen Deduktionen aus historisch abständigen Textkorpora, sondern aus dem empirischen Faktum christlicher Religiosität und deren Selbst- und Fremdinterpretationen über 2000 Jahre Christentumsgeschichte hinweg, vor allem aber in der Gegenwart.

A5. Daher vertritt Theologie in ihrer systematischen Aufgabe zunächst keinen Anpruch auf universelle Wahrheit. Wenn der christliche Glaube selbst für bestimmte Aussagen Allgemeinheit beansprucht, ist dies zunächst auch nichts weiter als eine kontingente Glaubensaussage. Wenn die Theologie diese zu explizieren versucht, muss sie sich zu diesem Allgemeinheitsanspruch stellen und ihn – wenn möglich – in der Tat vernünftig begründen oder ihn in seiner unableitbaren Kontingenz reflektieren.

6. Das heißt, dass systematische Theologie sich zunächst an die Glaubenden richtet und dort ihr kritisches Forum hat – umgekehrt hat Theologie dem empirisch vorhandenen Christentum gegenüber auch eine kritische Funktion, wenn es etwa um die Kritik an bestimmten, etwa moralisch problematischen oder psychologisch pathologischen Gottesvorstellungen geht.

7. Theologische Ethik als ein Teil der systematischen Theologie hat nun die Aufgabe, die Verbindung, die Christinnen und Christen selbst zwischen ihren Glaubensgehalten und ihren moralischen Überzeugungen ziehen, hinsichtlich ihrer vernünftigen Explizierbarkeit zu rekonstruieren und ebenso zu kritisieren. Der Geltungsstatus theologisch-ethischer Aussagen (sofern diese normativ sind) ist damit wiederum abhängig von (kontingenten) Glaubensvoraussetzungen.

8. Der möglicherweise unabgeschlossene Beitrag des Christentums zur Geschichte der Vernunft besteht also darin zu prüfen, ob bestimmte Einsichten des christlichen Glaubens tatsächlich eine über das Christentum hinausgehende Überzeugungskraft haben. Diese Prüfung können aber, folgt man Habermas, nicht die Theologen (stellvertretend für andere) leisten, sondern eben nur die säkulare Öffentlichkeit in ihrer Vielschichtigkeit. Allenfalls die dieser Prüfung vorangehenden Explikations- und Übersetzungsleistungen sind von christlicher Seite aus zu leisten – nach Habermas aber auch umgekehrt von Seiten der säkularen Öffentlichkeit.

9. Der bloße Rekurs auf „Vernunft“ reicht also nicht aus, zumal dann, wenn diese Vernunft philosophisch monopolisiert gedacht wird. Habermas bezieht sich auf Diskurse in säkularen Öffentlichkeiten. Dabei geht es um das, was in der gemeinsamen Suche nach dem Richtigen anerkennungsfähig ist – und das eben nicht mehr von einer Instanz stellvertretend für alle festgelegt werden kann. Das redet keineswegs einem Irrationalismus (sei es dezisionistischer, intuitionistischer oder welcher Prägung auch immer) das Wort. Aussagen im Diskurs sind sehr wohl begründungspflichtig, und Vernunft ist gerade das Mittel der Generierung allgemein anerkennungsfähiger Begründungen. Im säkularen Diskurs sind Christinnen und Christen an diese Vernunft gewiesen.

10. Gleichwohl sind normative Aussagen schon formal nicht letztbegründbar, da sie deduktiv wiederum auf normative Aussagen verweisen. Moralische bzw. rechtliche Diskurse haben also immer Begründungsnotstände und einen schon deswegen irreduziblen moralischen Überzeugungspluralismus. In diesen Pluralismus hinein sprechen nicht nur Philosophen und Theologen, sondern auch Ökonomen, Pädagogen, Ökologen und alle anderen Vertreterinnen und Vertreter normativ imprägnierter Wissenschaften.

11. Es ist also zu unterscheiden zwischen öffentlicher Vernunft im Sinne Habermas’ und Rawls’, und den in Kontexte wissenschaftlicher Rigidität eingebundenen Rationalitäten einzelner Teildisziplinen (vgl. Apel: Die eine Vernunft und die verschiedenen Rationalitäten). Letztere haben Allgemeinheitsansprüche, die universell sind, aber nur in kleinen Communities eingelöst werden. Wenn man in der Philosophie den Richtungsstreit zwischen Hermeneutikern, Phänomenologen und analytischen Philosophen ansieht, ist auch hier deutlich, dass es mit einer allgemein anerkennungsfähigen philosophischen Vernunft im Sinne anerkennungsfähiger Begründungen de- oder präskriptiver Sätze empirisch nicht weit her ist.

12. Neben die Bescheidenheit der Theologie gehört also auch die Entmythologisierung philosophischer Geltungsansprüche in unser Gespräch.

13. Inwiefern ist es also interessant, sich mit der Interpretation von Sätzen wie „Macht euch die Erde untertan“ zu befassen? (1.) Historisch-philologisch als Kulturdokument einer verstrichenen Zeit – das dürfte unbestritten sein. (2.) Kulturgeschichtlich als Beitrag zum Verständnis des abendländischen Naturverhältnisses (im Anschluss an Lynn White et al.). (3.) Systematisch dann und nur dann, wenn dieser Satz für die Selbstinterpretation gelebten christlichen Glaubens in der Gegenwart relevant ist – wenn also Gläubige sich wirklich darauf beziehen.

14. Letzteres ist m.E. wenn überhaupt nur im Kontext dessen der Fall, was Christen allgemeiner mit „Schöpfung“ meinen. Also: Es gibt m.E. eine Glaubenserfahrung, die sich als „Schöpfungserfahrung“ bezeichnen lässt. In ihr geht es im Kern nicht um Ökologie und Umwelt, sondern um den Umgang mit endlicher Freiheit sowie um eine ambivalente Welterfahrung zwischen dem Angelegtsein auf Sinn und der Erfahrung von Sinnlosigkeit und Gebrochenheit. Das ist nun sehr kurz skizziert; es wäre viel mehr dazu zu sagen. Wichtig ist mir hier: Christen sind keine von angeblichen Gottesbefehlen in historisch abständigen Schriften ferngesteuerten Vernunftfeinde. Sondern es geht um religiöse Erfahrungen, d.h. um gedeutete Erlebnisse, die Menschen kognitiv, voluntativ und emotiv in Anspruch nehmen (d.h. insbesondere nicht in kognitiven Gehalten aufgehen), die sich mittels religiösen Traditionsmaterials auslegen und die wir als Religiosität oder Glauben bezeichnen können.

15 Nun ist Religiosität in der Gegenwart nicht so verfasst, dass die einen es sicher und immer sind und die anderen nie. Die Grenzen zwischen Christentum und seinen nichtchristlichen Nachbarbereichen verschwimmen. Es gibt Kulturbestände, die mindestens auch auf das Christentum zurückgehen, aber inzwischen allgemein geworden sind (zum Teil gegen den Widerstand der Kirchen, wie etwa im Falle der Menschenrechte). Schon von daher ist Theologie als Explikation religiöser Elemente oder Sedimente in der Kultur eine Wissenschaft, die über die engen Grenzen kirchlicher oder auch nur explizit christlicher Zielgruppen hinaus von Belang ist.

16. Von 4., 13. und 15. her begründet sich m.E. auch die Rolle der Theologie im interdisziplinären Gespräch – nicht aber von einem angemaßten Allgemeinheitsanspruch aus, den die Theologie (von Biblizismen und anderen Fundamentalismen abgesehen) auch nicht unreflektiert erhebt.

17. Was das Thema Umwelt angeht, so scheint mir der Beitrag der Theologie auch und gerade in der Reflexion auf die Erfahrungen endlicher Freiheit und auf ambivalente Welterfahrungen zu bestehen (siehe 14.). Ich habe Ihnen dazu einen kleinen, sehr flapsigen Beitrag beigelegt, der das Thema der Endlichkeit von Freiheit im ökologischen Kontext behandelt und mit christlich-jüdischer Mythologie verbildlicht (aber nicht begründet).

Herzliche Grüße,

Thorsten Moos

 

(Fortsetzung folgt)

 

Blogartikel mit Bezug zum Thema: 1, 2, 3, 4, 5, 6, 7, 8, 9, 10, 11

 

 

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Ich habe von 1969-1973 an der Ludwig-Maximilians-Universität München und der FU Berlin Biologie studiert. Von 1994 bis zu meiner Emeritierung im Jahre 2011 war ich Inhaber des Lehrstuhls für Landschaftsökologie der Technischen Universität München. Nach meinem Studium war ich zehn Jahre lang ausschließlich in der empirischen Forschung (Geobotanik, Vegetationsökologie) tätig, dann habe ich mich vor allem mit Theorie und Geschichte der Ökologie befaßt, aber auch – besonders im Zusammenhang mit der Ausbildung von Landschaftsplanern und Landschaftsarchitekten – mit der Idee der Landschaft. Ludwig Trepl

9 Kommentare

  1. @ Aichele: nicht so absolutistisch

    Lieber Herr Aichele,

    Die Diskussion hier ist zwar schon aus und keiner wird diesen Kommentar mehr lesen, aber ich will damit ja auch niemanden bekehren, sondern nur die Gelegenheit des Austauschs mit Ihnen nutzen, mir selber etwas mehr Klarheit zu verschaffen. Darum kann ich auch bedenkenlos einen langen Kommentar schreiben.

    Im Zusammenhang damit, wie man Religion definieren könnte, schreiben Sie: „Es geht um *mehr* als das, was ein platter Materialismus sagen würde – um ein Mehr auch als das, was wissenschaftlich feststellbar ist.“ Das scheint mir richtig, und wichtig ist dabei auch, daß „wissenschaftlich“ nicht auf Naturwissenschaft (im methodologischen Sinn, auf science ) beschränkt verstanden werden darf, sondern die Bedeutung hat, die es vor 200 Jahren hatte, bevor es die großen Trennung in dem gab, was man im Deutschen immer noch alles unter „Wissenschaft“ faßt: das, was uns zuverlässiges Wissen liefert, also auch Geisteswissenschaft und in erster Linie Philosophie. Sie fahren dann fort:
    „Ja, und ich formuliere es natürlich möglichst nicht so, dass das ‚alles in der Welt übersteigt, jenseits von allem in der Welt ist’ [Zitat von mir] – um eben den Sonderbereich, die Sonder-Ontologie zu vermeiden. Ich versuche dann eher so zu formulieren: Es geht tiefer als das, was ich mir zurechtlege, was ich von mir aus mache – auch u.U. verbindlicher als die mir von meiner Umgebung zukommenden Rechte und Pflichten. So können mir gewisse Ziele (Gerechtigkeit…) so wichtig werden, dass ich dafür ‚alles dransetze’“.

    Ja, vielleicht sollte man es besser (ungefähr) so formulieren wie Sie. Ich habe es auch so ähnlich gemeint: Mit „Welt“ meinte ich die phänomenale Welt, das, wofür die Vernunft „in ihrem theoretischen Gebrauch“ (Kant) zuständig ist und das, wenn es zu „Erkenntnis“ werden soll, der Prüfung durch die sinnliche Erfahrung bedarf. Sie haben unter „Welt“, scheint mir, etwas anderes verstanden. Sie schreiben „Natürlich kann man auch in einer nicht-jenseitigen Welt von Geheimnissen sprechen“ und bringen als Beispiel die Heiligkeit des Brotes. Ich habe an anderes gedacht: „Jenseits“ der phänomenalen Welt (aber doch in „unserer“ Welt) und für die Wissenschaft ewiges Geheimnis ist vor allem die „Tatsache“ der Freiheit und alles damit Verbundene (Pflicht, Schuld …), d. h. der gesamte Bereich des Moralischen. Denn da geht es gerade nicht um „die mir von meiner Umgebung zukommenden Rechte und Pflichten“, sondern um die, die man sich zwar selbst setzt, aber eben vernunftnotwendig setzen muß und dies nicht nach Belieben tun kann, und man kann dieses Setzen auch nicht der „Umgebung“ (sei es die Nachbarschaft, sei es eine zufällig in einer Kultur als heilig geltende Schrift: auch das ist „Umgebung“) überlassen. Und es ist nicht nur „verbindlicher“ als das von der Umgebung Gesetzte, sondern unbedingt verbindlich.

    Jenseits der phänomenalen Welt und ewiges Geheimnis ist auch das, was sich durchaus auf Sein und nicht auf Sollen bezieht, aber unserer Erkenntnis nicht zugänglich ist, weil wir halt nun einmal trivialerweise nur in den Formen erkennen können, in denen wir erkennen können; dafür ist der traditionelle Begriff „Ding an sich“. „Religiosität“ wäre (darauf bezogen) vielleicht als die Gefühls-Entsprechung zum Wissen über die grundsätzliche Begrenztheit unserer Erkenntnismöglichkeiten zu definieren; mit einer Nietzsche’schen „Hinterwelt“ hat nichts zu tun, denn damit ist eine Grenze der Erkenntnis bezeichnet, nicht irgendeine Art von Sondererkenntnis. Man kann schlechterdings nichts darüber wissen, was hinter dieser Grenze ist, aber daß es eine Grenze gibt, kann man wissen.
    Das meinte ich mit dem Bezug zum Absoluten, Unbedingten, der hier wesentlich ist (und gegen den Sie mir etwas zu haben scheinen): Es geht auf zwei Ebenen (der moralisch-praktischen und der theoretischen) um das, was das übersteigt, was innerhalb der phänomenalen Welt, der Welt, wie sie uns erscheint , erklärlich ist, denn darin ist halt alles durch irgend etwas anderes, was ebenfalls in dieser Welt ist, bedingt und hat seine Bedeutung im Hinblick darauf und keine ungedingte Bedeutung/Geltung. Was Sie schreiben: „Religion ergreift doch zumeist Bereiche, die noch etwas weiter und tiefer gehen“, nämlich tiefer als nicht-religiöse Kulte, so scheint mir das zu wenig. Man sollte erst dann von Religion sprechen, wenn ein Bezug auf jene ungedingte Bedeutung/Geltung da ist; sonst, d. h. wenn es nur „weiter und tiefer“ geht, nicht unendlich weit und tief, handelt es sich um Folklore oder auch um Aberglauben, auch wenn es Religion genannt wird. Und es ist wichtig, daß es in diesem Bezug nicht um ein Wissen oder um einen Glauben im Sinne eines Für-Wahr-Haltens und etwas, was wissenschaftlich widerlegt werden könnte geht, sonst handelte es sich nicht um Religion, sondern um Wissenschaft, aber doch nur um Pseudo-Wissenschaft, denn definitionsgemäß kann es da ja keine Wissen-schaft geben.

    „Jenseits der phänomenalen Welt“ ist auch das, was man „Sinn“ (in einem bestimmten Sinn, z. B. „Sinn des Lebens“, „Sinn der Welt“) nennt. In der phänomenalen Welt hat alles Bedeutung/Nutzen/Wert für etwas anderes und so geht es ewig weiter, und nie kann man darauf kommen, daß das Ganze, daß „es“ „letzten Endes“ Bedeutung hat, also „Sinn“ hat. So wird man Religion wohl auch definieren können: Sie befaßt sich mit der Frage des „Sinns“ der Welt und des Lebens, und da man davon nichts wissen kann, geht es in der Religion um „Glauben“. Nun ist man da natürlich ganz schnell bei der Sonderontologie. Denn die Frage nach dem Sinn ist ja doch eine theoretische, denn sie hat die Form: Ist die Welt, das Leben sinnvoll? Da liegt es dann nahe, sich eine erreichbare Welt auszudenken, in der es weder Übles noch Böses gibt und die ewig ist – darauf bezogen hätte dann alles Sinn. Das Hauptproblem der Theologie dürfte darin liegen, die Frage nach dem Sinn so anzugehen, daß es nicht auf eine solche Antwort hinausläuft.

    Sie betonen immer wieder die Bedeutung der Rituale; mir ist jetzt etwas klarer geworden, was da dran sein könnte. Man ist ja erst mal skeptisch. In den real existierenden Religionen, vor allem im katholischen Volksglauben, sind Rituale ja im wesentlichen magische Handlungen. Man beeinflußt durch sie übernatürliche Mächte, kann dadurch darauf hinwirken, daß es das Unwetter ausbleibt oder den Nachbarn trifft oder daß die Seele der Großmutter früher aus dem Fegefeuer kommt. Aus dem, was Sie nun schreiben, entnehme ich, daß das Wesentliche an den Ritualen ist, daß sie unverzichtbar sind, wenn „eine religiöse Theorie“ – und so etwas wäre ja z. B. das, was über den Sinn des Lebens gesagt werden kann – ohne rituelle Einübung nicht „das ganze Leben“, die „Lebensgestaltung“ betreffen kann (und damit auch keine Religion werden kann). Das scheint mir richtig, trotzdem scheinen mir damit die Rituale nicht eine so große Bedeutung zu bekommen, wie Sie sie m. E. sehen. Denn sie sind ja nur Mittel. Der Zweck, der die Rituale rechtfertigt, ist immer etwas Moralisches. Die Sätze von Friedrich Schorlemmer, die Sie zitieren („Ich glaube nicht an das Recht des Stärkeren, an die Sprache der Waffen, …. Doch ich will glauben an das Recht des Menschen …“) sind moralische Sätze; man kann sie auch als Soll-Sätze formulieren, und das „ich glaube“ scheint mir den Sinn zu haben: Meine Vernunft sagt mir, daß dieser Sätze richtig sind, aber daß mir das nicht nur meine beschränkte individuelle Vernunft sagt, sondern daß diese Sätze unbedingt verbindlich sind, das kann ich nur „glauben“; und das ist durchaus ein Glauben im Sinne von für-wahr-halten. Womit man doch wieder in der „Theorie“ wären, die Sie, wie mir scheint, von der Sphäre der Religion über Gebühr fernhalten wollen.

    Viele Grüße

    Ludwig Trepl

  2. Später Beitrag

    Ja, die Diskussion hat ja schon fast aufgehört. Aber ich wollte mich nicht einfach so aus dem Staube machen, sondern Folgendes doch noch beitragen:
    Für interessant finde ich, dass Sie die Sonder-Ontologie ablehnen. Und falls wir da uns nicht total missverstanden und eigentlich zwei total verschiedene Zusammenhänge meinen, könnten wir uns in diesem Punkt einig sein. Aber dabei auch festhalten: Allermeist meint man sonst (auf theologischer Seite und auf der Gegenseite), die Theologie könne nur ihr Geschäft betreiben, indem sie eben eine Sonder-Ontologie betreibt: Theorien und Erklärungen, Hinweise für eine jenseitige Welt. Also das, was traditionellerweise Transzendenz genannt wird und süffisanterweise Nietzsche als Hinter-Welt bezeichnet. Und genau dagegen wehre ich mich. Ich halte das alles für weltanschauliche Vorgaben, die Jahrtausende lang das Korsett für die Theologie waren, die es aber so nicht mehr sein können – nein: nicht mehr sein dürfen.
    Natürlich kann man auch in einer nicht-jenseitigen Welt von Geheimnissen sprechen. Während ein platter Materialist etwa sagen würde: ein Brot wäre in biochemischen Formeln und durch die Gebrauchsanweisung für Bäcker zu erklären, dürfte eigentlich jeder Mensch wissen, dass es da noch mehr Dimensionen gibt – etwa bei verschiedenen Gelegenheiten, in denen das als Letztes bleibt (bei Wasser und Brot) oder die Nahrung der Armen ist („dann sollen sie doch Kuchen kaufen“) oder eben als Urbild der Nahrung: Brot ist „heiliger“ als Kartoffelchips. Das führt zum sehr symbolträchtigen gemeinsamen Essen, Brotbrechen … und kann in gewissen Traditionen Gottes Gegenwart verkörpern.
    Und das kann so dem Glauben wichtig werden – ja, auch verbindlich. Den Wirklichkeitsgehalt muss man dann aber wohl poetisch beschreiben. Die mit diesem Stichwort gelegte Spur halte ich für gut. Aber ich muss aufpassen, dass das nicht zu einem *nur* poetisch/*nur* symbolisch wird. Sondern: Es geht um *mehr* als das, was ein platter Materialismus sagen würde – um ein Mehr auch als das, was wissenschaftlich feststellbar ist. Ja, und ich formuliere es natürlich möglichst nicht so, dass das „alles in der Welt übersteigt, jenseits von allem in der Welt ist“ – um eben den Sonderbereich, die Sonder-Ontologie zu vermeiden. Ich versuche dann eher so zu formulieren: Es geht tiefer als das, was ich mir zurechtlege, was ich von mir aus mache – auch u.U. verbindlicher als die mir von meiner Umgebung zukommenden Rechte und Pflichten. So können mir gewisse Ziele (Gerechtigkeit…) so wichtig werden, dass ich dafür „alles dransetze“.

    Ja, genau dadurch wird – gebe ich zu – Religion schwer unterscheidbar
    a) von anderen Lebensgestaltungs-Programmen („Kommunismus, Punk, der Kult um einen Fußballklub usw.“). Bezüglich der Kulte gibt es da sicher Parallelen. Festhalten möchte ich dabei, dass das doch nie so ganz das ganze Leben betrifft. Fußball oder andere Leidenschaften sowieso nicht; aber auch nicht einmal ganz der maoistische Kommunismus). Religion ergreift doch zumeist Bereiche, die noch etwas weiter und tiefer gehen – Bearbeiten aller Lebensstadien (in den rites des passages), auch Alter, Krankheit und Tod (worum sich politische Ideologien dann doch gerne drücken). Aber gewisse kommunistische Programme versuchten deshalb auch, Religion zu werden und pfropften sich manches künstlich ein. Ich habe auch schon mal gedacht, der Konfuzianismus ist eigentlich keine Religion, passte sich aber entsprechenden Bedürfnissen an und wurde zur Religion. Also fließende Übergänge.
    b) Die Theorie solcher Religion , also die Theologie, ist zugegebenermaßen auch schwer zu unterscheiden von – sagen wir: einer Mischung aus Philosophie, Psychologie, Soziologie. Ja, wenn sie von der „Stimme Gottes“ redet, dann ist’s natürlich eine religiöse Theorie.
    Eine solche Theoriemischung müsste aber trainieren, rituell einüben ff , um zu einer Religion zu werden. Das macht schon Religionen aus, dass da nicht nur etwas gelehrt wird , sondern etwas eingeübt, bewirkt wird. Und das ist das, was Alain de Botton entdeckte – mit der ganz interessanten Unterstellung, dass im Gegensatz zu den (wissenschaftlich, vom Weltbild her gesehen) obsoleten Lehren der Religion(en) womöglich dieses Einüben von gewissen Lebenseinstellungen doch zum bewahrenswerten Erbe der Religionen gehöre; bzw. das müsse man den Religionen wegnehmen, bevor man das Kind mit dem Bade ausschütte – bevor man mit den veralteten Vorstellungen auch die entsprechende Einübung von Lebenseinstellung wegwerfe. (Natürlich muss man zumindest bei de Botton, aber hoffentlich doch auch in aufgeklärterer Religion, auch darüber diskutieren, was genau denn da jetzt eingeübt werden soll und was besser nicht mehr).
    Bei allem, was ich hier an Religionsdefinition bringe – ich weiß, dass solche Definitionen für gestandene Religionswissenschaftler fürchterlich sind; und am fürchterlichsten, wenn christliche Theologen sich erdreisten, Religion zu definieren. Höre ich also an diesem Punkt auf.
    Ja, der Glaube und die Wissenschaft: Am leichtesten kann ich es mir machen, wenn ich sage: Der Glaube ist so wenig Wissenschaft wie etwa der Tanz oder die Kunst. Nun ja, im Unterschied zum Tänzer oder Maler muss der Glaubende auch inhaltliche Aussagen machen. Wenn er etwa mit Schorlemmer sagt:

    Ich glaube nicht an das Recht des Stärkeren, an die Sprache der Waffen, an die Macht der Mächtigen. Doch ich will glauben an das Recht des Menschen, an die offene Hand …
    Siehe HIER, S. 12 unten

    , dann ist Glaube genau das, was ich meine: Entscheidung für (und gegen) etwas – gewissermaßen eine Reinform des Glaubens. Und da ist Verbindlichkeit wohl verständlich. Solche Aussagen dürften wissenschaftlich kein Problem sein.
    Wenn es aber meist so verstanden (innerhalb und außerhalb der Kirche so dargestellt) wird, dass es um inhaltliche Aussagen zu mehr oder weniger merkwürdigen (antiken) Vorstellungen geht, dann beginnt das Problem. (Und es ist mir wohl verständlich, dass Sie da misstrauisch sind gegenüber der Verbindlichkeit von Glaubensaussagen). Etwa wenn man sich auf solche Dinge stürzt (oder darüber stolpert) wie die Jungfrauengeburt. Ist schon klar, dass für uns Heutige die biologische Unmöglichkeit ins Zentrum des Interesses rückt; und damit wird ziemlich oft der Wissenschaft in die Suppe gespuckt. Wenn das auch noch mit Verbindlichkeit proklamiert wird – etwa von der katholischen Kirchenleitung gegenüber Drewermann – dann läuft natürlich alles falsch. Und viele Christen sitzen wieder in ihrer selbst verschuldeten Falle.
    Wenn man aber noch etwas von der Wertaussage spürt, die Jesus mindestens auf dieselbe Ebene stellt wie andere übernatürlich Geborene – (Plato, Pythagoras, Simon Magus, Buddha), dann kann ich der Verbindlichkeit schon etwas mehr abgewinnen.
    Also nicht die Sätze der Bibel als Lehrsätze unbesehen als verbindlich nehmen, sondern den Zusammenhang – die Lebensgestaltung, die daraus entstehen soll. Gibt ja das schöne Bonmot – verschiedenen Leuten zugeschrieben: Entweder nimmt man die Bibel wörtlich oder man nimmt sie ernst.
    So, und das ist jetzt – weit nach Mitternacht – ein schöner Schluss. Und die Länge dieses Kommentars mag wieder erklären, warum ich meist nicht so schnell reagiere.

  3. @ Aichele: nicht so absolutistisch

    @ Hermann Aichele:
    „Hinter Ihrer ersten Anmerkung steckt wohl die Vorstellung: Die Theologie muss, um ihr Geschäft (ihre „genuine Aufgabe“) zu betreiben, so eine Art Sonder-Ontologie betreiben – jenseits der Grenze normalen Erkennens.“

    Nein, das meine ich nicht. Deshalb habe ich geschrieben (als Vermutung): „hier ist eine Grenze, hinter der noch ‚etwas’ ist, aber wir können in keiner Weise sagen, was, es ist ein ewiges Geheimnis“. Hier ist eben keine Ontologie möglich, weder eine Sonderontologie noch eine normale. Es handelt sich aber um Geheimnisse, an denen man nicht einfach mit einem Achselzucken vorbeigehen kann. Es muß „etwas dazu gesagt werden“. Darum habe ich daran erinnert, daß manche Philosophen hier die (notwendige) Welt der Dichtung beginnen sehen und ich habe gefragt, ob die Theologie nicht vielleicht in diese Gegend gehört. Der Gedanke von Herrn Moos, daß die Theologie es eher mit expressiven als mit den theoretischen und moralischen Sprechakten zu tun habe, scheint mir auch in diese Richtung zu gehen.

    „Religion definiere ich nicht durch besondere Offenbarungen …. Sondern eben dadurch, was Menschen an gemeinsamen Leitmotiven haben, die sie zB in gemeinsamen Riten pflegen.“

    Durch Offenbarungen kann man Religion in der Tat nicht definieren. Aber so, wie Sie es eben gemacht haben, auch nicht. Denn dann wird Religion von vielem ununterscheidbar, was nicht nur sich selbst nicht als Religion versteht, sondern mit guten Gründen als etwas anderes gilt: Kommunismus, Punk, der Kult um einen Fußballklub usw. Ist nicht doch wesentlich die Vorstellung von einem Unbedingten (über das es kein Wissen geben kann), und das heißt von etwas, das alles in der Welt übersteigt, jenseits von allem in der Welt ist, denn in ihr ist immer alles bedingt durch etwas anderes? Mit Offenbarung muß das nichts zu tun haben. – Wenn ich sage: Mein Gewissen quält mich und fortfahre: Das sind nur meine individuellen Gedanken, ein anderer hat andere Gedanken, der hätte an diese Stelle keine Qualen, es ist halt meine spezielle Erziehung usw., die mich in diesen mißliche Zustand gebracht hat, dann ist das nicht religiös. Wenn ich aber statt dessen so fortfahre: Das Gewissen ist die Stimme Gottes, dann wird man das religiös nennen. Wenn nun einer sagt: das ist nicht die Stimme Gottes, sondern die Stimme der Vernunft, d. h. nicht nur meiner individuellen, sondern der Vernunft, dann ist es zwar nicht üblich, aber durchaus sinnvoll, dies religiös zu nennen. Denn DIE Vernunft kann ich nicht kennen, sie ist als etwas Unbedingtes gedacht, ich kann an sie nur „glauben“. Gemeinsamkeit, Riten usw. muß hier nicht sein, allerdings pflegt das in der Regel aus solchen „Leitmotiven“ (das wäre „Vernunft“ in diesem Falle ja) zu folgen.

    „Koreaner wurden von unseren Leitmotiven nicht so geprägt. Brandenburger schon eher (warum Sie gerade diese als Gegenbeispiel nennen?!).“ Ich kenne keine Daten, würde mich aber nicht wundern, wenn es in Korea heutzutage mehr Menschen gäbe, die mit der christlichen Tradition etwas anfangen können, als in Brandenburg.

    „Für den Gläubigen hat ‚die’ Bibel bestimmte Verbindlichkeit. Mit dieser gewissermaßen im Voraus schon festgelegten Verbindlichkeit ist natürlich der Glaube kein wissenschaftliches Unterfangen.“

    Das ist er sicher nicht. Aber was für ein Unterfangen ist er dann? Kann er denn dann vor seinen eigenen Ansprüchen bestehen, wenn er kein „wissenschaftliches“ Unterfangen ist? Wenn man von etwas eine Wissen-schaft (im alten Wortsinn) hat, dann kann man nicht dagegen glauben (in jedem Sinne von „glauben“), das wäre nicht wahrhaftig, man würde sich selbst belügen.
    Es scheint mir zwei Sorten von Verbindlichkeit eines Textes zu geben: (a) Für das Mitglied einer normalen Partei ist das Parteiprogramm verbindlich. Er muß es nicht für richtig halten, er darf nur nicht dagegen agieren; wenn er das will, muß er halt austreten. Das ist eine ganz nüchterne, pragmatische Angelegenheit. (b) Für einen fundamentalistischen Christen oder einen Stalinisten ist der jeweilige heilige Text sozusagen von innen her verbindlich. Er muß an ihn glauben, auch wenn er das gar nicht kann, weil sein Wissen dagegen steht. Damit lügt dieser Christ oder Stalinist so gut wie immer, vor allem vor sich selbst, und selbst da, wo er für seine Wahrheit geradezu glüht. Darum wäre ich vorsichtig, im Zusammenhang mir „der“ Bibel überhaupt das Wort Verbindlichkeit in den Mund zu nehmen. Verbindlich sind einzelne Sätze der Bibel, sofern man sie eingesehen hat.

  4. den Ball weiter zu spielen…

    Doch ein bisschen wenigstens weiter spielen. Ich sagte ja schon, dass ich jetzt nicht einfach meine fertige Antwort zum Gesamtzusammenhang bringen will. Ich möchte nichts Gesamtes vermessen und mich nicht vermessen. Und ich will jetzt auch nicht einfach Recht haben. Sondern eben etwas einwerfen – die 3 Bälle von gestern zurückspielen.
    1. Hinter Ihrer ersten Anmerkung steckt wohl die Vorstellung: Die Theologie muss, um ihr Geschäft (ihre „genuine Aufgabe“) zu betreiben, so eine Art Sonder-Ontologie betreiben – jenseits der Grenze normalen Erkennens. Ich möchte dem widersprechen: behaupten, dass das eine Falle ist, in die sich die Theologie nicht locken lassen sollte. Und ich weiß gleichzeitig, dass an dieser Falle die Theologie selbst Schuld hat – dass lange theologische Traditionen diese Falle aufgebaut haben: durch die ganze Entwicklung der Dogmatik – des Bündels an Glaubenswahrheiten, denen zuzustimmen die Christen zu oft verpflichtet wurden (widrigenfalls Bestrafung in der Hölle). Das ist katholisch noch ausgeprägter; die Reformatoren polemisierten dagegen; und sie fragten dann doch einen Sterbenden die Katechismusfragen ab – und bei korrekter Beantwortung konnten sie ihm ein seliges Sterben zusichern. Die Falle schnappte wieder mal zu :-(.
    Eine ähnliche Falle, dass die Diskussion immer wieder fataler Weise auf die falsche, die ontologische Ebene abrutscht, hat Christian Hoppe in einem nun bereits schon sehr alten Blogbeitrag gebracht: „Fußball und Gott“. Auch wenn ich nicht mit dem ganzen Artikel einig bin – den Vergleich im 5. Abschnitt finde ich immer noch für unübertroffen:

    Ein Vergleich an dieser Stelle: Ich hatte in einem früheren Kommentar einmal geschrieben, dass man jemandem, der einige persönliche Erlebnisse berichtet hat – “Ich habe dies erlebt, ich habe das erlebt” -, mitteilen könnte, dass sein Bericht sinnlos sei, weil es ein “Ich” nach Überzeugung der meisten Hirnforscher gar nicht gäbe. In dem Moment, wo der Angeschuldigte Widerstand leistet und behauptet: “Doch, natürlich gibt es ein Ich” – hat er verloren! Das Interessante ist, dass er das – was nun von der Gegenseite bestritten und von ihm verteidigt wird: “Es gibt ein Ich” – ursprünglich niemals behauptet hatte. Er hatte lediglich, grammatikalisch korrekt, das Wort “Ich” verwendet, um auf Erlebnisse zu verweisen, die speziell ihm widerfahren sind.

    Wieder diese Falle! Deshalb betone ich – kann mich auf viele (protestantische) Theologen berufen und bin doch oft allein: Es geht nicht darum eine besondere Ontologie, ein Jenseits hinter der normalen Wirklichkeit zu behaupten; sondern „in mit und unter“ (da nehme ich eine alte Sakraments-Formel) der normalen Wirklichkeit das Leben wahrzunehmen: als Geschenk, das mir zunächst unverfügbar zugeflossen ist – von dem ich dann auch einiges verantwortlich zu gestalten und weiterzugeben habe. Und das – insofern ich Christ bin – nach dem Muster, Vorbild Jesu (Stichwort Nachfolge) bzw. im Lebenszusammenhang mit dem, was mir da an Kräften zufließt und im Horizont seiner Erwartungen (nehme ich mal schnell und unvorsichtig das „Gottes Wille geschehe, wie im Himmel so (doch endlich auch) auf Erden“) Da engagiert zu sein, sich und andere mit zu engagieren – das nenne ich „Glauben“. Glaube sollte (!) sich nicht als Akrobatik in einer religiösen Sonder-Ontologie bewähren, sondern in diesem Engagement. Und dass es keine entsprechende Sondertheorie ist, hat Thorsten Moos (im 2. Abschnitt – in Ihrem Teil 3 ) auf seine Weise auf den Punkt gebracht. Es war ja auch Thema meines letzten (und nun schon ziemlich lange zurückliegenden) Blogbeitrags „Ich glaub’, ich glaube anders“.
    Ach was, es wird zu lang. Ich gehe noch zu den anderen Punkten:
    2. Natürlich – Ihr Punkt 2 – : über die Richtigkeit des Impulssatzes „macht euch die Erde untertan“ muss man diskutieren. Sie haben wohl gemerkt, dass ich den „Indianern“ da auch teilweise Recht gebe. In der Bibel gibt es auch Tendenzen in dieser Richtung: die Sabbath-Gesetze hängen wohl mit so etwas wie einer Tabu-Vorstellung gegenüber Mutter Erde zusammen. Also zeitenweise, jedenfalls am Sabbath muss man die Erde in Ruhe lassen. Das „untertan“ wurde in den verschiedenen Zeitläuften auch unterschiedlich gewertet.
    „Religiös“ wird so ein Impuls (meiner Definition nach !) nicht durch eine besondere Offenbarung, sondern dadurch, dass er für bestimmte Gruppen – für ihre Erzählungen, Moralvorstellungen, auch für eine Gruppenidentität – prägend, verbindlich… wird – dass er etwa zu den Leitmotiven dieser Gruppe gehört. Ja, Religion definiere ich nicht durch besondere Offenbarungen (auch wenn es derartige Gedanken in den abrahamitischen Religionen gibt, für die gesamte Bandbreite der Religionen dürfte dies nicht passen). Sondern eben dadurch, was Menschen an gemeinsamen Leitmotiven haben, die sie zB in gemeinsamen Riten pflegen.
    Ja – 3.: Koreaner wurden von unseren Leitmotiven nicht so geprägt. Brandenburger schon eher (warum Sie gerade diese als Gegenbeispiel nennen?!). Da habe ich wohl meinerseits auch zu brutal kurz formuliert. Es geht ja darum, dass in bestimmten Kulturzusammenhängen auch biblische Einstellungen sich prägend auswirkten (da gibt es fließende Übergänge, auf die Herr Moos doch irgendwo schon hinwies) und, hätte ich unterscheiden sollen, für Gläubige in besonderer weise verbindlich werden.
    Also jetzt zum Anspruch der Gläubigen, was für sie verbindlich ist. Da wird man tatsächlich – etwa analog zum Kommentar von Jordanus heute Abend – sagen können: Für den Gläubigen hat „die“ Bibel bestimmte Verbindlichkeit. Mit dieser gewissermaßen im Voraus schon festgelegten Verbindlichkeit ist natürlich der Glaube kein wissenschaftliches Unterfangen. Methodisch trennen möchte ich die Theologie: Sie erklärt die Verbindlichkeit, die für den Glaubenden gilt. Aber diese Erklärung ist selber keine Glaubenstätigkeit, sondern eine (geistes)wissenschaftliche. – na ja, wenigstens zum großen Teil. Die Schwierigkeit besteht natürlich darin, dass das, was ich methodisch getrennt darstelle, oft in Personalunion vereinigt ist: dass der Theologe ja auch ein Glaubender sein will; und der Glaubende, der seinen Glauben erklärt (darüber reflektiert…) , schon die ersten Schritte außerhalb macht. So wie der Tausendfüßler, der erklären will, was er da macht – er könnte stolpern. Ernsthafter: Der Tänzer, der seinen Tanz erklärt, tanzt entweder gar nicht oder demonstrationshalber, also nicht „echt“. So ist das Reden über den Glauben, also die Theologie, kein Glaube. Und sie kann (! , ist’s natürlich oft nicht) wissenschaftlich agieren, reflektieren ff – über eine Lebenseinstellung, die selber natürlich keine wissenschaftliche Aktion ist. Wenn Jesus etwa über kleinen Glauben schimpft, dann meint er nicht mangelnde wissenschaftliche Erkenntnis – war ja selber keiner – sondern mangelnden Mut, mangelndes Grundvertrauen ff – womit wir wieder beim Punkt 2 wären. Und jetzt höre ich mal wirklich auf.
    An der Länge dieses Kommentars sieht man wieder mal, warum Schnellschüsse mir nicht liegen… Sorry, so bin ich halt.

  5. @ Hermann Aichele

    Drei Anmerkungen:

    1. „Dann müssten die möglichen Lebenssituationen einigermaßen erschöpfend vollständig berücksichtigt sein. Und die Gesamtheit einschlägiger Objekte möglichst korrekt dargestellt sein: Gott und Himmel und Hölle – das Leben davor und das Leben danach“.

    Könnte man nicht sagen: für die Theologie beginnt ihre genuinen Aufgabe da, wo die theoretische und moralische Vernunft bestenfalls mit Bestimmtheit sagen können: Hier ist ein unauflösbarer Widerspruch, aber einer, dem wir nicht entgehen können, hier ist eine Grenze, hinter der noch „etwas“ ist, aber wir können in keiner Weise sagen, was, es ist ein ewiges Geheimnis? Bestimmte Philosophien würden hier sagen, daß es einfach sinnlos ist, dazu etwas zu sagen („worüber man nicht reden kann, davon soll man schweigen“). Aber wenn das Bedürfnis, hier doch nicht stehenzubleiben, nicht weniger notwendig ist als in anderen Fällen eine bestimmte Erkenntnis, dann kommt einem eine solche Antwort doch nicht befriedigend vor. Jene Philosophien sagen dann: Richtig, hier ist ein notwendiges Feld geistiger Betätigung. Man nennt es Dichtung. Gehört die Theologie dann dahin? Und würde sie das in ihrem Rang herabsetzen?

    2. Auch wenn ein Satz wie „Macht euch die Erde untertan“ nur als ein „Impulssatz“ und nicht als eine Gebrauchsanweisung zu nehmen ist, so bleibt doch die Frage, ob der Satz wahr (moralisch richtig) ist und nicht etwa jene Indianerweisheit, die das Pflügen verbietet. Das ist aber eine Frage der Ethik, damit eine Frage an die Vernunft. Eine „religiöse“ Frage wird daraus nur, weil man annimmt, derartige Sätze seien irgendwie „offenbart“, und zwar nicht in dem Sinn, daß das etwas ausgesprochen wird, was unserer Vernunft zugänglich ist, nur eben so, da man sagen muß: darauf wären wir nie gekommen, die Erkenntnis ist sozusagen vom Himmel gefallen; sondern so, daß da etwas ausgesprochen ist, dessen Wahrheit wir nicht selber herausfinden können, sondern eben auf diese Offenbarung angewiesen sind und sie einfach glauben müssen.

    3. „Dass gerade diese biblischen Deutungen auf uns gekommen sind – sicher ist vieles daran kontingent. Aber es ist darum nicht beliebig. Sondern das kulturelle Material, mit dem wir zu arbeiten haben.“
    Aber biblischen Deutungen sind ja nur für manche das kulturelle Material, für die Koreaner und die Brandenburger nicht. Daß der Satz von Antoine de Saint-Exupéry im Gesangbuch steht, zeigt, daß man in der Kirche da etwas zu verstehen beginnt.
    Aber vor allem: In meiner Antwort auf Herrn Moos (2. Teil) habe ich darauf hingewiesen, daß der Anspruch der Gläubigen dann, wenn sie sich einer „Heiligen Schrift“ bedienen, ja keineswegs nur ist, daß sie nun mal das kulturelle Material (in unserer Kultur) ist.

  6. Nicht fertige Antworten – Impulse

    Alle Achtung, mit diesem Briefwechsel ist ja ein großes Thema angestoßen. Dem kann, darf ich mich natürlich nicht entziehen. Die Trackbacks verweisen darauf, dass ich mich auf diesem Feld auch schon bewegt habe. Danke! Aber das Feld ist groß; und auf der ganzen Weite dieses Feldes kann und mag ich jetzt nicht Pflöcke einhauen. Ich könnte mich vermessen 😉 Thorsten Moos überblickt da sicher einiges mehr, und er hat das begriffliche Handwerkzeug eher parat.
    Trotzdem jetzt meinerseits freihändig ein Einwurf:
    Ein Teil der Denkschwierigkeiten wird daher kommen, wenn man theologischen Aussagen unterstellt, sie müssten fürs Leben eine ähnliche Funktion haben wie Betriebsanweisungen etwa in der Botanik oder der Landwirtschaft: wenn dieser oder jener Fall eintritt, dann tu dies oder das und plane folgendermaßen… Dann müssten die möglichen Lebenssituationen einigermaßen erschöpfend vollständig berücksichtigt sein. Und die Gesamtheit einschlägiger Objekte möglichst korrekt dargestellt sein: Gott und Himmel und Hölle – das Leben davor und das Leben danach…
    Da allerdings müsste man fragen: Was sollen alte Gebrauchanweisungen und veraltete Ontologien, Katalogisierungen von Vorstellungen? Wären nicht neuzeitlichere und wissenschaftlichere Gebrauchsanweisungen von Vorteil…?
    Allerdings, bevor ich da nach außen einen Vorwurf machen würde, muss ich feststellen: Derartige Tendenzen gibt es natürlich zuerst einmal innerhalb der Theologie. Mit dem Anspruch, letztgültige Antworten auf alle Fragen zu haben. Die biblischen und kirchengeschichtlichen Texte, um die sich Theologen bemühen, entsprechen ja oft noch diesen Denkstrukturen. Aber auch die Theologie muss darüber hinaus wachsen. Sie soll nicht mehr meinen, abschließende Antworten parat zu haben.

    Dazu könnte folgender Gedanke helfen – am Beispiel des bekannten Satzes aus dem großen Schöpfungsgedicht 1. Mose 1: „Macht euch die Erde untertan“. Der Satz ist ja keine ausgebaute Gebrauchsanweisung, man kann keine bestimmten Handlungen daraus ableiten. Er muss sich auch nicht an dieser oder jener wissenschaftlichen Erkenntnis messen lassen. Er ist eher ein Impuls-Satz, der eine bestimmte Sichtweise der Welt verdeutlicht. Einerseits will er dazu provozieren, die Welt als Gestaltungsaufgabe zu sehen: Macht was draus. Andererseits kommt er schon aus einer bestimmten Sichtweise: Diese Welt ist keine Tabu-Zone, man kann was draus machen.
    Zum Vergleich: Das, was man von Indianern erzählt (ich mag jetzt nicht eruieren, wie idealisiert, romantisiert), der Mutter Erde dürfe man nur mit Ehrfurcht begegnen, sie sei heilig, in gewissem Sinne verletzte schon das Pflügen die Erde… – das hat dann schon eine bestimmte eigene, eine andere Wirkung: zum Teil positiv, dann aber auch handlungslähmend. Umgekehrt ambivalent der Satz aus der Bibel: Alles ist möglich – der Mensch kann sich alles herausnehmen. Der Mensch? Nein, die Tüchtigsten reißen sich zuviel unter den Nagel.
    Diese Ambivalenzen werden wohl bei der Tagung zur Sprache gekommen sein. Dann geht es aber nicht mehr nur um die Richtigkeit dieses oder jenes Satzes, sondern darum: welche Lebensentwürfe wir mit solchen Sätzen bilden – bzw. welche Formen der Daseinsgestaltung mit solchen Sätzen verbunden sind. Es werden nicht Antworten bereitgestellt, sondern Fragehorizonte aufgerissen.
    In unserem Gesangbuch (!) wird der schöne Satz von Antoine de Saint-Exupéry angeführt:

    Wenn du ein Schiff bauen willst, so trommle nicht Leute zusammen, um Holz zu beschaffen, Werkzeuge vorzubereiten, Aufgaben zu vergeben und die Arbeit einzuteilen; sondern wecke in ihnen die Sehnsucht nach dem weiten, endlosen Meer.

    So möchte ich die biblischen Sätze verstehen: Nicht als Ingenieurs-Anweisung (die muss tatsächlich auf dem wissenschaftlich modernsten Stand sein), sondern als Motivationszusammenhang, als Deutung unseres Lebens mit seinen Fragen und Anforderungen. Auch als Provokation von Träumen.
    Dass gerade diese biblischen Deutungen auf uns gekommen sind – sicher ist vieles daran kontingent. Aber es ist darum nicht beliebig. Sondern das kulturelle Material, mit dem wir zu arbeiten haben. Und sehen, was wir verantwortlich daraus machen können. Und zwar eben (auch in der Theologie) nicht nur im Betrachten von mehr oder weniger richtigen Sätzen, sondern im Blick auf die Leute: Wozu sind sie motiviert, wozu könnten sie motiviert werden?

  7. @ AnoNym

    “„in den religiösen Texten könnten Einsichten verborgen sein, die der Philosophie aus systematischen Gründen oder zufällig entgangen sind“
    Gilt das nicht auch für die nicht-religiösen Texte des Johannes Mario Simmel? Und was folgt daraus?”

    Ganz einfach: Es ist gut, daß es Disziplinen wie Literaturwissenschaft gibt. Da befaßt man sich u.a. mit allerlei Einsichten, die der Philosophie aus systematischen Gründen oder zufällig entgangen sind.

    Nun gibt es unter den Einsichten, die die Menschheit so gewonnen hat in ihrer Geschichte, auch welche, die man „religiös“ nennt (neben vielem, was man auch religiös nennt, was aber den Titel Einsichten nicht verdient). Und um Texte, die diese Einsichten enthalten, kümmert sich die Theologie, und ihre Daseinsberechtigung erhält sie daraus, daß der Philosophie, die eigentlich dafür zuständig wäre, diese Einsichten aus systematischen Gründen oder zufällig entgangen sind. Das wird Habermas, von dem die obige Behauptung ja (sinngemäß) ist, wohl gemeint haben. Das finde ich einleuchtend.

    Nun kann man aber fragen: Was ist mit den RELIGIÖSEN Texten von Simmel und von Tausenden anderer Schriftstellern? Damit meine ich nicht die Texte, in denen man sich auf die Bibel bezieht oder auf kirchliche Dogmen, die dürften von den Theologen schon bemerkt werden. Aber um Schuld und Sühne, um die Angst vor der Sinnlosigkeit, um Liebe und Tod und Treue und Hoffnung, sofern sie das übersteigt, was in „der Welt“ möglich ist, und was man sonst noch alles religiöse Themen nennen könnte, die der Philosophie entgangen sein könnten, geht es doch keineswegs nur in der Bibel und in den Texten, die sich explizit auf sie beziehen, sondern an allen Ecken und Enden in der Literatur und im Leben. Wäre der Theologie nicht eher vorzuwerfen, daß sie sich um das meiste, was ihr Gegenstand wäre, systematisch nicht kümmert?

  8. Und Jesus ging zum Regenbogen

    in den religiösen Texten könnten Einsichten verborgen sein, die der Philosophie aus systematischen Gründen oder zufällig entgangen sind,

    Gilt das nicht auch für die nicht-religiösen Texte des Johannes Mario Simmel? Und was folgt daraus?