Medea mal drei

BLOG: Labyrinth des Schreibens

Die Suche nach dem roten Faden
Labyrinth des Schreibens

Im vergangenene Jahr schien eine regelrechte Welle von Kindstötungen über Deutschland hinwegzugehen. Genauere Betrachtung der betreffenden Statistik hätten wohl gezeigt, dass diese schrecklichen Ereignisse keineswegs zugenommen haben – nur entdeckt wurden sie gehäuft.

Doch das Thema ist der Aufmerksamkeit der Medien wie ihrer Konsumenten naturgemäß todsicher. Und aktuell ist es immer. Man braucht nicht nur an die heute geradezu medizinischer Standard gewordenen Abtreibungen zu denken (die ja juristisch wie medizintechnisch gar keine Kindstötungen sind – aber religiös betrachtet schon, jedenfalls für den Papst).

Mir fällt spontan der ungeheure Fall der Magda Goebbels ein, die gegen Kriegsende im Führerbunker zu Berlin ihre sieben kleinen Kinder eigenhändig mit Gift umbrachte, um sie vor den Schrecken der nachhitlerschen Welt, sprich: Demokratie zu bewahren.

Mir fällt sofort auch Goethes Faust ein, mit dem armen Gretchen (für das nach heutiger Kennntis ein historischer Fall von Kindstötung mit anschließender Hinrichtung der unglückseligen Mutter in Frankfurt Modell stand).

Aber stets besinnt man sich auch jener rasenden Megäre Medea, die ihre Kinder ermordete, um sich an Jason zu rächen. Jene Medea, die in Athen Stiefmutter des Theseus wurde und diesen beinahe mit einem Giftbecher auch noch ins Jenseits befördert hätte. Womit sie in den dritten der Fünf Kreise der Labyrinthiade gehört.

Sehr aufschlussreich ist ein Interview, das der Spiegel mit der Literaturwissenschaftlerin Elisabeth Bronfen von der Uni Zürich über das Thema “Mutterliebe” und die “kulturbedingten Gründe und Abgründe von Kindstötungen” führte (Oehmke 2008).

Bronfen: Medea ist ein interessantes Beispiel, denn man kann diesen Mythos verschieden lesen. Die Lektüre von Medea aus feministischer Perspektive würde sagen, dass Medea in einer verzweifelten Lage das Einzige, was sie hat – ihre Mutterschaft -, nutzt, um ihren untreuen Mann Jason zu bestrafen. Sie tötet sein Fleisch und Blut und damit auch ein Stück von ihm. Das kann man als großartige, tragische, aber auch sehr rationale Geste der Auflehnung lesen, einerseits.
SPIEGEL: Und die andere Lesart?
Bronfen: Wenn man sich Pier Paolo Passolinis Medea anschaut, wo Maria Callas als Medea wie eine Irrsinnige herumrennt, wird die andere Seite der Medea deutlich: In unserer immer noch patriarchalen Kultur entspricht Medea der Erwartung, die zerstörerische Seite der Natur zu repräsentieren.

 

Aktualität des Medea-Motivs

Focus nannte einen Fall von fünffacher Kindstötung Ende 2007 “Tötung aus Rache: Das Medea-Syndrom” (Berendt et al 2007)

In der Zeitschrift TV Spielfilm (Nr. 26/2007) unterhält sich die deutsche Regisseurin Nicolette Krebitz mit ihrem Förderer Tom Tykwer über ihren aktuellen Film Das Herz ist ein dunkler Wald:

Krebitz: “Für mich ist der Film wie ein Theaterstück, und das nicht nur, weil in der Geschichte der archaische Mythos der Medea steckt.”
TV-Spielfilm: “Die Geschichte der betrogenen Ehefrau, die auf Rache sinnt . . .”
Tykwer: “Genau.”

In der ausführlichen Rezension des Films in der Süddeutschen Zeitung heißt es an einer Stelle außerdem: “Nina Hoss mag ihren Augen nicht trauen, als sie sich erneut in einem Labyrinth der Träume wiederfindet.”

Und dann ist da drittens noch die hochgelobte Aufführung von Mamma Medea: Stephan Kimmigs als “sensationell” bezeichnete Inszenierung von Tom Lanoyes Theaterstück an den Münchner Kammerspielen. Hier Zitate aus Christopher Schmidts Rezension, aus der man zugleich einiges über den Plot das antik-modernen Stoffes erfährt:

Medea, die mythische Monstermutter, die beide Kinder mordet, um ihren untreuen Mann zu strafen. Vor drei Jahren inszenierte Stephan Kimmig Grillparzers Medea-Trilogie Das Goldene Vließ am Wiener Burgtheater, vor zwei Jahren spielte Sandra Hüller im selben Stück die Titelrolle am Theater Basel. Nun haben Kimmig und Hüller für Tom Lanoyes Bearbeitung des Medea-Stoffes in München glücklich zueinandergefunden, sozusagen auf halber Strecke zwischen Basel und Wien, und es wirken sensationelle Synergieeffekte auf der Bühne der Kammerspiele, die ihre Mamma Medea zu einem Ereignis machen.

[…] Bis an die Zähne munitioniert mit Mythen-Material greift Lanoye weit in die Vorgeschichte zurück. Wie schon Grillparzer lässt er die Handlung mit der Landung der Argonauten auf Kolchis beginnen. Gekommen sind sie, um ein von den Barbaren geraubtes Stück Beutekunst, das Goldene Vließ, zurückzuholen, dessen Besitz Jason den Thron in Jolkos sichern soll.

[…] die Münchner Mamma Medea lebt von der präzisen emotionalen Seismographie der Schauspieler, die ihre tragische Wucht im zweiten Teil nach der Pause entwickeln. Die Handlung auf Kolchis, da Medea und Jason sich kennen- und lieben lernen, absolviert Kimmig als gerafften Vorspann dessen, was bisher geschah. Die Insel ist im Bühnenbild von Katja Haß eine verfremdete Tempelruine aus den Rigips-Verschalungen des modernen Billigbaus. Säulenrelikte als Wandelemente deuten ein labyrinthisches Machtgebilde an, in dem Aietes als sizilianischer Pate mit Borsalino und im Nadelstreifenanzug herrscht.

Quellen
Berendt, T. et al: “Wenn alle Bilder täuschen”. In: Focus Nr. 50 vom 10. Dez 2007 (altern. Titel: “Tötung aus Rache: Das Medea-Syndrom”
Oehmke, Philipp: “Mutterliebe ist ein Konstrukt” (Interview mit Elisabeth Bronfen). In: Der Spiegel Nr. 51 vom 17. Dez 2007
Schmidt, Christopher: “Ein Bürgerkrieg namens Liebe “. In: Südd. Zeitung vom 10. Dez 2007
Sternenborg, Anke : “Medea aus dem Reihenhaus” (Rezension von “Das Herz ist ein dunkler Wald”). In: Südd. Zeitung vom 31. Dez 2007 

Noch ein Tag bis zum Einsendeschluss für den Erzähl-Wettbewerb “Labyrinth – närrische Tage”!

Schauen Sie doch auch mal in die früheren Beiträge dieses Blog rein! Hilfreich könnte vor allem die Vorbemerkung zu diesem Labyrinth-Blog sein.

  • Veröffentlicht in: Medea

"Zwei Seelen wohnen a(u)ch in meiner Brust." Das Schreiben hat es mir schon in der Jugend angetan und ist seitdem Kern all meiner Tätigkeiten. Die andere „zweite Seele“ ist die praktische psychologische Arbeit plus wissenschaftlicher Verarbeitung. Nach dem Psychologiestudium seit 1971 eigene Praxis als Klinischer Psychologe. Zunächst waren es die Rauschdrogen, die mich als Wissenschaftler interessierten (Promotion 1976 mit der Dissertation "Der falsche Weg zum Selbst: Studien zur Drogenkarriere"). Seit den 1990er Jahren ist es das Thema „Hochbegabung“. Mein drittes Forschungsgebiet: Labyrinthe in allen Varianten. In der Themenzentrierten Interaktion (TZI) nach Ruth C. Cohn fand ich ein effektives Werkzeug, um mit Gruppen zu arbeiten und dort Schreiben und (Kreativitäts-)Psychologie in einer für mich akzeptablen Form zusammenzuführen. Ab 1978 Seminare zu Selbsterfahrung, Persönlichkeitsentwicklung und Creative Writing, gemeinsam mit meiner Frau Ruth Zenhäusern im von uns gegründeten "Institut für Angewandte Kreativitätspsychologie" (IAK). Als "dritte Seele" könnte ich das Thema "Entschleunigung" nennen: Es ist fundamentaler Bestandteil jeden Schreibens und jedes Ganges durch ein Labyrinth. Lieferbare Veröffentlichungen: "Kreatives schreiben - HyperWriting", "Kurzgeschichten schreiben", "Das Drama der Hochbegabten", "Zeittafel zur Psychologie von Intelligenz, Kreativität und Hochbegabung", "Blues für Fagott und zersägte Jungfrau" (eigene Kurzgeschichten), "Geheimnis der Träume" (Neuausgabe in Vorbereitung). Dr. Jürgen vom Scheidt

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