Re-Joyce

BLOG: Con Text

Wörter brauchen Gesellschaft.
Con Text

Es ist wieder so weit, Bloomsday steht vor der Tür. Am 16. Juni werden wieder viele Leser James Joyce ehren, indem sie den Schritten einer der Hauptfiguren aus Ulysses folgen. Leopold Bloom erlebt am 16. Juni 1904 einen ganz normalen Frühsommertag in Dublin – er geht einkaufen, zu einer Beerdigung, unterhält sich mit Geschäftsfreunden und Bekannten, geht seinem Job als Anzeigenverkäufer nach, denkt über seine Ehe nach. Er besäuft sich, torkelt gemeinsam mit der zweiten männlichen Hauptfigur, dem jungen Schriftsteller Stephen Dedalus, nachts nach Hause und legt sich ins Bett.

Soweit der Plot. Nachdem der Großteil des Romans sich auf die männlichen Dubliner konzentriert hat, Frauen nur aus ihrer – im Wesentlichen sexuell orientierten – Sicht gezeigt hat, ist das letzte Kapitel Molly Bloom gewidmet. Es ist die vermutlich bekannteste Passage des Romans, zum einen, weil es keine Interpunktion gibt. Und natürlich wegen der sexuellen Fantasien Mollys. Wie ein Englischlehrer einmal zu uns sagte:

Da müsst ihr erst vernünftige Grammatik reinbringen, wenn ihr die Schweinereien lesen wollt.

Endlich frei

Seit Beginn dieses Jahres sind die meisten Werke James Joyce’ gemeinfrei, d.h. jeder kann eigene Ausgaben auf den Markt bringen, solange er sich nicht an jenen vergreift, die mehr oder weniger großzügig editiert wurden. So wurde in den 1980ern eine Version von Ulysses auf den Markt gebracht, die vom Münchner Anglisten Hans Walter Gabler korrigiert worden war. Unabhängig davon, wie gut die Korrekturen sind, dürfte diese Ausgabe nicht ohne Einwilligung Gablers verbreitet werden.

Allerdings gibt es gute Einwände, die Ausgabe ohnehin nicht in Betracht zu ziehen. John Kidd verfasste bereits 1988 eine ausführliche, aber nicht vollständige, Kritik, die sowohl einzelne Problemfälle aufzeigte wie auch das Grundunterfangen als fehlerhaft bezeichnete.1 Eine sehr viel umfangreichere Kritik von ihm wurde gleichzeitig in einem Fachjournal veröffentlicht.2

Für die, die mit James Joyce bisher nichts zu tun hatten, ist es wichtig zu wissen, dass seine Werke, speziell Ulysses und das spätere Finnegan’s Wake voller Anspielungen auf Dublins und Irlands Geschichte stecken, literarische Späße in mehreren Ebenen, Spott über Bekannte und und und enthält. Seine Grammatik ist ausgefeilt, aber nicht an der Hochsprache orientiert, sondern an der sprunghaften Art unseres Denkens – Effekt ist für ihn wichtig, nicht Regelkonformität. Wie Dickens, Shakespeare, Chaucer und viele andere vor ihm, scheut er nicht vor Wortschöpfung und Idiosynkrasien zurück. Außerdem klemmt er so ziemlich jede literarische Form, jede Sprach- und Stilebene in seinen Ulysses.

Joyce selbst wird zitiert

I have put […] so many enigmas and puzzles [into Ulysses] that it will keep the professors busy for centuries arguing over what I meant, and that’s the only way of ensuring one’s immortality.3

Hat er das Buch nur für die Intelligentsia geschrieben?

Entdeckungsreise

Sicher ist, dass Ulysses kein Potboiler ist, er ist nicht plotorientiert, lässt sich nicht an einem oder zwei Abenden weglesen wie Suzanne Collins oder J.K. Rowling. Der Leser fragt sich nicht dauernd, wie die Figuren aus einer brenzligen Situation herauskommen. Es wird ihm keine simple Exposition geboten, die Charaktere sind rund und im Rahmen der Möglichkeiten vollständig, sie eignen sich nicht für die Identifikation.

Das ist durchaus interessant, würde man doch das Gegenteil erwarten. Immerhin beleuchtet Joyce die Mitte der Gesellschaft, die Mittelschicht, er gestaltet seine Personen zu echten Menschen. Genau das lässt eine Identifikation nur schwer zu, wir haben es nicht mit Chiffren wie James Bond zu tun, die wir leicht als Projektionsfläche nutzen können. Die kleinen Schwächen, Fehler und Macken Leopolds, Mollys, Stephens sowie all der anderen Auftretenden sind zu normal, zu weit weg von den Ticks, die in Bestsellern so gerne für Persönlichkeit ausgegeben werden.

Auch sprachlich und strukturell ist der Roman anstrengend, es wird vom Leser erwartet mitzudenken, manchmal auch, etwas nachzuschlagen. Wie Christian Köllerer es ausdrückt

Man sagte Joyce nach, dass er ein ungewöhnliches gutes Gedächtnis hatte. Ein solches ist auch bei der Lektüre des Romans hilfreich, um auch nur in Ansätzen diesen Bezügen folgen zu können.4

Zum Glück gibt es etwas, das wir heute crowd sourcing nennen. In Prä-Internet-Zeiten waren es Bibliotheken und literaturwissenschaftliche Kongresse, die Wissen oder Vermutungen sammelten und austauschten. Es dürfte kaum einen einzelnen Menschen geben, der all die Verweise und Wortspiele in Ulysses alleine aufdecken und parat haben kann. Ich wage zu sagen, dass es auch heute noch unentdeckte Preziosen zu finden gilt. Nach inzwischen erheblich über 90 Jahren Interpretation und Forschung.

Einfach schwierig

Wie der Streit zwischen Kidd und Gabler zeigt, ist Ulysses bereits im Original sprachlich höchst anspruchsvoll: Handelt es sich bei einer Schreibweise, die nicht regelkonform ist, um einen Fehler des Setzers? Hat Joyce selbst ein Wort falsch geschrieben, weil er es nicht besser wusste? Oder handelt es sich doch um eines seiner mehrbödigen Wortspiele?

Noon slumbers. Kevin Egan rolls gunpowder cigarettes through fingers smeared with printer’s ink, sipping his green fairy as Patrice his white. About us gobblers fork spiced beans down their gullets. Un demi setier! A jet of coffee steam from the burnished caldron. She serves me at his beck. Il est irlandais. Hollandais? Non fromage. Deux irlandais, nous, Irlande, vous savez ah, oui! She thought you wanted a cheese hollandais. Your postprandial, do you know that word? Postprandial. There was a fellow I knew once in Barcelona, queer fellow, used to call it his postprandial. Well: slainte! Around the slabbed tables the tangle of wined breaths and grumbling gorges. His breath hangs over our saucestained plates, the green fairy’s fang thrusting between his lips. Of Ireland, the Dalcassians, of hopes, conspiracies, of Arthur Griffith now, A E, pimander, good shepherd of men. To yoke me as his yokefellow, our crimes our common cause. You’re your father’s son. I know the voice. His fustian shirt, sanguineflowered, trembles its Spanish tassels at his secrets. M. Drumont, famous journalist, Drumont, know what he called queen Victoria? Old hag with the yellow teeth. Vieille ogresse with the dents jaunes. Maud Gonne, beautiful woman, La Patrie, M. Millevoye, Felix Faure, know how he died? Licentious men. The froeken, bonne a tout faire, who rubs male nakedness in the bath at Upsala. Moi faire, she said, Tous les messieurs. Not this Monsieur, I said. Most licentious custom. Bath a most private thing. I wouldn’t let my brother, not even my own brother, most lascivious thing. Green eyes, I see you. Fang, I feel. Lascivious people.

The blue fuse burns deadly between hands and burns clear. Loose tobaccoshreds catch fire: a flame and acrid smoke light our corner. Raw facebones under his peep of day boy’s hat. How the head centre got away, authentic version. Got up as a young bride, man, veil, orangeblossoms, drove out the road to Malahide. Did, faith. Of lost leaders, the betrayed, wild escapes. Disguises, clutched at, gone, not here.

Dieser Abschnitt stammt aus dem 3. Kapitel, ist der Gedankenfluss5 Stephens, der dort durchgängig benutzt wird. Sicherlich nicht der beste Startpunkt für die Lektüre [s.u.]. Die Passage verdeutlicht aber einige der Schwierigkeiten für Leser, Lektoren, Literaturwissenschaftler und Übersetzer – ist die Schreibweise ‘caldron’, die Joyce verwendet, eine zu seiner Zeit in Dublin übliche? Benutzt er sie, um etwas über den jungen Schriftsteller Dedalus zu sagen? Ist es eine Idiosynkrasie, ein Übertragungsfehler des Setzers, eine tiefsinnige Anspielung [z.B. auf eine obskure Ausgabe Shakespeares Macbeth]? Oder benutzt die Website, von der ich den Text zog, eine US-amerikanische Ausgabe mit angepasster Rechtschreibung? Die britische Standardschreibweise lautet ‘cauldron’, die oben verwendete ist aber auch im UK nicht falsch.

Wenn sich bereits die Fachleute uneins sind, welche Manuskript- oder Druckfassung Joyce Intention korrekt wiedergibt, was soll dann ein Übersetzer machen, der zusätzlich noch entscheiden muss, welchen originalen Witz er weg lässt und an welcher Stelle er dafür einen aus der Zielsprache einsetzt?6

Seriell gelesen

Aber.

Wir machen es uns manchmal auch absichtlich schwer. Selbstverständlich ist Ulysses keine leichte Lektüre – noch viel weniger Finnegan’s Wake. Wer aber gerne aktiv liest, wer Spaß an Sprache hat, wer keine Schwierigkeiten damit hat, ein Buch auch einmal für längere Zeit zur Seite zu legen und sich mit anderen Büchern zu beschäftigen, der sollte dieses Epos des Durchschnittsmenschen als Helden zur Hand nehmen. Am besten im Original, denn eine Übersetzung kann dem Werk nicht gerecht werden.

Sehen Sie Ulysses als eine in Buchform gegossene HBO-Serie wie Game of Thrones oder The Sopranos, mit weniger Gewalt, aber durchaus reichlich Sex. Joyce Roman lässt sich wie eine der neueren, breit angelegten US-Serien rezipieren: Die Kapitel sind in sich geschlossene Episoden, die sich in einen dünnen story arc einbinden. Ähnlich wie bei Mad Men können die Kapitel für sich gelesen werden, auch wenn die volle Tragweite einiger Elemente erst erkannt wird, kennt man die gesamte Geschichte.

Lesen Sie zu Beginn einzelne Kapitel, vielleicht sogar häppchenweise. Starten Sie dafür nicht gerade mit der dritten oder achtzehnten Episode, deren konsequenter Gedankenfluss der entsprechenden Erzählerfigur – Stephen Dedalus in der dritten, Molly Bloom in der achtzehnten – sehr abschreckend sind. Versuchen Sie auch nicht, dauernd Parallelen zwischen Homers Odyssee und Joyce Roman zu ziehen. Die Verbindungen sind, mit Ausnahme der Idee, den modernen Menschen in seiner täglichen Reise durch eine ihm unbekannt bleibende Welt dem klassischen Helden gleichzusetzen, sehr subtil und eher parodistischer Natur.

Molly, als moderne Vertreterin Penelopes ist beispielsweise alles andere als standhaft, wenn es um Annäherungsversuche anderer Männer geht. Ihre sexuellen Fantasien erstrecken sich bis zu Stephen, der für Telemachos steht.

Alltägliche Spannung

Eine der vielen Erkenntnisse, die James Joyce uns mit seinen Dubliners7 und Ulysses gebracht hat, ist, dass fesselnde, spannende Geschichten sich nicht nur ergeben, wenn ungewöhnlichen Menschen Ungewöhnliches passiert – klassische Helden- und moderne Superheldengeschichten – oder wenn gewöhnliche Menschen in ungewöhnlichen Situationen geraten, wie wir es in Thrillern John Buchans oder in Filmen Hitchcocks sehen. Das Gewöhnliche im Gewöhnlichen fordert unsere Sicht aufs Leben heraus, was ungleich spannender ist, als nur die eigene eingeschränkte Perspektive bestätigt zu erhalten.

 

Eine sehr preisgünstige, aber für den Nur-Leser ordentliche James-Joyce-Ausgabe als ePub oder für Kindle gibt es bei Delphi Classics.

 

Zielkonflikte zwischen Urheberrecht und Wissenschaft am Beispiel James Joyce:

International James Joyce Foundation

Notes:
2. John Kidd, ‘An Inquiry into Ulysses: The Corrected Text‘. in: Papers of the Bibliographical Society of America, Dezember 1988. [Dank an Janina Wildfeuer, die mir dies zur Verfügung stellen konnte]
3. zitiert nach einer Rezension in The Oxonian Review.
5. Ich bevorzuge diese Übersetzung des englischen stream of consciousness vor dem üblicherweise verwendeten ‘Bewusstseinsstrom’, da er offen lässt, ob diese Gedanken und Assoziationen wirklich bewusst ablaufen.
6. Meines Wissens gibt es zwei deutsche Übersetzungen, über deren Qualität ich nichts sagen kann. Die ältere von Georg Goyert war, lt. deutscher Wikipedia, von James Joyce autorisiert [was nichts bedeuten muss]; Hans Wollschlägers Neuübersetzung gibt es mit ausführlichem Kommentar.
7. Einen erheblich einfacheren Einstieg in James Joyce’ Werk erhalten Sie mit dem Band Dubliners, in dem 15 kurze Episoden mit wechselnden Figuren das Leben der Mittelschicht in Dublin kurz nach der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert beleuchten.

Nach dem Abitur habe ich an der Universität Hamburg Anglistik, Amerikanistik, Soziologie und Philosophie studiert. Den Magister Artium machte ich 1992/93, danach arbeitete ich an meiner Promotion, die ich aus verschiedenen Gründen aufsteckte. Ich beschäftige mich meist mit drei Aspekten der Literatur: - soziologisch [Was erzählt uns der Text über die Gesellschaft] - technisch [Wie funktioniert so ein Text eigentlich] - praktisch [Wie bringen wir Bedeutung zum Leser] Aber auch theoretische Themen liegen mir nicht fern, z.B. die Frage, inwieweit literarische Texte außerhalb von Literatur- und Kunstgeschichte verständlich sein müssen. Oder simpler: Für wen schreiben Autoren eigentlich?

2 Kommentare

  1. Entspannter Lesen

    Ja, danke für diese Anregung. Ohne die Schwierigkeiten zu verharmlosen, wird hier die Bildungskeule in den Sack gesteckt. Und siehe da: Lesen macht Spaß.

  2. Ulysses und die Relativitätstheorie

    kennt jeder, auch wenn er recht wenig davon versteht. Viele literarische Werke gehören zum Bildungskanon und da sie immer wieder erwähnt und zitiert werden, werden sie zu Fixpunkten mit denen man vieles verbindet und assoziiert obwohl man sie im Detail kaum kennt. Irgendwie gehören diese Werke zu einem ähnlichen Universum wie die Celebrities, Tycons und xxx-Preisträger, die jeder kennt (Bill Gates, George Soros, der Papst, Nelson Mandela).

    James Joyce scheint geahnt zu haben, dass sein Werk einmal zum Bildungskanon gehören wird. Und nicht zufällig heisst sein Werk nicht nur “Ulysses”, sondern es hat auch vielfältige Bezüge zur Odyssee, einem anderen Werk das zum Bildungskanon gehört. James Joyce Ulysses gibt es also auch für die, die das Buch nie gelesen haben. Und zugleich hat das Werk viele andere Werke beeinflusst. Es wurde also auch gelesen und verarbeitet und wiederverwertet und gehört somit in vielfältiger Weise zum Bewusstseinstrom unserer Zivilisation.