Lesen Sie Bücher oder DRM?

BLOG: Con Text

Wörter brauchen Gesellschaft.
Con Text

eBooks stehen in vielerlei Hinsicht Software näher als richtigen Büchern der Gutenbergtradition, so erwirbt man keinen Datenträger, der zu jedem gegebenen Zeitpunkt nur von einer Person benutzt werden kann, sondern eine Lizenz für den Inhalt einer oder mehrerer Dateien.

Durch die gestern bekannt gewordene Amazon-Aktion gegen eine norwegische Kundin ist Digital Rights Management wieder einmal ins Gespräch gekommen. Das ist ein Bündel unterschiedlicher technischer Verfahren, um Rechte, die dem eBook-Lizenznehmer von Autor und Verlag eingeräumt werden, zu kontrollieren. Da geht es darum, ob er die Datei weitergeben kann, auf wie vielen und welchen Geräten die Bücher gelesen werden dürfen, ob Texte rauskopiert werden können und und und.

Recht gemanaged

Der Blogbeitrag, der die Diskussion und eine ganze Menge negativer Kommentare zu Amazon ins Rollen brachte, warf leider einige Dinge durcheinander und hatte auch sonst Schwierigkeiten mit den Fakten. So wurde, wie sich inzwischen herausstellte [s.a. den Beitrag im ersten Link], der Kindle nicht etwa gelöscht, sondern war vor der Kontosuspendierung kaputt gegangen. Auslöser für Amazons automatische Prozesse war möglicherweise eben die Bestellung eines neuen Kindles. Was genau passiert ist, bleibt auch heute, nachdem Amazon das Kundenkonto wieder hergestellt hat, im Dunkeln, da das Unternehmen nichts weiter verlauten lässt.

Mit DRM im engeren Sinne hat das ganze allerdings nichts zu tun, sondern mit den AGB und Verträgen Amazons gegenüber  Kunden. DRM ist eine Forderung der [Groß]Verlage, für Amazon ist es egal, ob sie Bücher mit oder ohne ein solches Management verkaufen. Zwar ist es Amazon durch Fernzugriff auf den Speicher von Kindles möglich, diese ganz oder teilweise zu löschen — was hier nicht gemacht wurde!

Man kann sich diverse konkrete Gründe ausdenken, warum der Versandhändler dies macht. Bisher gab es einen bekannten Fall, in dem Amazon bei diversen Käufern ein Buch löschte, das vom Hersteller illegal angeboten worden war. Ich kann mir vorstellen, es würde dasselbe gemacht, wenn jemand ein eBook bei Amazon kauft und dann die Kreditkartentransaktion rückgängig machen lässt, also im Prinzip den Händler beklauen möchte. Sicherlich haben die Anwälte der Firma auch noch viele, viele andere Fälle in den AGB hinterlegt, um auf der sicheren Seite zu sein. Wie alle anderen auch — Apple, Google, Barnes & Noble, Thalia …

Das Fiasko

Die Kontolöschung, die mittelbar Einfluss auf die Lesbarkeit korrekt lizensierter eBooks hat, weil keine Sicherungskopie [für Kindle for PC/Mac] bzw. kein funktionierender Kindle vorhanden war, ist für Amazon ein Customer Relationship Fiasko, das sich durchaus zu einem Marketing Desaster entwickeln könnte.

Da gab es ein Konto, dessen Inhaber möglicherweise massiv gegen Amazons AGB verstoßen hatte, und das auf nicht klar nachvollziehbaren Wegen mit dem Konto der norwegischen Leserin verbunden war. Es wird spekuliert, dass es mit dem gebraucht erhaltenen Kindle zu tun hatte. Der eine oder andere hat vielleicht schon einmal Erfahrungen mit nicht ganz sauber agierenden Amazon Marketplace Anbietern gemacht. Da schreien wir sofort und zu Recht nach Schließung von Betrügerkonten.

Vielleicht ist genau das hier passiert. Das Problem liegt in den automatisierten Prozessen eines weltweit auftretenden, riesigen Unternehmens, mit Millionen Kunden und entsprechend hohen Transaktionszahlen am Tag. Der Ablauf bei Amazon führte zusammen mit der unter Umständen legitimen Sperrung eines Kontos zur Sperrung des zweiten, harmlosen, Kontos, vermutlich, weil der Kindle nicht sauber übertragen wurde.

Der Kundenservice lief dann ebenso automatisiert ab, Textbausteine wurden zusammengestöpselt, nur nachgedacht wurde nicht. Spätestens beim zweiten Kontaktversuch der Kundin hat der Kundenservice dann verkackt, weil er weiter automatisiert ablief, statt Warnsignale zu erkennen und das ganze individualisiert zu bearbeiten. Die Angelegenheit wurde wütend öffentlich und erreichte endlich auch menschliche Sinnesorgane [s. Updates im ersten verlinkten Artikel].

Ausgemanaged

Auch wenn der aktuelle Fall ein Versagen interner Abläufe des Versandhändlers ist und — soweit bekannt — nichts mit DRM zu tun hat, wurde genau über dieses Thema wieder viel geschimpft. Und zu Recht, für Leser ist das ganze eine überflüssige Gängelung, die es schwer macht, mit eBooks so umzugehen, wie wir es mit Papierbüchern gewohnt sind. Es verhindert auch keine illegale Kopie — und lässt gleichzeitig ehrliche Kunden mit weniger Möglichkeiten zurück, als unehrliche Nichtkunden. Das wissen auch Verlage wie z.B. der Berlin Story Verlag, dessen Text zum Thema ich zufällig ausgewählt habe, es gibt noch andere.

Wer Klassiker liebt, meist sind deren Autoren bereits mehr als 70 Jahre tot und die Werke damit im Prinzip gemeinfrei, findet diese ohne DRM bei einigen Anbietern, z.B. Delphi Classics, oder gleich für lau beim Project Gutenberg.

Man kann auch dem Ratschlag folgen, keine eBooks mit DRM zu kaufen, sondern nur noch solche kleiner Verlage, die DRM-frei anbieten. Techcrunch weist auf solch ein Bundle hin. Das hilft allerdings wenig, wenn man seine Lektüre nicht nach technischen Gesichtspunkten, sondern nach Autoren und Inhalten auswählt. Aktuelle Veröffentlichungen bekannter Autoren, die bei großen Verlagen sind, bleiben vorerst DRMed, egal, ob Sie bei Amazon, Barnes & Noble, Thalia etc. kaufen.

Natürlich kann man mit ein ganz klein wenig Aufwand das DRM auch entfernen; man verzeihe mir, dass ich hier nicht zu Anleitungen verlinke, mir ist die rechtliche Situation dafür zu heikel.

Ein Postscriptum

Würden wir uns nicht ebenso über Amazon aufregen, wenn das Unternehmen seine Marktmacht einsetzte, die Verlage zu zwingen, endlich auf DRM zu verzichten? Strukturell entspräche das dem ALDI-Prinzip: Mach, was ich will oder du bist draußen.

Solange eBooks noch nicht den Hauptanteil am Bücherumsatz der Verlage haben, ist Amazon allerdings darauf angewiesen, von diesen beliefert zu werden. Das kann sich bald ändern, und dann …

Nach dem Abitur habe ich an der Universität Hamburg Anglistik, Amerikanistik, Soziologie und Philosophie studiert. Den Magister Artium machte ich 1992/93, danach arbeitete ich an meiner Promotion, die ich aus verschiedenen Gründen aufsteckte. Ich beschäftige mich meist mit drei Aspekten der Literatur: - soziologisch [Was erzählt uns der Text über die Gesellschaft] - technisch [Wie funktioniert so ein Text eigentlich] - praktisch [Wie bringen wir Bedeutung zum Leser] Aber auch theoretische Themen liegen mir nicht fern, z.B. die Frage, inwieweit literarische Texte außerhalb von Literatur- und Kunstgeschichte verständlich sein müssen. Oder simpler: Für wen schreiben Autoren eigentlich?

9 Kommentare

  1. Nee.

    Hier wurde nicht massiv gegen die AGB verstoßen, sondern wie es aus der Mail des Kundendienstes hervorging, betrafen die Probleme einen “related” Account. Offenbar schlägt deren Software schon an, wenn man ein Geschenk an einen Account versendet hat, der später aus welchen Gründen auch immer gesperrt wird.

    Wenn Du Dich vielleicht nachträglich noch mit der Materie befassen willst, empfehle ich die Googlesuche nach “Amazon gesperrt”. Da gibt es reihenweise Leute mit ähnlichen Problemen, wenn auch ohne Kindle.

    Es gibt wirklich keinen Grund, Amazon in irgendeiner Form in Schutz zu nehmen. Wer weltweit Geschäfte machen will, muß eben auch das lästige Übel “Kunde” in Kauf nehmen.

  2. Kindle und die Klassiker

    Ich mag mein Kindle sehr, weil ich mit ihm für lau von Amazon fast alle Klassiker bekomme – wenn auch in z.T. schauerlich editierten (Tippfehler) und schlecht übersetzten Ausgaben. Für die abendliche Leserei im Urlaub – eine meiner Lieblingsbeschäftigungen – ist das eine tolle Sache.

    Gibt es eine techn. Möglichkeit, die Texte vom Gutenberg-Projekt auf das Kindle zu bekommen? Ich hab’ sie noch nicht entdeckt..

  3. Zu DRM

    Ich denke schon das DRM auch hier ein nicht unerheblicher Teil des Problems ist.
    Wären die meisten Kindle-Bücher nicht mit Digital Rights Minimization versehen würde ein Backup des Kindle auf einen Rechner Sinn machen. Was dann sicher auch viele Leute tun würden.
    Wäre das hier dann geschehen wäre die Accountsperrung nur ein geringes Ärgernis.

    Die Entscheidung ob ein Verlag seine Kindle-Bücher mit DRM versehen läßt liegt ausschließlich bei ihm. Amazon selbst ist da leidenschaftslos. Ansonsten hätten beispielsweise Audible Audiobooks längst kein DRM mehr:
    http://www.cinemablend.com/…f-You-Want-8639.html

    Amazon wird immer immer eine Monopolstellung bei E-Books unterstellt. Wenn diese wirklich bestehen sollte sind allein die Verlage mit ihrem Wunsch nach DRM verantwortlich. Eine Bindung der Medien an bestimmte Reader fördert dies. Amazon hatte als erster einen brauchbaren erschwinglichen E-Reader mit unkompliziertem Kaufhandling im Angebot.
    Das dort keine Medien von anderen Anbietern drauf angesehen werden können liegt daran, das diese ebenfalls mit DRM versehen sind.

    Die Geschichte wiederholt sich. Apple hatte mit seinem iTunes Store ebenfalls ein Quasi-Monopol für mp3-Musikstücke (jaja ich weiß die haben AAC). Der Grund hierfür war ebenfalls DRM. Sie waren die Ersten, die einen benutzbaren Online-Store für digitale Musikstücke hatten. Als die anderen Angebote langsam mit eigenem DRM ins Web drängten liefen diese alle nicht auf dem meistverkauften mobilen Musikspieler.
    Erst der Verzicht auf DRM bei elektronischen Musikstücken ermöglichte anderen Anbietern Dateien zu verkaufen die auch auf dem iPod liefen. Nur dadurch wurde ein Wettbewerb bei den Webshops möglich.

    Gleiche Überlegungen scheint es zumindest bereits bei einigen Verlagen zu geben.
    Tor http://us.macmillan.com/TorForge.aspx vertreibt inzwischen seine E-Books DRM-frei. Sei es im eigenen Store, bei B&N oder bei Amazon.
    Als J.K. Rowling ihren eigenen Webshop ankündigte legte sie besonderen Wert darauf herauszustellen, das die Bücher hier DRM-Frei sind http://shop.pottermore.com/de_DE
    Viele Solo-Autoren bieten ihre Werke inzwischen ohne DRM an. Ein bekannter Vorreiter ist hier etwa J.A. Konrath http://www.jakonrath.com auch wenn man seine E-Books via Amazon kauft sind sie ohne DRM.
    Diverse Bücher deutscher Verlage sind schon länger bei http://www.beam-ebooks.de/ ohne DRM erhältlich.
    Ebenso sind auch alle im Artikel erwähnten Bücher in der Public Domain, die bei Amazon verfügbar sind ebenfalls ohne DRM.

    Es liegt bei den Verlagen die “Vormachtstellung” von Amazon zu brechen indem sie überall auf DRM verzichten. Unauthorisierte Kopien der Bücher gibt es sowieso, egal ob die Originale DRM haben oder nicht.

  4. Gutenberg Project bietet inzwischen neben den Nur-Text-Varianten auch ePub und Mobi zum Download an, Helmut. Wie bei allem, was nicht direkt von Amazon bezogen wird, musst du es manuell auf den Kindle schieben – Gerät einfach per USB an den Computer und Datei in das Verzeichnis documents [bzw. ein Unterverzeichnis für besserer Übersicht, z.B. nach Autoren sortiert].

    Du kannst die Dateien auch an deine Kindle-E-Mail-Adresse senden, dann bekommst du sie in die Kindle Cloud und per Whispernet auf das Gerät – allerdings kostet das 99 US-Cent pro angefangenem MB. Das geht bei Klassikernschnell ins Geld, alleine der Shakespeare bei Delphi Classics hat 23 MB, der L. Frank Baum über 70 …

    Nicht wirklich einfacher geht es, wenn du Calibre benutzt, was allerdings den Vorteil hat, dass du die Metadaten bequem verändern kannst.

    Delphi Classics benutzt weitgehend PG-Erfassungen, bereitet sie dann allerdings auf – besser formatiert, alle Texte eines Autors, oft angereichert mit gemeinfreien Sekundärtexten, in einer Komplettausgabe, Korrekturen.

    Zur Ergänzung: Ich bin auch bloß Kunde von Delphi Classics.

  5. @ Dierk – Gutenberg Projekt – ebooks

    Danke, das wird probiert.

    Ich hab’ bei meinem Kindle-Reader die WLAN/online-Funktionen ohnehin noch nie benutzt, und schiebe meine Files “von Hand” aus dem Amazon-Account auf das Maschinchen.

    Nochmal – pro Kindle und elektronische Leserei generell: Ich hab im letzten Jahr sicherlich 15 Bücher gelesen, die ich – gäb’s nur Print – mir nimmermehr beschafft und die ich nie gelesen hätte. Aus Faulheit und aus Geiz – denn das ist der Reiz: Mal eben schnell gucken, ob’s z.B. Schillers “Geschichte des Abfalls der Niederlande” als ebook gibt (gibt es), keine Ahnung, ob das lesbar ist, mal ‘runterladen, kost’ ja nix, und ausprobieren. War lesbar. Mit Wonne sogar. Und bei einem Fehlgriff (Hugos “Glöckner von Notre Dame” fand ich unlesbar) hat man nichts weiter als Speicherplatz verplempert.

    Ob die ebooks zur Volksbildung beitragen: das weiss ich nicht. Zu meiner: Gewiss – denn sie überwinden Geiz und Faulheit und wecken die Neugier.

  6. Fernlöschung?

    “Zwar ist es Amazon durch Fernzugriff auf den Speicher von Kindles möglich, diese ganz oder teilweise zu löschen — was hier nicht gemacht wurde!”

    Woher weiss man das, ich dachte der Kindle war zu diesem Zeitpunkt schon kaputt?

  7. Kindle und Sony

    Amazon ist kein Monopolist in Sachen E-book. Er ist Monopolist beim Kindle. Die meisten anderen Buch-Anbieter vertreiben auch E-Books; nur bedienen sie nicht den Kindle, sondern den Sony oder andere ‘offene’ Geräte. Wer ein als Monopolangebot eines Herstellers vertriebenes Gerät benutzt, braucht sich nicht darüber zu wundern, dass er abhängig ist.

    Auch die öffentlichen Bibliotheken arbeiten meines Wissens in der Regel nicht mit dem Kindle.