Weit, weit weg

Tagebücher der Wissenschaft

Tagebücher der Wissenschaft

Wir leben allein. Die letzten Menschen, denen wir direkt ins Gesicht schauen konnten, winkten uns vor knapp vier Monaten hinterher, als wir die Tür hinter uns schlossen.

Wir leben und arbeiten hier, schlafen, essen, treiben Sport. Wir gehen nur etwa zwei Mal in der Woche nach draußen. Unsere unmittelbare Umgebung beobachten wir durch unser einziges benutzbares Fenster und über Außenkameras. Selbst wenn wir nach draußen gehen, ist immer ein mehr oder minder zerkratzter Helm und eine dicke Stoffschicht zwischen uns und unserer Umgebung. Bei ungünstigem Sonnenstand sehen wir selbst mit größter Mühe praktisch nichts. Durch die Handschuhe haben wir praktisch kein Feingefühl. Wir sind vom Rest der Welt sprichwörtlich abgeschottet.

Trotzdem sind Außeneinsätze für mich eine willkommene Abwechslung. Sie sind die einzige Möglichkeit, bei der ich länger als fünf Sekunden geradeaus gehen kann, ohne gegen eine Wand zu stoßen. Außerdem sehe ich – wenn auch durch Kratzer – eine andere Szenerie als durch das eine Habitatsfenster.

Sonnenuntergang über Mauna Kea durchs Habitatfenster.
Sonnenuntergang über Mauna Kea durchs Habitatfenster.

Das Leben im Habitat hat durchaus seine Vorteile. Wir müssen nie einkaufen gehen, all unser Essen ist in einem großen Container eingelagert. Unsere Arbeit wird nicht durch „dringende” Anrufe unterbrochen. Und wir „pendeln” täglich eine Minute von unserem Bett zu unserem Arbeitsplatz. Zwei, wenn wir einen Abstecher ins Bad machen.

Fühlt es sich an wie in einer echten Marsstation? Nein, nicht wirklich. Anders als auf dem Mars sehen wir fast jeden Tag Wolken, die an uns vorbei ziehen. Wir atmen die Luft um uns herum, wenn auch über Umwege. Wenn unser Raumanzug undicht ist, sind wir nicht in Lebensgefahr, und im Fall eines medizinischen Notfalls, den unsere Crewärztin nicht ausreichend versorgen kann, können wir – wenn das Wetter mitspielt – innerhalb von einigen Stunden evakuiert werden. Es ist schwer, unser Zuhause mit dem Planeten Mars zu verwechseln, besonders an Tagen, an denen der Wind über den Bergkamm fegt und an den Wänden unseres Habitats rüttelt oder wir zum Klang des prasselnden Regens einschlafen.

Regen und Regenbogen - beides eher untypisch für den echten Mars.
Regen und Regenbogen – beides eher untypisch für den echten Mars.

Meist lässt sich das Wetter jedoch leicht ignorieren. Es gibt Zeiten, da fühlen sich die 40 Minuten Wartezeit auf eine Emailantwort länger an als zu anderen. Wir haben seit fast vier Monaten kein Grün mehr gesehen, das wir nicht selbst gezüchtet haben. Der „Straßen”abschnitt, der zu uns führt, trägt seinen Namen „Red Cinder Road” zu recht: die Landschaft um uns herum ist rot, braun, rot-grau, schwarz, rostrot. Und nicht zu vergessen, wir sind allein. Allein, und abhängig: von dem Team auf der „Erde“, das uns unterstützt.

In der Ferne ist Tristan als einziger nicht-rötlicher Fleck im Terrain zu sehen.
In der Ferne ist Tristan als einziger nicht-rötlicher Fleck im Terrain zu sehen.

Das gehört zu unserem Alltag hier. Dann gibt es da noch Weihnachten, Geburtstage oder ganz einfach Ereignisse, die den Angehörigen wichtig sind, und bei denen wir nicht dabei sein können. Das Leben auf der „Erde” geht ohne uns weiter. Natürlich tauschen wir Fotos und Videos mit unseren Familien aus. Ich persönlich fühle mich jedoch unwohl, wenn ich zu einer Kamera sprechen soll. Es ist einfach nicht das Gleiche. Ich habe kein Heimweh, und es nicht das erste Mal, dass ich Deutschland für längere Zeit verlassen habe. Anders als früher habe ich aber auch nicht die Möglichkeit jemanden anzurufen, wann es mir beliebt.

Dazu kommt, dass nun, da wir auf Weihnachten zugehen, der Breitengrad, auf dem wir leben, voll zum Tragen kommt. Der Dezember ist genauso hell oder dunkel wie der August. Die Sonne geht heute nur unwesentlich später unter als am ersten Tag der Mission. Wir haben zwar einen (Miniatur-)Weihnachtsbaum, aber die Weihnachtsstimmung bleibt aus. Dabei arbeiten mehrere von uns fieberhaft an Weihnachtsgeschenken für die anderen – möglicherweise fehlt die Dauerbeschallung mit Festmusik im Einkaufszentrum.

Geburtstag? Weihnachten? Thanksgiving? Egal, welcher Festtag, wir feiern mit den gleichen "Gästen". (Das Foto ist zu Thanksgiving entstanden.)
Geburtstag? Weihnachten? Thanksgiving? Egal, welcher Festtag, wir feiern mit den immer gleichen “Gästen”. (Dieses Foto ist zu Thanksgiving entstanden.)

Es fühlt sich nicht an, als würden wir auf dem Mars leben, aber definitiv weit, weit weg. Dieser seltsame, trockene und vegetationslose Ort ist jetzt mein Zuhause. So bald werde ich keinen freien, wildlebenden Grashalm sehen, geschweige denn einen ganzen (echten) Baum. Hier ist jetzt mein Zuhause, aber in Wirklichkeit fühle ich mich fern von meiner Heimat, geradezu wie ein Gast hier.

Einer der Tage, an denen ich mich am entferntesten von allem Geschehen, von meiner Heimat fühlte, war der dreizehnte November, der Tag der Anschläge auf Paris. Wir haben darüber ausschließlich über unser zeitverzögertes Internet gelesen, und wir fühlten uns nicht nur wegen der geographischen Distanz abgekapselt, fast ausgeschlossen. Das Leben auf der „Erde” ist von wenig Belang hier oben.

Wir sind weit weg, und in gewisser Hinsicht in Sicherheit, aber ich und Cyprien werden in einem Dreivierteljahr nach Europa zurück kehren. Wir verfolgen die Nachrichten, aber wir haben keine Ahnung, wie sich der einfache Mann auf der Straße verändert haben wird. Wenn wir zurückkehren, kommen wir nicht zurück nach Hause. Wir kommen zur „Erde” zurück, aber die Veränderungen, die uns erwarten, könnten größer sein als nach einer Mission zum echten Planeten Mars.

  • Veröffentlicht in: Allgemein
Avatar-Foto

Veröffentlicht von

Christiane Heinicke bloggt als Wissenschaftlerin und Versuchskaninchen aus der HI-SEAS-Forschungsstation auf Hawaii. Zuvor studierte sie Physik in Ilmenau und Uppsala und promovierte anschließend zu einem kontaktlosen Strömungsmessgerät. Zuletzt arbeitete sie in Helsinki an brechendem Meereis. Vor ihrer Zeit auf Hawaii verbrachte sie zwei Wochen auf der Mars Desert Research Station in Utah. Ständig umgeben von Wänden oder Raumanzug, wird sie während des Jahres am meisten das Gefühl von Sonnenstrahlen auf der Haut vermissen, dicht gefolgt vom Geschmack frisch gepflückter Himbeeren.

Schreibe einen Kommentar