Kein Schnee von gestern
Tagebücher der Wissenschaft

Am 7. Mai 1959 hielt der britische Physiker und Romancier Charles Percy Snow seinen berüchtigten Vortrag über die "zwei Kulturen". Darin behauptete der Naturwissenschaftler, der in den 1930ern am ehrwürdigen Christ’s College in Cambridge geforscht hatte und sich später als Schriftsteller einen Namen machte, dass wir bei der Lösung der großen Probleme der Welt – Armut, Bevölkerungsexplosion, Wettrüsten – notwendig scheitern müssten, wenn es nicht gelänge, ein massives Kommunikationsproblem zu beheben: das zwischen Natur- und Geisteswissenschaften.
Zur Erinnerung einige Zitate* aus Snows Reid-Lecture:
"Ich hatte ständig das Gefühl, mich in zwei Gruppen zu bewegen, die von gleicher Rasse und gleicher Intelligenz waren, aus nicht allzu verschiedenen sozialen Schichten kamen und etwa gleich viel verdienten, sich dabei aber so gut wie gar nichts zu sagen hatten."
Kann ich gut nachvollziehen. Während meines Studiums der Physik (Diplom) und der Germanistik (Magister; Nebenfächer Philosophie und Kunstgeschichte) erlitt ich auch regelmäßig Kulturschocks, wenn ich etwa aus einer Übung für theoretische Quantenmechanik hetzte, um nur ja nicht die Fontane-Vorlesung in der anderen Fakultät zu verpassen. Hüben Verwirrspiele im n-dimensionalen Hilbertraum (Hilbert-Raum, nicht Hilber-Traum, liebe Germanisten!), drüben die Irrungen und Wirrungen des approbierten Apothekers. Hüben >85 % Männerquote, Bauart "Geil, da ist eine Aufgabe, die wir nicht rauskriegen", drüben leichter Frauenüberschuss, Bauart "Was, das Gedicht sollen wir auch noch lesen?" OK, ich übertreibe, ist geb’s ja zu, aber nicht viel.
In der gesamten westlichen Welt klaffe "eine Kluft gegenseitigen Nichtverstehens" zwischen Natur- und Geisteswissenschaftlern, so Snow. Und weiter: "Diese Aufspaltung in zwei Pole ist ein reiner Verlust für uns alle. Für uns als Volk und als Gesellschaft. Es ist ein Verlust gleichzeitig in praktischer, in geistiger und in schöpferischer Hinsicht."
Ja, ok, Verlust, sicher. Doch würde es uns wirklich weiter bringen, wenn alle Biologen Baudelaire kennten und sämtliche Wahlverwandtschaften-Exegeten in ihrer vorlesungsfreien Zeit anorganisch-chemische Praktika absolvierten? Je länger ich darüber nachdenke: Ja, es würde!!! Klar, ich höre schon die Einwände: Natürlich brauchen wir in unserer ach so hoch arbeitsteiligen Welt an allen Ecken und Enden exzellent ausgebildete Fachidioten (nein wirklich, das meine ich hier gar nicht abwertend), die eine sehr einseitige (ebenfalls nicht abwertend gemeint, Hand aufs Herz) Ausbildung bis zum bitteren Ende (dito) durchlaufen haben, damit sie ihre Arbeit überhaupt verrichten können. Geschenkt. Aber so billig kommt mir keiner weg: Auch diese unerlässlichen Spezialisten könnten über ihren Schatten springen. Sicherlich muss man sie dazu frühzeitig ermutigen: Zumindest ein Seminar in den Räumen der "anderen Kultur" sollte daher in jedem Studiengang Pflicht sein. (Achtung: Dieses Plädoyer wird Ihnen in der Guten Stube noch häufiger kredenzt!) Es braucht ja auch gar nicht soooo weh zu tun: Wissenschaftstheorie für Physiker, Wissenschaftsgeschichte für Biologen, Medienpraxis für Mathematiker (cool!). Und auf der anderen Seite? Spezielle Relativitätstheorie für Germanisten zum Beispiel, am besten auf der Grundlage der Orininalpublikationen von Einstein sowie frühen Adepten wie Kritikern. Dann würden die Kollegen Literaturhistoriker endlich auch die Eisenbahn-Paradoxien bei Thomas Mann und so manche astronomische Anspielung bei Bert Brecht besser verstehen! Desweiteren: Archäometrisches Praktikum für Althistoriker, angewandte Neurobiologie für Philosophen. Ich würde Snows Verlust-Diagnose daher so paraphrasieren wollen: Interdisziplinäre Kultur bedeutet immer einen Gewinn für ihre Protagonisten – und nicht nur für sie. Bloß heranführen muss man die jungen Leute ganz offensichtlich an die Schätze. Von allein stoßen leider nur sehr wenige darauf.
Snow prangerte vor allem die Ignoranz der literarisch Gebildeten an: Vom naturwissenschaftlichen Weltbild – "in seiner geistigen Tiefe, Komplexität und Gliederung die schönste und wunderbarste Gemeinschaftsleistung des menschlichen Geistes" – hätten die meisten Vertreter dieser Spezies keinen blassen Schimmer, geißelte er.

Feindschaft? Naja, wenn Neurobiologen an den Konzepten von Willensfreiheit und Verantwortung rütteln, dann reagieren etliche Geisteswissenschaftler in der Tat "feindlich": indem sie die Messer ihrer kritischen Begriffsanalytik zücken. Aber sonst? Zumindest in offizieller Runde klatschen heute die meisten Forscher dem fächerübergreifenden Dialog Beifall und finden interdisziplinäres Denken löblich, ja erstrebenswert. Über das inoffizielle Befinden erfährt man indes häufig nichts – oder doch?! Der eine oder andere Experte wird sich wohl noch in der Guten Stube einfinden und ein wenig aus dem Nähkästchen plaudern. Meine Prognose: Wir werden sehen, dass Snow kein Schnee von gestern ist!
Und was meint der Rest der Blogosphäre zur Aktualität von Snow? Welche Erfahrungen haben Sie gemacht? Ich bitte um Kommentare – und verlose unter allen Beiträgern als "Cup" einmal die drei neuesten Gehirn&Geist-Hefte. Stichtag: 20. Dezember, dann kommt der erste Kommentar-Cup auch noch rechtzeitig zu Weihnachten an…
*Aus: Die zwei Kulturen. C.P.Snows Thesen in der Diskussion. Hrsg. v. Helmut Kreuzer. dtv 1987. (Das Buch ist leider nicht mehr lieferbar.)