Gehirnstruktur entschuldigt Mörderin

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Nachdem bereits vor zwei Jahren ein italienisches Gericht einem Mörder aufgrund eines neurowissenschaftlichen Gutachtens Strafminderung gewährte (MAOA: Strafminderung wegen Aggressionsgen), reduzierte dort eine Richterin erneut ein Urteil von Lebenslänglich auf zwanzig Jahre.

Unter dem Vorsitz der Richterin Luisa Lo Gatto in Como, in der Nähe von Milan, wurde in einem Mordfall nach der Vorlage neurowissenschaftlicher Gutachten erneut Strafminderung gewährt (italienischer Zeitungsbericht; englischer Bericht bei Nature News). Die verurteilte Italienerin Stefania Alberti hatte sich bereits 2009 für schuldig bekannt, ihre Schwester umgebracht, die Leiche verbrannt und ihre Eltern umzubringen versucht zu haben. Die neurowissenschaftlichen Gutachter waren wie in dem Fall zuvor Pietro Pietrini, Professor für molekulare Genetik und Psychiatrie an der Universität Pisa, sowie Giuseppe Sartori, Professor für kognitive Neurowissenschaft an der Universität Padova.

In dem Fall hatten sich zuvor zwei psychiatrische Gutachten zur geistigen Gesundheit der Mörderin widersprochen. Neben einer psychologisch-forensischen Testbatterie wollten die beiden zuletzt hinzugezogenen Hirnforscher durch die Messung des Gehirnvolumens und die Suche nach sogenannten Risikogenen Klarheit schaffen. Im Vergleich mit zehn Kontrollpersonen fanden die Forscher bei der Mörderin unter anderem ein geringeres Volumen im vorderen zingulären Kortex sowie der Insel. Außerdem stellten sie die Niedrigvariante des sogenannten MAO-A-Gens fest.

Den Gutachtern zufolge sind diese Gehirnbereiche mit aggressivem Verhalten und Lügen in Zusammenhang gebracht worden. Auch der Genotyp erhöhe das Risiko aggressiven Verhaltens. Die Richterin folgte schließlich der Schlussfolgerung der beiden Neurowissenschaftler, dass die Mörderin zumindest teilweise psychisch krank sei, und verringerte die Strafe von lebenslänglich auf zwanzig Jahre Gefängnis. Wie schon das Urteil vor zwei Jahren dürfte auch diese Entscheidung in der Fachwelt für Aufsehen sorgen aber auch Kritiker auf den Plan rufen.

Zum vollständigen Artikel Hirnforschung führt erneut zu Strafminderung in Mordfall inklusive Diskussion auf Telepolis.

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14 Kommentare

  1. psychisch krank wer mordet

    … aber auch Kritiker auf den Plan rufen.

    Wie steht Du denn dazu?

    Psychisch krank wer mordet. Könnte ich immer unterschrieben.

  2. @ Markus

    Was genau macht den Mord zu einer psychischen Erkrankung?

    Er steht jedenfalls im Strafgesetzbuch, nicht im psychiatrischen Diagnosehandbuch.

  3. Ich wollte ja erst mal Deine Meinung heraus kitzeln, deswegen dieser Kommentar.

    Du bist mit Deiner Antwort nach dem psychiatrischen Diagnosehandbuch ganz auf meiner Position (die ich aber gerne noch überdenke).

    Mord mit dem Merkmal Vorsatz und heimtückisch, grausam oder mit gemeingefährlichen Mitteln ist ein in meinen Augen gestörtes Verhalten. Immer. So gesehen macht eine Strafmilderung gar keinen Sinn. Ich halte dieses Argument als falsch.

    Mindere Intelligenz würde ich als strafmildernd zulassen. Wie gesagt, ich habe das sicher noch nicht hinreichend durchdacht und bin auf Deine und andere Meinungen gespannt.

  4. @ Markus

    Ich spreche hier jetzt (mangels juristischer Ausbildung) als Laie aber als solcher kann ich mir einen Mord noch als relativ “rational” (will heißen: verstehbar, nachvollziehbar) vorstellen, beispielsweise um Rache zu nehmen, um Geld von jemandem zu bekommen, um einen Konkurrenten zu beseitigen usw.

    Tatsächlich erfordern solche Taten ja ein gewisses Maß an Planung, oder? Wenn man zu verwirrt ist, dann geht es doch wahrscheinlich nicht um einen Mordvorwurf, sondern um Totschlag, vielleicht sogar nur fahrlässige Tötung?!

    Wenn ein Mord im Gegensatz dazu auf besonders bestialische Weise verübt wird oder wenn ich mir vorstelle, dass jemand Kleinkinder sexuell Missbraucht, dann scheinen mir diese Verbrechen so irrational und widernatürlich, dass ich mir sie eher oder vielleicht sogar nur als krankhaft vorstellen kann.

    Ich vermute, dass die Frau, um die es in dem Beitrag geht, die Leiche verbrannt hat, um Spuren zu beseitigen, also in gewisser Weise wieder aus einem “rationalen” Wunsch heraus, nämlich dem, nicht als Täter identifiziert zu werden. Wenn das eine Rolle spielt, dann kann ich das wahrscheinlich herausfinden.

    Entweder jemand mit der nötigen juristischen Sachkenntnis hilft uns hier aus oder ich kann spätestens im Oktober, wenn ich auf einer Tagung von Strafrechtlern spreche, ein paar Meinungen dazu einholen.

  5. ich hab den Artikel ja schon gelesen, und auch den Artikel über Computerspiele..
    http://www.heise.de/tp/artikel/35/35422/1.html
    Ich bin da absolut zwiegespalten.
    Sicherlich können uns Gene durchaus auch im Verhalten beeinflussen, wobei die Wechselwirkung von Äußeren Einflüssen und Gene auch fließend ist.
    Das zeigt schon die Studie der ETH zu Stresserfahrungen http://www.ethlife.ethz.ch/archive_articles/100819_epigenetik_per
    Nur in wieweit man sowas Strafmildert werten will..
    Heikles Thema..
    Sind wir die Sklaven unserer Gene?
    Die Sklaven unserer Hirnstruktur?
    Hmm.. da kommt man dann langsam in den Bereich, ob man überhaupt Strafbar gemacht werden kann..

  6. Außerirdische Perspektive

    Ich lehne mich jetzt auch mal aus dem Fenster, da ist die Luft so frisch:

    Wie ich im letzten Beitrag, in der Fußnote, schrieb, halte ich die Unterscheidung zwischen Funktion und Fehlfunktion für eine sehr menschliche, wissenschaftlich eher fragwürdig.

    Wollen wir uns schon auf dieses Glatteis begeben (bedenke, Homosexualität galt mal als Krankheit und eine US-amerikanische Präsidentschaftskandidatin sieht das wohl heute noch so, Stichwort: “pray away the gay” — aber ich verliere mich …), dann sehe ich Gier und Hass als krankhaftes Verhalten, genau wie Depression, nur das dieses in der Regel weniger Fremdschäden als jenes verursacht.

    Lehn’ ich mich schon aus dem Fenster, kann ich gleich auch mal von ganz oben gucken. Der Außerirdische, der weder unsere Diagnosekriterien kennt noch sich die Mühe macht Gesetzestexte zu lesen, sieht nur Menschen die sich oder andere zerstören — und kann nur zu einem Schluss kommen: alle krank.

  7. Kausalität?

    “Den Gutachtern zufolge sind diese Gehirnbereiche mit aggressivem Verhalten und Lügen in Zusammenhang gebracht worden.”

    Korrelativer =/ kausaler Zusammenhang? Vielleicht verändern sich die Gehirnstrukturen eben auf diese Weise, weil man ständig Mordgedanken und -plänen hinterhergeht und nicht anders herum?
    Was ist mit neurologischer Plastizität?

    Wenn man Mord als Kriterium für eine psychische Störung heranziehen will: Ohne die Zahlen zu kennen, bin ich mir sicher dass Mord ein von der Normalbevölkerung sich statistisch signifikant unterscheidbares Verhalten darstellt.

  8. @ Mathias, M. Filusch

    Es ist ein großes Missverständnis mancher Hirnforscher, dass Kausalität eine Tat entschuldigen würde. Psychiatrische Erkrankungen können ebenso wie soziale Faktoren im Einzelfall strafmindernd wirken; der Punkt hier ist aber, dass die Wissenschaft noch lange nicht so weit ist, dies in Genen oder Gehirnen festzustellen.

  9. @ Markus

    Das ausschlaggebende Kriterium dafür, Homosexualität ab dem DSM-III (1980) nicht mehr als psychiatrische Erkrankung aufzufassen, bestand im Leiden: Psychiater mussten einräumen, dass Homosexuelle nicht aufgrund ihrer Homosexualität, sondern allenfalls indirekt aufgrund der gesellschaftlichen Ablehnung litten.

    Entsprechend könnte man sich fragen, inwiefern Psychopathen unter ihrer Bedingung leiden. Ich halte jedenfalls die Unterscheidung zwischen Krankheit und Verbrechen für sinnvoll, muss darüber aber noch mehr nachdenken.

    Friedman, R. C., Green, R., Spitzer, R. L. (1976). Reassessment of Homosexuality and Transsexualism. Annual Reviews of Medicine 27: 57-62.

  10. Leiden

    Es gab mal jemanden, der sagte, dass die Wurzel und die Ursache des Leidens in Gier, Hass und Verblendung liegen. Wenn diese drei Gifte nun zum Mord führten, würde ich das Leiden auch des Mörders sehen (und wenn er nicht darunter sehr litt, ist er alle male krank).

    Krankheit und Mord (oder gar Krankheit und Verbrechen) kann man vorläufig trotzdem auseinander halten. Strafrechtlich halte ich es zumindest nicht für relevant.

  11. Prognose

    Wenn es in zwei Fällen die gleichen Gutachter sind, welche eine Strafminderung bewirken, dann kann man in Zukunft davon ausgehen, dass jeder Mörder sich diese Gutachter als Expertenmeinung wünscht

  12. Gehirnstruktur Strafminderung

    Ich halte eine Strafminderung bei einer tatsächlich nachgewiesenen Disposition für völlig korrekt. Zugleich wird mit dieser Diagnose auch eine Disposition zu entsprechendem (mörderischem/aggressivem) Handeln festgestellt, was selbstredend eine entsprechende Sicherungsverwahrung auf Lebenszeit nach sich ziehen muss. Die nachvollziehbare Strafminderung darf nicht zu einer erhöhten, weil nachgewiesenen Gefährdung für die Mitmenschen werden.

  13. @ Rensen: verschiedene Fragen

    Es gibt hier viele unterschiedliche fragen, manche davon normativer, andere davon deskriptiver:

    Inwiefern lassen die gefundenen Marker eine Abschätzung der Gefährlichkeit eines Einzelnen zu? Allein hier gib es für mich schon genügend Probleme, um die Anwendung in den vorliegenden Fällen zu kritisieren.

    Müssen wir jemanden, der ein Risiko-Gen trägt, entschuldigen? Für mich stellt sich die Frage, in welchem Maß sich die Person bei der Vorbereitung der Tat sowie zum Tatzeitpunkt unter Kontrolle hatte (Steuerungsfähigkeit). Dass die Personen Einsicht in die Falschheit ihres Tuns hatten darf wohl angenommen werden (Einsichtsfähigkeit). Zur Steuerungsfähigkeit geben die Berichte wenig Informationen.

    Woher wissen Sie eigentlich, dass Sie kein Risiko-Gen tragen oder eine Ihrer Gehirnstrukturen von der Norm abweicht?

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