Andrew F. Huxley 1917-2012

BLOG: Graue Substanz

Migräne aus der technischen Forschungsperspektive von Gehirnstimulatoren zu mobilen Gesundheitsdiensten.
Graue Substanz

Am 30. Mai im Alter von 94 Jahren starb Andrew Fielding Huxley. Er bekam den Nobelpreis für Physiologie zusammen mit Alan Lloyd Hodgkin (1914-1998) und John Carew Eccles (1903-1997) für die Beschreibung der Erregungs- und Hemmungsvorgänge über der Zellmembrane. Das Hodgkin-Huxley-Modell der Nervenerregung ist heute das mit Abstand wichtigste mathematische Modell der Computational Neuroscience.

Ich bin sicher, es gibt kaum jemanden, der längere im Bereich der Computational Neuroscience arbeitet und nicht schon mal in der ein oder anderen Form diese Konversation gehört hat:

Teilnehmer A: Wir brauchen Erfolgsgeschichten, die zeigen, dass mathematische Modelle einen wirklichen Einfluss auf die medizinisch-biologische Forschung haben.

Teilnehmer B: Aber wir haben doch das Hodgkin-Huxley-Modell.

Teilnehmer A: Das sagen wir nun schon seit 50 Jahren und seit dem ist nichts dazugekommen.

Teilnehmer B [schweigt nachdenklich, nickt dann]

 

Berichte in der Presse: 

 

Bildquelle: Wikipedia

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Markus Dahlem forscht seit über 20 Jahren über Migräne, hat Gastpositionen an der HU Berlin und am Massachusetts General Hospital. Außerdem ist er Geschäftsführer und Mitgründer des Berliner eHealth-Startup Newsenselab, das die Migräne- und Kopfschmerz-App M-sense entwickelt.

7 Kommentare

  1. Wohin soll es gehen

    Wenn dereinst die Computational Neuroscience über beliebig verfeinerte Modelle verfügen wird, was erwartest Du – welche Entwicklungen werden damit verbunden sein?

    Und welche Rolle wollen die Neurowissenschaftler dabei spielen? Gibt es irgendeine Art ethischen Konsens’ (Neuroscientific oath), oder tut jeder (für seine Karriere), was er eben kann?

  2. RIP

    Bei einem Blick auf die biografischen Daten: So ein Nobelpreis scheint der Gesundheit und der Lebenserwartung ausserordentlich zuträglich zu sein.

    Das “nichts dazugekommen” ist eine schöne Polemik! Vor sechzig Jahren wurden die ersten Computer gebaut, die Funktion der DNS wurde enträtselt, die Lösung der letzten Welträthsel schien bevorzustehen. Die Computer sind seitdem millionenmal schneller geworden, die Speicherkapazität ist milliardenmal größer, und das Wissen über die molekulare Maschinerie der Nervenzellen ist ungeheuer gewachsen. Vor diesem Hintergrund ist die Aussage “nichts dazugekommen” um so bemerkenswerter. Warum ist das so? Schwer vorstellbar, dass man die falschen Fragen stellt, schliesslich haben die klügsten Köpfe 60 Jahre lang nach den richtigen Fragen gesucht. Was ist da los?

  3. @HF

    Die Computational Neuroscience ist hervorragend für Details geeignet, um Vorgänge in der Nervenzelle und kleineren Zellverbänden zu verstehen – aber sie scheitert, wenn es um komplexere kognitive Prozesse geht.

    Man muss der Gehirn-/Gedächtnisforschung vorwerfen, dass sie bestimmte Phänomene seit Jahrzehnten ignoriert:

    Ich spreche hier von den sogenannten ´Nahtod-Erlebnissen´(NTEs). Diese laufen nach einer einheitlichen Struktur ab, welche schon 1975 in Dr. Moodys´s Buch ´Leben nach dem Tod´ dokumentiert wurde.
    Diese Struktur wäre der systematischen Analyse zugänglich, aber sie wurde nie wissenschaftlich untersucht. Dabei zeigt sie – nachprüfbar – einige für das Verständnis der Gehirntätigkeit wichtige Details:
    a) das Gehirn arbeitet per Mustervergleich
    b) Erlebnisse sind in der zeitlichen Gegenwartsform abgespeichert
    c) Erlebnisse sind ab dem 5. Schwangerschaftsmonat erinnerbar
    d) unser Bewusstsein wird dauernd neu gebildet, es hat nur die Dauer eines Momentes
    usw. usw.

    Dies sind nur 4 Beispiele, aber suchen Sie mal per Google, ab welchem Zeitpunkt wir bewusst erinnerbares Wissen haben, dann verstehen Sie ein Problem der Gehirnforschung: hier fehlt es an Grundwissen. Und wenn solche bekannten einheitlichen Strukturen, wie bei den NTEs, nicht untersucht werden, dann ist die Forschung teilweise fragwürdig

  4. Geister

    @Jörg Schütze: Ich hatte ja eher die Frage erwartet: was also bringt denn dann Mathematik als Werkzeug, wenn es ja eben scheinbar wenig gute solche Modelle gibt?

    Also. Mir geht es nicht um beliebig verfeinerte Modelle im Bereich der Computational Neuroscience. Sondern es geht um grundsätzlich neue Erkenntnisse. Wie die von Hodgkin-Huxley, dass mit einem elektronischen Ersatzschaltbild, Kirchhoffschen Knotenpunktsatz und dem Gedanken der Spannungsgesteuerten Ionenkanäle Rückschlüsse auf deren Tertiärstruktur ziehen kann und die nichtlineare Dynamik (Type der Anregbarkeit) genau abbildet. Viele Vorhersagen wurden (teils viel) später bestätigt. Das muss ein Modell leisten.

    Ähnlich fundamental ist vielleicht noch der Turing-Mechanismus, oder sogar die Mackey-Glass Gleichung, beides aber nicht im Bereich Neuroscience.

    (Die Frage des ethischen Konsens ist ja nicht auf mathematische Werkzeuge in irgend einer Form einschränkbar. Somit eher off-topic, auch wenn ich gerne dies mir Dir diskutiere.)

    Deswegen komme ich auch gleich zur Frage von @HF: Was ist da los?

    Das Gespräch ist natürlich fiktiv. Und etwas überzeichnet.

    Was hat die Mathematik uns je gebracht? Eine Seite dieser Frage erinnert mich an: What have the Romans ever done for us? Fair enough!

    Trotzdem bleibt die Frage, warum wir doch relativ wenig, klar vermittelbare, mathematische Erfolgsgeschichten haben.

    Ich nehme in Anspruch für mich, mit der Erklärung der Mirgäne durch den Geist einer Sattel-Knoten-Verzweigung auf der Spur zu sein. Aber das Modell muss sich erst behaupten. Und selbst wenn es richtig sein sollte (wovon ich ausgehe), dann ist es nicht gesagt, das es klinisch nutzbare Erkenntnisse bringt.

    Ich vermisse aber solche Bestrebungen, fundamentale mathematische Mechanismen in der Gehirnforschung aufdecken zu wollen. Warum nicht? Weil es sie vielleicht kaum gibt?

  5. Kurz und knapp

    Da bemängeln manche, Nobelpreise würden für ‘alte’ Erkenntnisse vergeben. Das Hodgkin-Huxley-Modell zeigt, wie nachhaltig fundamental manche Erkenntnis sein kann.

  6. Mathematik

    Trotzdem bleibt die Frage, warum wir doch relativ wenig, klar vermittelbare, mathematische Erfolgsgeschichten haben.

    Ja warum? Die Suche nach einfachen Funktionsprinzipien ist aus der Mode geraten, nachdem sich in den ersten dreissig Jahren nach Hodgkin-Huxley keine Ergebnisse gezeigt haben. Wer nach *dem* unerkannten Funktionsprinzip sucht, gilt schnell als naiv.
    Zu den Modellen: Ein Gehirn als dynamisches System betrachten zu wollen scheitert m.E. an der problematischen Trennung von Zustandsraum und Dynamik. Schon wenige Stufen hinter der dem Sehnerv sind die Räume, auf denen die Dynamik operiert, nicht mehr experimentell fassbar, die Bezeichnung Featuredetektoren erfasst nicht annähernd die Details der ablaufenden Vorgänge. Vielleicht benutzt man auch einfach die falsche Mathematik? Wie wäre es mit einem dynamischen System, dessen Zustandsraum die Menge der Schnitte in der Garbe der lokal konstanten Funktionen ist. Die Dynamik führt zum Wachstum von Funktionskeimen, sie konkurrieren unter dem Einfluss von aussen einströmender Signale um den zur Verfügung stehenden Speicherplatz. Vielleicht ist das die richtige Sicht auf die Vorgänge in einer kortikalen Säule.

  7. Zeitmaschine

    @Blugger: Dieser Nobelpreis wurde sehr zeitnah vergeben.

    In meiner Vorlesung vertrete ich übrigens die alternative Ansicht, dass Hodgkin und Huxley die Zeitmachine erfanden. Mit dieser reisten sie in der Zukunft, schauten nach, wie die Tertiärstruktur des Natrium- und Kalium-Kanals ist, reisten zurück in ihre Gegenwart und so kannten sie für ihr mathematisches Model die entsprechenden Exponenten der Öffnungswahrscheinlichkeiten (m^3,h^1,n^4). Denn diese durch fitten zu bestimmen, war wohl doch schwieriger. Sie erhielten folglich den falschen Nobelpreis so zeitnah. Sie hätten für ihre Zeitmaschine den für Physik bekommen müssen.

    @HF: Das wäre die Diskussion, die es zu führen gilt. Ich habe schon Hoffnung, das wir einiges mehr erreichen können. Später vielleicht mehr dazu. Ich denke an Ansätze wie den von Jack Cowan oder (weniger bekannt) von Jean Petitot.

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