Der extrazelluläre Raum: die letzte Grenze

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Migräne aus der technischen Forschungsperspektive von Gehirnstimulatoren zu mobilen Gesundheitsdiensten.
Graue Substanz

Im Gehirn sind Zellen nicht nur über Netzwerke verdrahtet, Gehirnzellen sprechen auch über Diffusion im extrazellulären Raum miteinander.

Stellen wir uns zwei benachbarte Gehirnzellen vor. Was sehen wir? Nur zwei Zellen? Und was ist mit dem Raum dazwischen?

Der Raum zwischen den Gehirnzellen ist ein wichtiger Kommunikationskanal. Seine Form ist bisher kaum untersucht. Dass ihm überhaupt eine Rolle zukommt, in der Verarbeitung von Information sowie bei Krankheiten des Gehirns, liegt eben daran, dass dieser Raum eine Form besitzt, eine Gestalt.

Wir können ihn uns wie einen Schaum vorstellen, die eingeschlossenen Luftblasen sind die Zellen. Wie diffundieren Substanzen in diesem Raum, zum Beispiel Botenstoffe und auch Schadstoffe? Transport in diesem Kommunikationskanal zu verstehen, bezeichnen einige laut Terry Sejnowski vom Howard Hughes Medical Institute und dem Salk Institute for Biological Studies als die Final Frontier – die letzte Grenze. Auch mit interessiert die Diffusion im Gehirn seit über 15 Jahren im Zusammenhang mit Migräne.

Der Raum, unendliche Möglichkeiten

In den letzten Jahrzehnt, eigentlich Jahrzehnten, lag der Fokus in den Neurowissenschaften auf den neuronalen Netzwerken. Wie wird Information entlang von Nervenfasern übertragen? Das Paradigma heißt wiring transmission. Es wird von Vielen nicht mal als hinterfragbares Paradigma wahrgenommen. Wiring Transmission, Übermittlung durch Verdrahtung, so könnte man es übersetzen.

Mit den Jahren wurden die neuronalen Schaltkreise (neural circuits) immer komplizierter und ausgefeilter. In Computer-Simulationen umfassten die mathematische Modelle viele verschiedenen Zelltypen, Dutzende Variablen und noch mehr Parameter. Die Modelle wurden immer besser darin, die Daten zu reproduzieren kein Wunder eigentlich.

Geben Sie mir zehn freie Parameter, und ich simuliere Ihnen einen Elefanten. Noch ein Parameter mehr, und er wackelt mit dem Schwanz. (Mir unbekannter Herkunft)

Dabei vergaß man das einfachste, das nicht sichtbare: den Raum zwischen den Zellen. Der Raum bietet unendliche Möglichkeiten aus der mathematischen Perspektive.

Dass Stoffe durch diesen extrazellulären Raum wandern, wird von Wissenschaftlern zwar schon mindestens so lang untersucht, wie es die Hirnforschung gibt. Aber es waren immer nur wenige und sie hatten kaum gute Daten, weil es keine guten Messtechniken gab. Selbst die Elektronenmikroskopie hat allein noch nicht den Durchbruch geschaffen. Mathematische Rekonstruktionsverfahren waren nötig. Die methodischen Schwierigkeiten will ich hier nicht detailliert ansprechen.

Epilepsie, Migräne, Hirninfarkt, Schädel-Hirn-Trauma, Subarachnoidalblutung, … Raum für viele Fragen

Das andere Paradigma heißt volume transmission. Übermittlung über den Raum. Dies Art Informationen von Zelle zu Zelle zu senden, wird uns wohl noch viele Jahre beschäftigen und zwar vor allem bei Hirnkrankheiten. Insbesondere bei Epilepsie und Migräne spielt Volume Transmission eine fundamentale Rolle. Ebenso bei  Hirninfarkt, Schädel-Hirn-Trauma, Subarachnoidalblutung und vielen anderen Pathologien des Gehirns, bei denen es zu einen Schlaganfall kommt. Dort ist Volume Transmission wahrscheinlich sogar viel entscheidender als die Schaltkreise im Gehirn, da in diese im betroffenen Gewebe Netzwerke oft schon nicht mehr funktionell aktiv sind. Dieses Gewebe ist strukturell hingegen noch überlebensfähig, zumindest in einem den Schlaganfall umgebenen Ring (Penumbra), und kann sich potenziell auch wieder erholen. Volume Transmission ist dort ein wichtiger Kommunikationskanal. Wobei neben dem extrazellulären Raum noch Gliazellen einen schaumartigen Raum bilden, das astrozytäre Syncytium (blau im Video unten). Auch das sei nur am Rande bemerkt. 

 

Walzer durch’s Nervengeflecht

In einem Video werden alle anatomische Strukturen in einem Volumen von 180 Kubikmikrometer Nervengeflecht in 3D dargestellt.* Ein Kubikmikrometer entspicht ungefähr der Größe eines Bakteriums.

 

In dem folgenden Vortrag führt Terry Sejnowski durch dieses mit einem Walzer nett unterlegte Video und erklärt die Methodik sowie erste Erkenntnisse aus diesem neuen Forschungsansatz.

 

 

Die erste zentrale Frage, die durch mathematische Simulationen angegangen wurde, ist, wie Glutamat durch das Nervengeflecht diffundiert. Da Glutamat im extrazellulär Raum nicht abgebaut (metabolisiert) wird, ist es wichtig zu verstehen, wie diese Substanz abtransportiert wird (noch sind die Ergebnisse unveröffentlicht, werden aber demnächst erscheinen).

Gerade auch in Hinblick, dass bei Migräne eine genetisch bedingte Fehlregulation des hauptsächlichen Glutamat-Membrantransporters diskutiert wird,  macht für mich diese erste zentrale Fragestellung so interessant.

Ob Ionen, Neurotransmitter oder auch Schadstoffe (Noxen), sie alle treten erhöht im extrazelluläre Raum auf bei epileptischer Aktivität, Migräne und Schlaganfall. Dann diffundieren diese Substanzen und können noch nicht betroffenes Gewebe beeinflussen. Die Spreading Depression bzw. Depolarisation ist der bedeutendste Prozess im Hirn, der sich so ausbreitet. Die Wirkung der extrazellulären Diffusion kann mit Hilfe mathematischer Modelle verstanden werden. Bei Epilepsie und Migräne können anatomische Besonderheiten in verschiedenen Regionen des Gehirns eventuell die überssteigerte Erregung erklären. Eine Frage, an der ich aktuell forsche.

Spreading depolarization (SD) and epileptic seizure activity (ESA) are the two principal pathologic network events in the cortex characterized by a precisely coordinated temporal and spatial spread of neural activity. Their propagation mechanisms along and across the anatomical borders have remained enigmatic.

Ein Auszug aus unserem Forschungsprogamm am Bernstein Zentrum in Berlin. Wie verändert sich neuronale Aktivität durch anatomische Grenzen?

Bei Schlaganfall kommt es aufgrund eines beeinträchtigten Energiestoffwechsels zu Störungen, bei denen ebenso die anatomische Struktur des Nervengeflechts zu berücksichtigen ist.

Unser Verständnis von neuronalen Schaltkreisen und Netzwerken ist also sehr begrenzt, denn es berücksichtigt bisher diese Art der neuronalen Kommunikation kaum.

 

Fußnote

*Im Vortag im Video verspricht sich Terry Sejnowsky, es sind 6μm * 6μm * 5μm, also 180 Kubikmikrometer.

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Markus Dahlem forscht seit über 20 Jahren über Migräne, hat Gastpositionen an der HU Berlin und am Massachusetts General Hospital. Außerdem ist er Geschäftsführer und Mitgründer des Berliner eHealth-Startup Newsenselab, das die Migräne- und Kopfschmerz-App M-sense entwickelt.

5 Kommentare

  1. Induktion durch Potential

    Ganz interessanter Gedanke… Informationsübertragung abseits der neuronalen Vernetzung.

    Wenn im neuronalen Apparat kleine Potenzialunterschiede herrschen (also Ströme fließen), dann sollte es auch die Möglichkeit geben, dass sich Informationen über elektromagnetische Felder übertragen. Diese Informationen müssen jedoch nicht “regulär” sein – also einer normalen Systematik entsprechen. Auch vorstellbar nämlich sei eine Informationsübertragung, welche keine logische ergänzung zum normalen biochemischen System darstellt – die “normale” Funktion des jeweiligen Gehirnbereiches durch benachbarte Aktivität also beeinflußt/beeinträchtigt. Emotionen (in entsprechender Intensität) könnten solcher Art Einflüsse darstellen, die, wie wir ja wissen, die Funktion des Gehirns erheblich beeinflussen/beeinträchtigen.

    Potenzialunterschiede führen zu elektromagnetischen Feldern, die wiederum zur Induktion von Potenzial in benachbarten Bereichen führen wird, deren eigendliche neuronale Aufgabe und Funktion dadurch beeinträchtigt wird.

    Dazu bedarf es dann noch nicht mal eine Art Diffusion von Substanzen durch den extrazellulären Raum.

    Ich bin nicht vom Fach – vielleicht ist das ja mit “volume transmission” gemeint?

  2. Verschiedene Arten

    Ich erlaube mir einmal das Abstract folgendes Artikels zu zitieren.

    Agnati LF, Zoli M, Strömberg I, Fuxe K.
    Neuroscience. 1995 Dec;69(3):711-26.
    Intercellular communication in the brain: wiring versus volume transmission.

    Zuvor aber noch der Hinweis, dass es auch “ephaptic coupling” gibt, das über E-Felder läuft. Hierzu hier mehr. Auch dies wird dem Volume Transmission zugeordnet.

    During the past two decades several revisions of the concepts underlying interneuronal communication in the central nervous system have been advanced. We propose here to classify communicational phenomena between cells of the central neural tissue under two general frames: “wiring” and “volume” transmission. “Wiring” transmission is defined as intercellular communication occurring through a well-defined connecting structure. Thus, wiring transmission is characterized by the presence of physically identifiable communication channels within the neuronal and/or glial cell network. It includes synaptic transmission but also other types of intercellular communication through a connecting structure (e.g., gap junctions). “Volume” transmission is characterized by signal diffusion in a three-dimensional fashion within the brain extracellular fluid. Thus, multiple, structurally often not well characterized extracellular pathways connect intercommunicating cells. Volume transmission includes short- (but larger than synaptic cleft, i.e. about 20 nm) and long-distance diffusion of signals through the extracellular and cerebrospinal fluid. It must be underlined that the definitions of wiring and volume transmission focus on the modality of transmission and are neutral with respect to the source and target of the transmission, as well as type of informational substance transmitted. Therefore, any cell present in the neural tissue (neurons, astroglia, microglia, ependyma, tanycytes, etc.) can be a source or a target of wiring and volume transmission. In this paper we discuss the basic definitions and some distinctive characteristics of the two types of transmission. In addition, we review the evidence for different types of intercellular communication besides synaptic transmission in the central nervous system during phylogeny, and in vertebrates in physiological and pathological conditions.

  3. signal diffusion

    “signal diffusion” bedeutet also, dass nicht Substanzen diffundieren, sondern das Signal. Das deutet auch oder nur auf ein elektrisches Feld hin. Vielleicht sind sie sich da noch nicht sicher.

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