Genetik der Migräne

BLOG: Graue Substanz

Migräne aus der technischen Forschungsperspektive von Gehirnstimulatoren zu mobilen Gesundheitsdiensten.
Graue Substanz

Eine genetisch bedingt fehlerhafte Regulation des erregenden Botenstoffs – und Gewürzverstärkes – Glutamat könnte ein Risikofaktor für Migräne sein, wie eine genomweite Assoziationsstudie nun belegt.

Wenn 65 Forscher aus 13 Ländern an einem Großprojekt forschen, dann denke ich unweigerlich an Teilchenbeschleuniger und an die Suche nach den Bausteinen der Materie. Aber auch bei den Bausteinen des Lebens, der Genetik müssen Institutionen länderübergreifend zusammenarbeiten. Die weltweit größte Genetikstudie in der Migräneforschung wurde nun in der Zeitschrift Natur Genetics veröffentlicht [1].

Gefunden wurde erstmals ein genetischer Risikofaktor für Migräne. Es gab zwar schon ähnliche Befunde in einer seltenen Unterform der Migräne, der familiären hemiplegischen Migräne (FHM),  aber diese Form ist eher atypisch in ihrem Symptomverlauf. Diese alten Befunde unterscheiden sich auch dadurch, dass bei FHM ein ursächlich hinreichender Gendefekt gefunden wurde, so dass sich diese Unterform der Migränekrankheit klassisch nach den Mendelschen Gesetzen vererbt. Der nun neue genetische Risikofaktor prädisponiert ihre Träger nur für eine Migräneerkrankung.

Kein Migräne-Gen und auch keine Channelopathie 

In der aktuellen Studie wurden zunächst 2731 Migränepatienten und 10747 Probanden aus Kontrollgruppen untersucht. Die überraschenden Ergebnisse mußten und konnten dann nochmals bestätigt werden mit zwei sogar etwas größeren Gruppen (3202 Patienten und 40062 Probanden).

 

Überraschend waren in meinen Augen zwei Sachen.

Zum einen, dass überhaupt eine genetische Grundlage gefunden werden konnte. Vermutet wurden nämlich multifaktorielle Merkmale, also eine verzwickte Wechselwirkung mehrerer Gene mit zusätzlichen Umweltfaktoren. In diesem Fall würde Migräne zwar immer noch familiär gehäuft auftreten, aber es können nur sehr schwierig wenn überhaupt genetische Merkmale in einer Studie lokalisiert werden. Da natürlich auch vorab keine Kandidatenregion im Genom bekannt war, führten die Forscher eine sehr aufwendige genomweite Assoziationsstudie (GWAS) durch. Diese führte nun tatsächlich nach gut zehn Jahren Forschung zum Erfolg.

Damit ist nun aber kein Migräne-Gen gefunden, sondern eher genau das Gegenteil. Ein solches gibt es offensichtlich nicht, sondern nur genetische Risikofaktoren. Entdeckt wurden Genvarianten im Band des langen Arm des Chromosoms 8, bezeichnet mit dem Kürzel 8q22.1, welches in dem vereinfachten Idiogramm rechts von der National Library of Medicin noch gar nicht zu finden ist.  Aber das ist eher ein Detail. Die Träger dieser Variante sind also  prädisponiert für eine Migräneerkrankung.

Der zweite für mich überraschende Punkt ist, was für eine physiologische Veränderung diesem Gendefekt zugrunde liegt. Oder eigentlich muss ich schreiben, was für eine es nicht ist. Es sind nämlich keine Veränderung in der Dynamik der Ionenkanäle von Nervenzellen. Krankheiten, die damit in Verbindung stehen werden auch als Channelopatie bezeichnet. Überraschend ist also, dass Migräne keine Channelopatie ist, wie doch einige Forscher vermuteten. Dies lag zunächst nahe, da in der sehr seltenen Unterform der familiären hemiplegischen Migräne solche Veränderungen auftraten, nämlich in dem transmembranen Na+– und Ca2+-Kanal einer Nervenzelle und auch in ihrer Na+-K+-Pumpe. (Wobei Na+, Ca2+ und K+  für die entsprechenden Ionen von Natrium, Calcium und Kalium stehen.)

Die jetzt veröffentlichten Resultate deuten auf eine genetisch bedingte Fehlregulation des hauptsächlichen Glutamat-Membrantransporters hin. Die Bedeutung des Neurotransmitters Glutamat war hinlänglich bekannt – nicht zuletzt durch die landläufige Bezeichnung China-Restaurant-Migräne verursacht durch Glutamat den Gewürzverstärker. Auch eine genauere Sicht auf die Physiologie, welche allerdings in dem Paper nicht weiter erwähnt wurde, will ich anmerken.

Gewürz- und Entladungsverstärker

Eine Besonderheit des Glutamats ist, dass dieser Neurotransmitter, sobald er einmal durch Gehirnaktivität freigesetzt wurde, nicht gleich metabolisiert wird, also abgebaut und damit unschädlich wird. Glutamat kann nur über Membrantransporter aus dem extrazellulären Raum entfernt werden. Membrantransporter spielen also die zentrale Rolle im Glutamathaushalt.

Seit ziemlich genau 20 Jahren weiß man, dass Membrantransporter, die in den glialen Helferzellen sitzen, ihre Transportrichtung umdrehen, also Glutamat freisetzen, sobald das extrazelluläre K+ sich stark erhöht. Ein Teufelskreis kann entstehen, in dessen Folge Nervenzellen sich nahezu komplett entladen [2]. Damit wäre eine Fehlregulation des Membrantransporters konsistent mit der Theorie, dass eine Welle neuronaler Entladung (spreading depression, SD) durch diesen Gendefekt entsteht bzw. ihre Entstehung im Gehirn wahrscheinlicher wird.

Bedeutung für Krankheitsursache

Im letzten Absatz beschreibe ich nur meine persönliche erste Vermutung, die mir spontan in den Kopf kam. Denn noch liefern diese spannenden neuen Daten keinen Aufschluss über die zwei konkurrierende Mechanismen, die ich gerade erst am 30. August hier vorgestellt habe. Nämlich, dass diese Welle neuronaler Entladung (spreading depression, SD) sowohl die Aura auslöst als auch den Kopfschmerz.

SD Theorie der Migräne
Führt ein gestörter Glutamathaushalt zu SD, die wiederum die Aura und Kopfschmerzen verursacht?

Oder könnte der hohe Glutamtspiegel für beides getrennt Verantwortlich sein?

Migräne
Glutamat könnte beides: Aura und (verzögert) Kopfschmerzen verursachen.

Die Autoren schreiben dazu

Migraine headache is believed to be caused by activation of the trigeminovascular system and the aura by cortical spreading depression, a slowly propagating wave of neuronal and glial depolarization. However, these are considered to be downstream events, and it is unknown how migraine attacks are initiated.

und kommen dann zu dem Schluß

It is reasonable to speculate that this accumulation can increase susceptibility to migraine through increased sensitivity to cortical spreading depression as well as through glutamate involvement in central sensitization.

Diese Frage bleibt also weiter spannend. Da in dieser Studie nur aus wenigen europäischen Kopfschmerzkliniken Patienten rekrutiert wurden, bleibt es auch abzuwarten, ob diese Gruppe repräsentativ ist und sich die Ergebnisse in einer größeren Gruppe mit einem breiteren Verlaufsspektrum der Migränekrankheit wiederfinden.

 

Literatur

[1] Anttila et al., Genome-wide association study of migraine implicates a common susceptibility variant on 8q22.1, Nature Genetics, 2010 42,869–873

[2] Szatkowski M, Barbour B, Attwell D.  Non-vesicular release of glutamate from glial cells by reversed electrogenic glutamate uptake. Nature, 1990 348,443-446.

Ein sehr gute Zusammenfassung der Studie findet sich auch aus erster Hand auf den Seiten der Schmerzklinik Kiel, die unter Leitung von Prof. Hartmut Göbel maßgeblich an dieser Studie beteiligt war.

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Markus Dahlem forscht seit über 20 Jahren über Migräne, hat Gastpositionen an der HU Berlin und am Massachusetts General Hospital. Außerdem ist er Geschäftsführer und Mitgründer des Berliner eHealth-Startup Newsenselab, das die Migräne- und Kopfschmerz-App M-sense entwickelt.

29 Kommentare

  1. Sehr spannend…

    …sind Ihre Ausführungen und die Ergebnisse (die ich aufgrund der ca. 50.000 Probanden sehr wohl als repräsentativ einstufen würde) der Studie natürlich für mich als Betroffene.

    Endlich gibt es einen konkreten Anhaltspunkt und das “Fischen im Trüben” scheint ein Ende zu haben. Nun sieht es wohl so aus, dass man “nur” noch eine Möglichkeit finden muss, den Membrantransporter im schnelleren Abbau des sich stauenden Glutamats zu unterstützen und damit die neurogene Entzündung und/oder SD gar nicht erst entstehen zu lassen? Solange Ihre These der stillen Aura (halte ich für plausibel)noch nicht bestätigt ist, muss man wohl davon ausgehen, dass das Glutamat beides getrennt verursacht: die SD und die Kopfschmerzen.

    Sehr interessant finde ich auch die Tatsache, dass Glutamat im Geschmacksverstärker bei Clusterpatienten nahezu zu 100 % einen Anfall triggert. Beim Migräniker scheint es wohl meist nur das Fass zum Überlaufen zu bringen. Diese Erfahrung mache ich immer wieder. Stehe ich schon kurz vor einem Anfall (habe bereits typische Vorboten)löst von außen zugeführtes Glutamat ganz zuverlässig und sehr schnell den Anfall aus. Geht es mir insgesamt gerade gut, bewirkt das Glutamat nur einen starken Druck an den Schläfen, löst aber keine Attacke aus.

    Wieso also reagieren Clusterpatienten hier so stark? Cluster und Migräne “funktionieren” ja völlig anders. Vielleicht kann nun die sehr vernachlässigte Gruppe der Clusterpatienten ebenfalls von dieser Entdeckung profitieren?

    Herzliche Grüße
    Bettina Frank

  2. repräsentativ einstufen

    Hallo Frau Frank,

    die Kritik, ob dies nun eine repräsentative Studie ist, habe ich aus der Veröffentlichung aufgegriffen:

    As our cases were mainly selected from specialized headache clinics, subsequent studies are needed […]. These population-based cohorts may represent a different severity spectrum and possibly also a somewhat different underlying combination of genetic susceptibility variants.

    Herzliche Grüße
    Markus Dahlem

  3. Repräsentativ?

    Lieber Herr Dahlem,

    Ihre Bemerkung konnte in keinster Weise als “Kritik” aufgefasst werden und mein Kommentar dazu ist selbstverständlich rein persönlicher Natur. ;)Wie könnte es auch anders sein?

    Herzliche Grüße
    Bettina Frank

  4. Übertragungsleistung oder Kommentar

    Bei Blogbeiträgen zu Veröffentlichungen anderer Autoren (das mache ich ja eigentlich selten) ist es schon wichtig, zu kennzeichnen, was ein reine Übertragungsleistung ist, also eine allgemeinverständliche “Popularisierung” von Forschung und was dagegen Kritik (positiv wie negativ) oder Kommentar.

    Deswegen war ich für Ihren Hinweis sehr dankbar. Denn dieser Punkt schränkt ja nicht die tollen Ergebnisse nun stark ein, sondern verweist auf noch weitere spannende Forschung.
    Und diesen Punkt überhaupt bedacht zu haben, der ja die zukünftige Forschung aufzeigt, ist den Autoren anzurechnen.

    Herzlichst
    Markus Dahlem

  5. Wie groß ist denn das Risiko?

    Spannender Beitrag; wie groß ist aber denn nun das Risiko, an einer Migräne zu erkranken, wenn man diese “Risikogene” hat? Habe ich das überlesen?

  6. @Stephan

    Ich zitiere einfach mal den Abstract des Papers

    Migraine is a common episodic neurological disorder, typically presenting with recurrent attacks of severe headache and autonomic dysfunction. Apart from rare monogenic subtypes, no genetic or molecular markers for migraine have been convincingly established. We identified the minor allele of rs1835740 on chromosome 8q22.1 to be associated with migraine (P = 5.38 × 10^−9, odds ratio = 1.23, 95% CI 1.150–1.324) in a genome-wide association study of 2,731 migraine cases ascertained from three European headache clinics and 10,747 population-matched controls. The association was replicated in 3,202 cases and 40,062 controls for an overall meta-analysis P value of 1.69 × 10^−11 (odds ratio = 1.18, 95% CI 1.127–1.244). rs1835740 is located between MTDH (astrocyte elevated gene 1, also known as AEG-1) and PGCP (encoding plasma glutamate carboxypeptidase). In an expression quantitative trait study in lymphoblastoid cell lines, transcript levels of the MTDH were found to have a significant correlation to rs1835740 (P = 3.96 × 10^−5, permuted threshold for genome-wide significance 7.7 × 10^−5). To our knowledge, our data establish rs1835740 as the first genetic risk factor for migraine.

  7. @ Sebastian

    Okay, danke.

    Menschen mit diesen “Risikogenen” sind also je nach Untersuchung etwa 1,18- bis 1,23-mal so Wahrscheinlich (odds ratios), eine Migräne zu entwickeln, als Menschen ohne.

    Zum Vergleich: Die relative Wahrscheinlichkeit, durch starkes Rauchen an Lungenkrebs zu erkranken, beträgt 15:1, d.h. eine odds ratio von 15 (zit. n. Kendler, 2005, Am. J. Psychiatry, S. 1246), das ist also ca. 12,5-mal so viel.

  8. multfaktorieller Faktor

    Das Risiko ist sehr klein. Wobei ich diesen Faktor eher mit anderen
    multifaktoriellen Erbkrankheiten vergleichen würde, kenne dazu aber keine Zahlen.

    Weiß da jemand was? Würde mich doch sehr interessieren. Denn ein Vergleich mit dem Risiko des starkes Rauchen liefert eine recht beliebige Benchmark.
    So oder so, ich denke darum geht es in diesem Artikel nicht.

    Zu dem Risiko und dessen Bewertung hat z.B. der Wissenschaftsjournalist Volkart Wildermuth im DLF geantwortet auf die Frage, was diese Erkenntnisse bringen

    Erstmal wenig. Gentests bieten sich da wirklich nicht an, aber schon bei diesem Glutamatbefund von heute kann man wirklich sagen, das hilft den Forschern, neue Ideen zu entwickeln, neue Richtungen für die Entwicklung von Medikamenten.

    Das weißt in eine Richtung. Mich selber hat z.B. nun die Tatsache doch erstaunt (wie ich ja ausgeführt habe), das es keine Channlopathie ist, oder besser eine solche Komponente nicht als erstes gefunden wurde.

  9. @ Markus: nochmal Risiken

    Ich finde den Vergleich mit dem Rauchen nicht so beliebig, denn einerseits ist es common sense, dass Rauchen die Gesundheit gefährdet, andererseits wissen alle, dass nicht alle Raucher Lungenkrebs kriegen. Die OR von 15 ist also ein guter Bezugspunkt für einen ordentlichen aber nicht deterministischen Effekt. Ich hätte auch die industrielle Aussetzung gegenüber Asbest und ein Mesotheliom anführen können oder ernsthafte Lebensereignisse und Depressionen. Die Risiken dafür bewegen sich alle in diesem relativ soliden Bereich.

    Gerade wenn Sebastian Mediziner ist (ich dachte erst, er sei Biologe), dann muss m.E. die Frage nach der Effektgröße ganz automatisch kommen. Denn du hast zwar voll und ganz Recht (so habe ich zumindest deinen Artikel verstanden), dass Funde wie der von dir beschriebene für Forscher interessant ist, um darauf neue Hypothesen aufzubauen. Dass sich diese verschwindend geringen genetischen Einflüsse aber eben nicht für den Praxiseinsatz ausschlachten lassen, sollte eigentlich klar sein.

    Meine theoretische Frage an dich wäre, wie du bei den “multifaktoriellen Erbkrankheiten” auf die Idee kommst, es würde sich um Erbkrankheiten handeln. Ich weiß nicht genau, was dir vorschwebt, aber wenn ich mir die Befunde zu psychischen Erkrankungen anschaue (die sind ganz sicher multifaktoriell), dann ist dort häufig gerade mal die Gen-Umwelt-Interaktion signifikant, Genotyp allein nicht, Umwelt aber sehr wohl. Da lässt sich m.E. schwer von einer Erbkrankheit sprechen, auch wenn die Gene bei bestimmter Umwelt etwas an den Risiken schrauben.

  10. multifaktoriellen Erbkrankheiten

    @Stephan

    Der Begriff “Erbkrankheiten” in meinem letzte Kommentar war
    schlicht unpassend. Danke für den Hinweis.

    Ich meinte und frage mich folgendes:

    Ist bei komplexen Erkrankungen wie z.B. Asthma, Diabetes, Alkoholismus (diese nennt Sebastian)
    oder Herz-Kreislauf-Leiden und Zuckerkrankheit (siehe Volkart Wildermuth), die auf multifaktorielle
    Merkmale zurückgeführt werden können, ein genetischer Risikofaktor von 1,23 (also 1,23-mal so Wahrscheinlich) ein typischer Wert,
    oder ist er niedrig oder gar hoch?

    Dass Betroffene und Mediziner das wiederum im Relation mit anderen Risiken setzen ist
    völlig normal und richtig. Mich würde nur interessieren, was man bei multifaktoriellen
    Merkmalen überhaupt erwarten darf an typischen Anteil der genetischen Risikofaktoren.

    Würde mich freuen, wenn hier jemand Zahlen kennt.

  11. eben auf PubMed…

    Habe mich eben auf PubMed ein bischen umgeschaut und ein paar Studien zu Asthma, Diabetes und Alkoholismus gefunden. Die ORs, dass bestimmte Gene und Genabschnitte mit diesen multifaktoriellen Krankheiten assoziiert werden, liegen dabei meistens zwischen 1, irgendwas und 3. Je nachdem, in welcher Bevölkerung die Studie durchgeführt wurde und natürlich auch abhängig vom Genabschnitt.

    Ich denke daher, dass ein Faktor von 1,23 im “Normbereich” liegt. Welche genauen Schlüsse daraus aber zu ziehen sind, wage ich mich jetzt nicht auszusprechen.

    Ach ja, Stephan, ich studiere Biologie, bin also kein Mediziner ;-P

  12. multifaktoriellen Krankheiten

    Vielen Dank Sebastian.

    Jetzt wäre in der Tat die Frage, welche genauen Schlüsse daraus aber zu ziehen sind oder bei anderen Krankheiten bisher daraus gezogen werden konnten.

    Ich kenne mich leider viel zu wenig bei dieser Sache aus. Wäre das nicht mal ein spannender Blogbeitrag: “Multifaktorielle Krankheiten”, für jemanden 😉

  13. @ Sebastian: noch einmal odds

    Ich denke daher, dass ein Faktor von 1,23 im “Normbereich” liegt.

    Ja, im Normbereich der praktischen Irrelevanz. Das war ja gerade der Punkt in dem zitierten Paper von Synofzik: Auf diesen winzingen Risiken lassen sich eben im Einzefall keine Entscheidungen gründen.

    Du bist also doch Biologe? Hmm, dann habe ich wohl deinen Satz “Als Mediziner würde ich aber…” (3.10., 11:47 Uhr in deinem Blog) falsch verstanden. 🙂

  14. @ Markus, Sebastian

    Wie gesagt, ich kann nur für den Bereich psychischer Erkrankungen sprechen, wo ich mich wenigstens etwas auskenne.

    Ich selbst habe von dem Artikel “A Gene for…”: The Nature of Gene Action in Psychiatric Disorders von Kenneth Kendler, Am J Psychiatry 162:1243-1252, 2005, sehr profitiert, der mit Blick auf die neuen Gen-Befunde am Beispiel psychischer Erkrankungen einige zentrale theoretische Aspekte durchdiskutiert.

    Ich werde mich des Themas sicher mal wieder im Blog annehmen. Tatsächlich ging es in meinem allersten Beitrag (Die Macht der Gene?) schon einmal darum. Bezeichnenderweise werden diese Befunde (publiziert in Science, 2003) inzwischen jedoch als nicht replizierbar angesehen (Doch kein Depressions-Gen). Dennoch ziehen manche Kollegen schon weitreichende Schlüsse aus Einzelbefunden, bsp. über die Verantwortung von Eltern bei der Entstehung bestimmter Erkrankungen, so jüngst auch wieder beim “ADHS-Gen” (vgl. Die entschuldigende Funktion der Naturwissenschaft inklusive Replik von Nils Brose, Abteilungsleiter am MPI Exp. Medizin).

  15. Konzequenzen aus der Studie?

    Für mich sind die erblichen Komponenten erstmal nebensächlich. OR 1,3 oder sogar 3 – für wen könnten das relevante Anhaltspunkte darstellen? Sicher wäre das Thema “Multifaktorielle Krankheiten” sehr interessant zu diskutieren, aber wohl nicht im Zusammenhang mit dieser Studie. 😉

    Also, welche Schlüsse zieht man nun tatsächlich aus der Erkenntnis, dass bei Migräne eine Besonderheit an einem Chromosom vorliegt? Doch sicher nicht, die Migräne am Ausbruch zu hindern. Dieses Anliegen wäre wohl sehr vermessen, da zur Zeit sicher noch unmöglich.

    Was nun aber sehr realistisch erscheint, ist die Möglichkeit, nun erstmal eine Prophylaxe zu entwickeln, die primär zur Bekämpfung der Migräne eingesetzt werden kann. Eventuell auch als Attackenmedikation, ohne die gefürchteten Komplikationen des medikamenteninduzierten Dauerkopfschmerzes.

    Übrigens, ist es so falsch, von der Migräne als einer Erbkrankheit zu sprechen? Zumindest bei der Migräne mit Aura hat man herausgefunden, dass sie familiär vererbt wird.

  16. Deterministische Geneffekte /@Stephan Sc

    Lieber Herr Schleim, von verschwindend geringen genetischen Einflüssen bei multifaktoriellen Krankheiten würde ich nicht sprechen, auch wenn sich bei epidemischen Untersuchungen geringe ORs ergeben. Und zwar deshalb nicht, weil dem Organismus überhaupt kein anderes Instrumentarium zur Verfügung steht, um gesund zu bleiben (wie immer man auch “gesund” definieren mag). Gene determinieren die Struktur der Proteine auf höchst komplexe Weise*, und das Zusammenspiel der Proteine determiniert, wie ein Organismus auf die Umwelt reagiert und wie gut er insgesamt funktioniert. Das schließt auch das Gehirn mit ein. Letztlich ist es also das Genom, von dem alles abhängt, so trivial das vielleicht auch klingen mag.

    * siehe Joe Dramigas letzten Blog-Beitrag.

    (Ich sehe jetzt, dass Sie eben einen Literatur-Tipp gepostet haben—danke dafür. Mal sehen, ob der meine Auffassung ändert 🙂

  17. @ Balanus

    Letztlich ist es also das Genom, von dem alles abhängt, so trivial das vielleicht auch klingen mag.

    Dann ist also die theoretische Diskussion zum genetischen Reduktionismus der letzten drei bis vier Jahrzehnte an Ihnen spurlos vorbei gegangen; ebenso wie die neueren Funde zur Steuerung der Gene durch Umwelteinflüsse (Stichwort Epigenetik)?

    P.S. Ich dachte, wir wären in einem unserer zahlreichen Streitgespräche schon mal beim “du” angekommen.

  18. Harrisons über Gene

    “Es wird zunehmend klar, dass jede Krankheit mit Ausnahme von einfachen Verletzungen eine genetische Komponente hat. Alleine durch die Familienanamnese von Patienten wird bereits offenkundig, dass Bluthochdruck, koronare Herzkrankheit, Asthma, Diabetes mellitus und psychische Erkrankungen signifikant durch den genetischen Background beeinflusst werden.” (2005, Kapitel 56)

    Die schrittweise Aufklärung der genetischen Hintergründe von Migräne ist allein deshalb sinnvoll, weil sie die Vorgehensweise unterstützt, bei der Differentialdiagnose familienanamnestische Informationen zu berücksichtigen. Migränefälle in der Familie machen die Diagnose Migräne (statt z.B. Spannungskopfschmerz) wahrscheinlicher. Wenn auch, bei einer OR von 1,2, möglicherweise nur ganz wenig wahrscheinlicher.

  19. Du, @Stephan,…

    …wir waren also beim Du angekommen? Schön… 😉

    Ich habe ja oben angedeutet, dass Gene über Proteine den Organismus aufbauen. Das geschieht natürlich im Wechselspiel mit der Umwelt. Für die Perzeption der Umwelt sind aber ebenfalls Proteine verantwortlich. Der ganze epigenetische Apparat ist das Ergebnis genetischer Instruktionen.

    Das habe ich Dir alles schon mal erklärt. Ist wohl wenig hängen geblieben? 😉

    (Weitere Diskussionen dazu gerne demnächst auf Deinem Blog… 🙂

  20. Gene für… /@Stephan

    Der von Dir verlinkte Aufsatz von K. Kendler richtet sich primär an die Adresse der Psychiater. Der darin aufgeführte “Gene-Talk” (Gen X für Krankheit Y) ist Biologen ja eher fremd. Genprodukte sind, wie gesagt, in erster Linie Proteine. Wenn aufgrund eines bestimmten Gendefekts ein nicht funktionierendes Protein produziert wird, kann das unter Umständen zu einer ganz bestimmten Erkrankung führen. In der Regel sind die Zusammenhänge aber sehr viel komplizierter. Meist kommt es auf das fein regulierte Zusammenspiel eines ganzen Gen-Ensembles an, damit alles ordentlich funktioniert. Der gemessene Beitrag einzelner Gene an einer Erkrankung mag dann ziemlich gering sein. Aber das bedeutet nicht, dass Gene für diese Erkrankung keine große Rolle spielen würden. Das wäre ein Trugschluss.

  21. Last words

    Ich stimme zu, dass wir hier Markus’ Blog nicht belagern müssen.

    Meine last words @ Bolt an dieser Stelle: Ist Ihnen bewusst, dass es ein Fehlschluss ist, von einer Familienhäufung auf einen genetischen Einfluss zu schließen?

    Und @ Balanus:

    Wie lassen sich

    Letztlich ist es also das Genom, von dem alles abhängt, so trivial das vielleicht auch klingen mag.

    und dann später

    Das geschieht natürlich im Wechselspiel mit der Umwelt.

    miteinander vereinbaren? Platziere eine befruchtete Eizelle in die falsche Umgebung und alle Gene zum Trotz wird daraus kein Lebewesen. Dass du den Genen den Vorzug gibst, ist deine Hypothese.

  22. Blog belagern

    Hallo an alle!

    Ich finde die Diskussion bis dahin schon passend und fühle mich gar nicht belagert. Wobei alles Weitere und Grundsätzliche zur Genetik dann vielleicht doch zu weit führen würde.

    Es wäre aber schlecht, wenn am Ende wirklich Dinge, denen widersprochen gehört, hier so stehen bleiben, denn es lesen ja nicht alle unbedingt anderswo weiter.

    Vielleicht war in diesem Sinn Stephan Schleims Kommentar ein nettes Schlusswort und wir können die weitere Diskussion wieder spezifischer auf Migräne lenken.

  23. Channelopathien und Migräne

    Endllich der von mir ersehnte Artikel ;-).
    Ich muss zugeben, ich hatte auch auf einen defekten Ionenkanal getippt. Aber wenigstens ein Hinweis auf die Pathogenese und die Signaltransduktion. Wenn es ein Maus-Modell mit konditionaler Expression des defekten Gens gäbe, könnte man glaube ich ein paar Schritte weiterkommen. Aber gibt es bei der Maus ein neurologisches Syndrom was phänotypisch der menschlichen Migräne ähnelt?

  24. Tiermodel für Migräne

    Endlich die von mir ersehnte Frage könnte ich da antworten ;-).

    Gibt es bei der Maus oder in anderen Tiermodellen ein neurologisches Syndrom was phänotypisch der menschlichen Migräne ähnelt?

    Eigentlich Nein! Und das ist genau der Knackpunkt der Migräneforschung, denn wir müssten uns einigen, was die Pathophysiologie der Migräne ist.

    Bei FHM wurde z.B. gezeigt, dass die Suszeptibilität für die Welle neuronaler Entladung (spreading depression, SD) höher ist [3]. In der Gruppe von Mike Moskowitz wird auch an einen Tiermodel geforscht, in dem SD dann den Schmerzauslösung via Hirnstamm erzeugt. Aber es gibt auch andere Theorien und damit Tiermodelle.

    Das ist ein neuen Blogbeitrag wert.

    Literatur
    [3] Maagdenberg, et al.,High cortical spreading depression susceptibility and migraine-associated symptoms in Ca(v)2.1 S218L mice. Ann. Neurol., 67 2010,
    siehe auch: Tottene, et al., Neuron, 61 2009

  25. Migräne ein 7. Sinn?

    Bin selbst selbst seit meinem 5. Lebensjahr Migränniker(bin Jg.1957), angeblich auslösend damals: Eine Gehirnhautentzündung, Erklärung der Ärzte: Narbenboldung. Meine Migräne hat sich über die Jahre immer wieder verändert. Bei Ortswechseln (Umzügen) hat sie sich meist verbessert, um sich anch 3-4 Jahren wieder stärker bemwerkbar zu machen. Heute merke ich die Anzeichen früh, v.a. sind bestimmte Akkupunkturunkte dann sehr schmerzempfindlich. Über akkupressur lassen sich Auruaphase manchmal unterdrücken bw. verkürzen. Habe seltenMedikamente genommen, maximal Aspitin. Auraphase kenne ich auch, früher danach heftige Kopfscmerzen, seit etwa 12 Jahren bleiben diese Gott sei dank aus.

    Meine Trigger:

    Nicht mehr ganz frisches Schweinefleisch (Eiweszersetzung?), Würste v.a. geräucherte
    “Wiener/Frankfurter”, Wetterwechsel (Vorföhn), Milch die nicht ganz frisch ist (Eiweißabau?) , Übermüdung, spätes langes nächtliches Autofahren mit viel Gegenlicht (Horror: Blaues Xenonlicht) , Wildschweinfleisch auch wenn frisch., Currygerichte, Curry als Trigger war eine Zeit lang sogar als Geruch auslösend: Hintergrund Übelkeit nach überwürztem nicht frischem Schweinefleischgericht (ffenbar programmiert auf Curry, aber Schweinefleich auslösend gewsen).
    Meine Meinung als ” Alter Darwinianer” : Migräne mag ein alter, vesrchütteter 7.Sinn sein, und durchaus mit dem allergischen Krankheitskreis verwandt sein. Allergien entstehen ja tlw. auch aus direkter (Immun-) abwehr, von Dingen, die der Organismus einmal nicht veretragen hat (z.B. zu frühe Gabe von Obst/Fremdeiweiß bei kleinkindern, wo Stoffe die Darmschranke überschreiten, weil Darm noch nicht ausgereift ist und eigentlich unschädliche Substanzen, eine Abwehr auslösen). Immunabwehr greift dann später weiter, auch wenn Darmschranke geschlossen. Deswegen sind Kinder oft gegen Exotische Früchte kaum allergisch .. etc.

    Begründung: Migräne wird immer ausgelöst von Dingen, die eigentich nicht gesund oder schädlich sein können. Oder bereits einmal zu Problemen führten(s.o. Curry).

    Eine Horde unserer Vorfahren mußte gesichert unterziehen, wenn es einigen
    nicht gut ging weil z.B. das Wetter bald umschmiß.

    Oder war gewarnt vor “Aas” und schlechter Nahrung, wenn ein paar überempfindliche Naturen oder Nasen dabei waren.
    Nachdem in der Gruppe auch viel spontan gelernt wird (Stichwort: Lernen durch Kopieren oder sogar spiegelneuronales Kommunizieren) kann Migräne durchaus eine solche “Fähigkeit” zum Schutze des Individuums und der Gruppe gewesen sein.

    Deswegen wird es auch sinnvoll gewesen sein, dass nicht alle Gruppenmitglieder gleichzeitig davon befallen wurden, die Verteidigungsmöglichkeit der Hore hätte so wohl gelitten. Migräniker könnten durchaus “Seher” gewesen sein, im Sinne von vorausahnen und fühlen.

    Und selbst wenn meine These nicht stimmen sollte: Alleine ist es gut, wenn man diesen Zustand icht immernegativ belegt , man lebt sich dochleichter, wenn
    man die Migräne mental derart besetzt.

  26. Glutamat

    Glutamat in Chips lösen bei mir immer sofort Sehstörungen aus. Allerdings nicht immer ein Vollbild mit Anfall.
    Anscheinend habe ich sämtliche Formen der Migräne schon mal gehabt, aber was ich mir nun selbst erarbeitet habe, ist, dass ich scheinbar eine persistierende Aura habe und mein Leben ist völlig aus den Fugen. Da ich dachte, ich bekomme jedesmal einen neuen Anfall, lebe ich in ständiger Angst und Erwartungshaltung und kann mich nicht richtig entspannen, was die Sache noch verschlimmert. Es ist furchtbar und ich bete, dass bald was gegen die Aura erfunden wird, die Aura ist mein Lebensproblem! Hätte einmal nur ein Arzt dies diagnostiziert, hätte ich mein Leben anders eingeteilt. Ich werde fünfzig und habe einen Bürojob. Alles Falsch! Eben habe ich einen Selbstversuch gemacht und eine selbstgemachte Pizza mit Thunfisch und Mozzarella gegessen. Fünf Minuten vergangen und nun habe ich eine Aura!

  27. .

    Hallo Frau Kiehlmeier,

    vielen Dank für Ihren Kommentar und alles gute!
    Ich denke es geht vielen so und es hilft denen sicher solche Erfahrungen auszutauschen.

    Ich kann diesbezüglich auch das Form der Schmerzklinik in Kiel (Headbook.me) empfehlen.

    Viele Grüße,
    Markus Dahlem

  28. Danke!

    Lieber Herr Dahlem,

    vielen Dank für Ihre Antwort.
    Ich habe Glutamat und Hefezusatz, so weit es geht, aus meinem Essen verbannt und probiere es mal mit histaminarmer Kost, ob meine Aura weniger wird.

    Auch lasse ich mir einen Termin bei Prof. Göbel in Kiel geben, um zu erfahren, ob ich tatsächlich eine persistierende Aura habe.

    Ich wünsche Ihnen auch alles Gute es grüßt Sie
    Doris Kiehlmeier

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