Stresstest [Kandidaten für den Anglizismus des Jahres]
Tagebücher der Wissenschaft
Über das Wort Stresstest habe ich ja vor ein paar Wochen schon geschrieben, als die Gesellschaft für deutsche Sprache es zum Wort des Jahres 2011 wählte. Als ich dann bekanntgegeben habe, dass Stresstest auch für den Anglizismus des Jahres nominiert ist, wurde gleich vermutet, dass wir keine Lust haben würden, das Wort sozusagen als Zweitverwerter noch einmal zu ehren.
Aber diese Art von strategischem Denken ist der Jury der besten Wörterwahl der Welt völlig fremd — möge das beste Wort gewinnen, ist unser Motto. Deshalb soll natürlich auch das Wort Stresstest angemessen diskutiert werden, bevor es nächste Woche an die Entscheidungsfindung geht.
Wie ich in meinem Beitrag zum Wort des Jahres schon angedeutet habe, ist das Wort aus sprachwissenschaftlicher Sicht etwas langweilig: Es ist ein einfaches Kompositum, das aus den Wörtern Stress („erhöhte Beanspruchung, Belastung physischer oder psychischer Art“ Duden, s.v. Stress) und Test („nach einer genau durchdachten Methode vorgenommener Versuch, Prüfung zur Feststellung der Eignung, der Eigenschaften, der Leistung o. Ä. einer Person oder Sache“ Duden, s.v. Test) die Bedeutung „Test, bei dem Reaktionen auf Stress gemessen werden“ (Duden, s.v. Stresstest) macht. Genauer könnte man es definieren als „nach einer genau durchdachten Methode vorgenommener Versuch, Prüfung zur Feststellung der Reaktionen einer Person oder Sache auf erhöhte Beanspruchung, Belastung physischer oder psychischer Art“ — man würde also einfach die Bedeutungen von Stress und Test regelhaft kombinieren.
Interessant ist dabei höchstens, dass das Wort Stress im Deutschen die Hauptbedeutung „psychische Belastung“ hat, während die Lesart „physische Belastung“, die für das Wort Stresstest die relevantere ist, bestenfalls randständig ist. Auf jeden Fall aber sind sowohl Stress und Test, als auch Stresstest eindeutig aus dem Englischen entlehnt, und letzteres füllt eine Lücke, die nur teilweise durch das in medizinischen Zusammenhängen vorkommende Belastungstest (das übrigens nicht im Duden steht) gefüllt wird.
Wie sieht es aber mit dem Alter und der Verbreitung des Wortes aus? Das Wort taucht im Deutschen Referenzkorpus erstmals 1997 auf, ist also schon etwas älter. Es führt dann aber mit einem kleinen Aufleuchten 2003 bis zum Jahr 2009 ein absolutes Nischendasein, steigt dann 2010 leicht an und explodiert 2011 dann geradezu.

Die ersten Treffer stammen interessanterweise alle aus dem Zürcher Tagesanzeiger — es könnte also sein, dass Stresstest über die Schweiz in den deutschen Sprachraum eingewandert ist (oder, dass Schweizer Texte im betreffenden Jahr im Korpus überrepräsentiert sind). Gleich im ersten Treffer vom April 1997 geht es übrigens um einen Stresstest der Finanzmärkte.
Zwei Jahre später, im März 1999 findet sich (ebenfalls im Zürcher Tagesanzeiger) erstmals eine Verwendung mit Bezug auf den Gesundheitsbereich (dort ist, wie oben angedeutet, das Wort Belastungstest üblicher. Auch aus Österreich gibt es einen Treffer mit dieser Bedeutung.
Der erste Treffer in Deutschland ist aus dem Mannheimer Morgen vom Juni 2000, auch dort geht es um Gesundheit — allerdings um die von Börsenmaklern, womit der Bogen zu den Finanzmärkten wieder geschlossen wäre:
Als Zusatzbehandlung erhielt die Hälfte der Patienten die Empfehlung, sich einen Hund oder eine Katze als Haustier anzuschaffen. Ein neuerlicher Stresstest trieb den Blutdruck der tierlosen Börsenhändler wieder in alt bekannte Höhen. Dagegen war der Anstieg bei den Tierbesitzern nicht einmal halb so hoch, wie das Blatt berichtete. [Haustiere helfen bei Stress, Mannheimer Morgen, 2.6.2000]
Aus dem selben Jahr und der selben Quelle ist die erste Verwendung, bei der ein Gegenstand einem Stresstest unterzogen wird. Bei diesen drei Bedeutungen bleibt es dann eine Weile, wobei das Stresstesten von Finanzmärkten und -institutionen die dominante Bedeutung bleibt. Sie ist auch für den kleinen Außreißer nach oben in 2003 verantwortlich: Die Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht führte in diesem Jahr einen umfassenden Stresstest der Versicherungsbranche durch.
Im Jahr 2005 findet sich dann eine Verwendung, in der es um den Stresstest eines Computersystems geht, und 2009 wird das Wort zum ersten Mal auf eine Sportmannschaft bezogen (danach folgen ähnliche Treffer):
Nürnbergs Trainer Michael Oenning … warnt vor der Atmosphäre im ausverkauften Stadion der Freundschaft: „Wir werden versuchen, kühlen Kopf zu bewahren und unsere Linie durchzuziehen.“ Auch sein Cottbuser Kollege Bojan Prasnikar schwört seine Elf auf den ultimativen Stresstest ein: „Ich werde nur Spieler einsetzen, die alles für den Verein geben.“ [Cottbus setzt auf Kampf, Rhein-Zeitung, 27.5.2009]
Insgesamt bleibt aber die Anwendung auf den Finanzsektor auch 2009 und 2010 absolut dominant. 2010 ist dies im Prinzip die einzige Verwendung, die sich im DeReKo findet.
Das Jahr 2011, in dem die Häufigkeit fast um den Faktor 10 ansteigt, ist dann eine Art Superstresstestjahr: Anfang des Jahres geht die Diskussion der Bankenstresstests weiter, ab April kommen Atomkraftwerkstresstests dazu, und ab Juli dann auch noch die Kopf- und Durchgangsbahnofsstresstests. Dazwischen finden sich weiterhin vereinzelte Gesundheits-, Produkt- und Fußballmanschaftsstresstests. In einem Jahr, in dem die Ziellosigkeit und Entscheidungsunfähigkeit der politischen Akteure einen Höchststand erreichte, wurde gestresstestet, was das Zeug hielt, damit man nur ja keine eigenen Lösungen für die Finanzkrise, den panikartigen Atomausstieg und das Vergraben eines Kleinstadtbahnhofs entwickeln oder verteidigen musste.
Die Gesellschaft für deutsche Sprache hat das Wort Stresstest also durchaus berechtigterweise zum Wort des Jahres erklärt, und auch auf den Anglizismus des Jahres darf es trotz seines Alters Anspruch erheben. Es konnte sich im Jahr 2011 nicht nur in seiner Häufigkeit extrem steigern, sondern auch in der Breite seiner Anwendungsbereiche. Es ist deshalb ein klarer Kandidat für die Endrunde.
© 2012, Anatol Stefanowitsch