Wie viel Fach soll es denn bitteschön sein?

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Ein ewiger Diskussionspunkt in der Ausbildung von Mathematiklehrerinnen und Mathematiklehrern ist: Wie fachbezogen muss das Studium eigentlich sein? Wie groß sollten die Anteile an Fachwissenschaft und Fachdidaktik sein? Welche fachlichen bzw. fachdidaktischen Inhalte sind relevant?

Während in einigen Bereichen die fachliche Ausbildung oft für zu wenig weitführend gehalten wird (z.B. im Haupt- und Realschulbereich), wird in anderen Bereichen (z.B. im Gymnasiallehramt) oft die geringere fachdidaktische Ausbildung und der geringe Praxisbezug bemängelt. Das Ganze wird insbesondere in Baden-Württemberg von jeder Menge Vorurteilen begleitet, die – überspitzt formuliert – von „Die Unis machen schulirrelevante Unimathematik im Studium.“ bis „Die PHs machen nur Kindermathematik.“ reicht. Vorurteile schaden einer konstruktiven Diskussion aber eher, als das sie nützen.

Wertvoll ist ein Blick in Studien, die sich mit Fragen der Lehrerprofessionalität im Fach Mathematk befasst haben. Zwei populäre Beispiele sind die COACTIV-Studie [1] und die Studie TEDS-M 2008 [2]. COACTIV wurde im Kontext des PISA-Durchgangs 2003/4 durchgeführt und hat die beteiligten Sek-1-Lehrerinnen und -Lehrer beforscht. TEDS-M 2008 war eine internationale Studie, die Lehrkräfte im letzten Jahr ihrer Ausbildung in den Blick genommen hat (in Deutschland also Referendarinnen und Refendare). Im Zuge einer Vortragsvorbereitung habe ich mich mal näher mit diesen beiden Studien befasst. Im Folgenden fasse ich mal ein paar Ergebnisse zusammen (und lasse Details weg, bei Bedarf bitte nachlesen oder nachfragen):

  • Professionswissen von Mathematiklehrerinnen und Mathematiklehrern wird aus mehreren Komponenten bestehend konzeptualisiert, in Orientierung an gängigen Einteilungen von Shulman, Bromme usw. Hierzu zählen unter anderem die drei wesentlichen Komponenten Fachwissen (subject matter content knowledge), fachdidaktisches Wissen (pedagogical content knowledge) und allgemeines pädagogisches Wissen (pedagogical knowledge). Im Folgenden beziehe ich mich auf die ersten beiden davon.
  • Fachwissen wird konsistent als „Elementarmathematik vom höheren Standpunkt“ (Felix Klein) aus konzeptualisiert: Es wird das Fachwissen betrachtet, dass für das Verständnis der schulrelevanten Inhalte auf akademischem Niveau notwendig ist.
  • Alle Studien zeigen: Fachwissen und fachdidaktisches Wissen korrelieren, und zwar zu einem hohen Teil. Nichtsdestotrotz scheinen Fachwissen und fachdidaktisches Wissen zwei unterscheidbare Wissenskomponenten zu sein, die sich auch empirisch gut trennen lassen. Punktum: Es scheint so zu sein, dass fachdidaktisches Wissen zu einem größeren Teil aus fachlichem Wissen gespeist wird, zumindest in Deutschland (international gibt es hier erhebliche Unterschiede).
  • Untersucht man den Zusammenhang zwischen Fachwissen und fachdidaktischen Wissen bei Gymnasiallehrkräften (Gym) und anderen Sekundarstufen-1-Lehrern (NGym), dann zeigt sich in der Regel, dass das Fachwissen und das fachdidaktische Wissen bei Gym sehr stark zusammenhängt, werden beide Wissenskomponenten bei NGym nicht so hoch korrelieren (aber trotzdem noch hoch). Dies bedeutet, dass NGym-Lehrer eher über zusätzliches fachdidaktisches Wissen verfügen, das nicht so sehr mit Fachwissen zusammenhängt. Bei Gymnasiallehrkräften scheint sich das fachdidaktische Wissen fast vollumfänglich aus dem Fachwissen zu speisen.
  • Jetzt wird’s interessant: Wenn man nun vergleicht, wer mehr Fachwissen und mehr fachdidaktisches Wissen hat, dann zeigt sich homogen über alle Studien: Gym besitzt sowohl mehr Fachwissen als auch fachdidaktisches Wissen. Kontrolliert man das Fachwissen (vergleicht also nur Lehrer mit ähnlichem Fachwissen), dann besitzt NGym mehr fachdidaktisches Wissen. Also: absolut gesehen haben Gymasiallehrerinnen und -lehrer in beiden Bereichen die Nase vorn, relativ zum Fachwissen gesehen haben NGym mehr Fachdidaktik drauf. Daraus kann man zwei Dinge schließen: Fachwissen ist enorm wichtig, auch als Basis für fachdidaktisches Wissen. Und: Es gibt fachdidaktisches Wissen, das sich nicht aus dem Fachwissen speist, wie der NGym-Bereich zeigt.
  • COACTIV hat darüber hinaus gezeigt: Einen wesentlichen Einfluss auf Unterrichsqualität und kognitive Aktivierung von Schülerinnen und Schülern hat das das fachdidaktische Wissen. Das Fachwissen ist deutlich weniger prädiktiv für Aspekte der Unterrichtsqualität.
  • Insgesamt scheint weiterhin die Frage problematisch zu sein, wie man eigentlich fachdidaktisches Wissen umfassend misst. In den Studien scheint eher fachdidaktisches Wissen, das in punktuellen Handlungssituationen relevant ist, bzw. eher stoffdidaktisches Wissen gemessen worden zu sein. Planungswissen hinsichtlich längerfristiger Unterrichtseinheiten oder einzelnen Unterrichtsstunden bzw. Wissen bzgl. didaktischen Theorien und Modelle scheint nur unzureichend berücksichtigt worden zu sein.

Fazit: Fachwissen und fachdidaktisches Wissen scheinen stark zusammenzuhängen, bilden aber trotzdem eigene Wissenskomponenten. Fachwissen ist dabei „erheblich notwendig“, aber nicht „komplett hinreichend“ für fachdidaktisches Wissen. Beide Studien (und auch weitere bzw. verwandte Studien wie P-TEDS oder TEDS-LT) zeigen somit: Fachbezogenes Wissen ist in der Mathematiklehrerausbildung ausgesprochen wichtig. Und wenn man genauer hinsieht, zeigt COACTIV: Dieses Wissen erwirbt man tendenziell im Studium, die Berufspraxis tut wenig dazu. Und das das letztlich auch passiert (also dass man im Studium diesbezüglich was lernt), zeigt der Vergleich mit Quereinsteigern.

Was lernen wir daraus: Jegliche Änderungsbestrebungen von Studiengängen, welche die fachlichen Anteile reduzieren, ignorieren maßgebliche empirische Studien. Punkt. Fachlichkeit (und zwar sowohl fachwissenschaftliche als auch fachdidaktische) darf nicht reduziert werden. Für den NGym-Bereich müsste man sogar verlangen, Fachlichkeit auszubauen, um den empirisch nachgewiesenen Nachteil gegenüber Gym auszugleichen. In Baden-Württemberg beispielsweise studieren Haupt- und Realschullehrer drei Fächer. Letztlich müsste man eigentlich zum Zwei-Fach-Studium übergeben (international scheint es übrigens auch oft Einfachlehrer zu geben), um mehr Zeit für das einzelne Fach zu gewinnen. Das Generalistentum scheint im Bereich Mathematik eher zu schaden als zu nützen. Und natürlich: eine Verlängerung des Studiums im NGym-Bereich auf Gym-Studiendauer (falls dies noch nicht geschehen ist).

Welche Schlüsse zieht ihr aus den Studien?

Literatur:

[1] Kunter, M., Baumert, J., Blum, W., Klusmann, U., Krauss, S., & Neubrand, M. (Eds.). (2011). Professionelle Kompetenz von Lehrkräften. Ergebnisse des Forschungsprogramms COACTIV. Münster: Waxmann.

[2] Blömeke, S., Kaiser, G., & Lehmann, R. (Eds.). (2010). TEDS-M 2008: Professionelle Kompetenz und Lerngelegenheiten angehender Mathematiklehrkräfte für die Sekundarstufe I im internationalen Vergleich. Münster: Waxmann.

Alles hat damit angefangen, dass Christian Spannagel mal gerne Lehrer werden wollte. Für Mathe und Latein. Man hat ihm damals abgeraten, weil es keine Stellen gibt und so. Stattdessen hat er Informatik studiert (was ihm auch Spaß gemacht hat). Irgendwie ist er trotzdem in den Bildungsbereich geraten. Zur Computernutzung beim Lernen und Lehren promoviert, zunächst an der Pädagogischen Hochschule Ludwigsburg in der Mathematik- und Informatiklehrerausbildung tätig, nun Professor für Mathematik und ihre Didaktik an der Pädagogischen Hochschule Heidelberg. Inhaltlich beschäftigt er sich zudem mit Informatikdidaktik, E-Learning und öffentlicher Wissenschaft. Gerne schaut er über seinen Tellerrand (vielleicht hat sich ja eine Pommes verflüchtigt). In diesem Blog wird er sich allgemein mit Bildungsfragen befassen - da gibts viel zu sagen, und zwar aus ganz verschiedenen Perspektiven: Pädagogik, Psychologie, Fachdidaktiken, Neurodidaktik, Bildungspolitik, Schulpraxis, Hochschuldidaktik, E-Learning, ... (bitte ergänzen Sie die Liste durch drei weitere Disziplinen und begründen Sie Ihre Wahl!) Ach ja: auf Twitter ist er als @dunkelmunkel zu finden. Follow me! :)

9 Kommentare

  1. Lernen Mathematiklehrer dazu?

    Am überraschensten an den COACTIV-Ergebnissen ist für mich folgendes (Zitat Wikipedia):“Es ergibt sich keinerlei positiver Zusammenhang zwischen Unterrichtserfahrung (Anzahl der bislang unterrichteten Jahre) und Fachwissen bzw. fachdidaktischem Wissen. Dies legt nahe, dass das Wissen von Mathematiklehrkräften i.W. in der Ausbildung erworben wurde.”

    Das bestätigt doch das alte Vorurteil vieler Gymmasiasten, Mathe-Lehrer sei ein wenig fordernder Job wo alles Wissen, das der Mathe-Lehrer hat, schon von der Uni mitgebracht werde und diesen Stoff könne der Mathelehrer dann jedes Jahr wiederholen – und tue es auch.

    Gibt es überhaupt so etwas wie Weiterbildung bei den Mathelehrern. Bräuchte es das? Und könnte es etwas bewirken?

  2. Schülerfragen

    Vielleicht kann man sich darauf einigen, dass ein Mathematiklehrer über so viel Fachwissen verfügen sollte, wie zur Beantwortung von Schülerfragen notwendig ist. Fragen, die mir von Schülern gestellt wurden sind z.B.:
    1) In der Wahrscheinlichkeitsrechnung beginnt man damit, einzelnen Ergebnissen Wahrscheinlichkeiten zuzuordnen. In der Oberstufe hat man als Ergebnismenge die reellen Zahlen und diese Zuordnung funktioniert nicht mehr. Warum? (Die Antwort liegt tief in der Maßtheorie. Leider habe ich schon mit Mathelehrern gesprochen, die nicht wussten, dass die Problematik mit Überabzählbarkeit der reellen Zahlen zu tun hat.)
    2) Kann man allen Mengen reeller Zahlen Wahrscheinlichkeiten zuordnen? (Hat man Wahrscheinlichkeitstheorie gelernt, sagt man: Natürlich nicht, deshalb hat man ja die sigma-Algebren.)
    3) Im Buch steht: Bei n-stufigen Bernoulli-Ketten werden die Wahrscheinlichkeiten multipliziert, weil die Versuche unabhängig sind. Warum verstehe ich das nicht? (Weil es Unsinn ist. Erstens ist in den meisten Büchern vorher nur von der Unabhängigkeit zweier Ereignisse EINES Versuchs die Rede und eben nicht von der Unabhängigkeit zweier Versuche und zweitens wird die Unabhängigkeit von Versuchen durch die Multiplikation der Wahrscheinlichkeiten erst definiert. Hat man an der Uni einmal vernünftig Produktmaße definiert, sieht man den Fehler sofort.)
    3) Der Beweis, das die Wurzel von 2 eine irrationale Zahl ist, überzeugt mich irgendwie nicht. Bin ich jetzt dumm? (Nein. Übrigens überzeugt dieser Beweis die Intiutionisten bzw. Konstruktivisten unter den Mathematikern auch nicht. Weiß man, wenn man sich ein bisschen mit mathematischer Logik beschäftigt hat.)
    4) Wenn eine Zahl auf dem Zahlenstrahl die Länge 0 hat, dann haben unendlich viele Zahlen hintereinander doch auch die Länge 0. Warum hat dann der Zahlenstrahl trotzdem eine Länge? (Liegt an der Überabzählbarkeit. Tatsächlich haben abzählbar unendlich viele Zahlen immder die Länge 0.)
    5) Wenn die Wurzel aus 2 unendlich viele Nachkommastellen hat, dann kann man doch 3^(Wurzel 2) gar nicht rechnen, oder? (Doch. Wird in der Analysisvorlesung sauber über Grenzwerte hergeleitet.)
    6) “Null Komma Periode Neun” kann doch nicht gleich 1 sein. Kommt nur mir das so komisch vor? (Nee. Macht man ganz normal in der Nicht-Standard-Analysis.)
    7) Sind sich Mathematiker immer über alles einig? (Nein, z.B. nicht über das Zornsche Lemma bzw. Auswahlaxiom bzw. transfinite Induktion.)
    8) Wenn man unendlich viele Nachkommastellen hat, dann müsste man doch irgendwie hinten noch was anhängen können, oder? (Klar. Macht man in der Ordinalzahltheorie.)
    9) Gibt es was größeres als unendlich? (Klar. Sonst gäbe es ja keine Kardinalzahltheorie. Schon die Potenzmenge einer unendlichen Menge hat eine größere Unendlichkeit.)
    10) Ist in der Mathematik immer alles definiert? (Nein. Z.B. zeigt man in der Rekursionstheorie, dass man nicht definieren kann, was rechnen ist.)

    Die Liste ließe sich beliebig verlängern. Leider treffe ich vermehrt junge Mathelehrer, die alle Fragen falsch beantworten und diesen Umstand nichteinmal bemerken, weil sie glauben, die Schulmathematik, die sie an der Uni nochmal gemacht haben, sei schon die gesamte Mathematik. Wenn ein Lehrer nicht weiß, dass er nicht alles weiß, kann man ihn meiner Meinung nach nicht auf junge Menschen loslassen.

  3. Über das Lemma von Zorn

    … sind wir uns doch einig, nicht wahr?

    Sonst kann ich dem letzten Kommentar nur zustimmen.

  4. Lieber Christian, Du warst doch einer derjenigen die durchgedrückt haben, dass der Didaktikanteil im Staatsexamen bei GHS-Prüfungen stärker als der fachliche Anteil bewertet wird.
    Grüße
    Micha

  5. @m,g,

    Beziehungsweise: stimmt nicht ganz. Der Fachdidaktik-Teil wird ja nicht stärker gewichtet als der Fachteil, sondern gleich stark. Aber ich hatte mich für eine Stärkung des Fachdidaktikteils von 33% auf 50% ausgesprochen, ja.

  6. Lehrerfortbildungen

    @Martin Holzherr Wenn man Hattie glauben darf, ist “Professional Development” hocheffektiv. 😉 Hier auch immer die Frage: Fort- und Weiterbildungsmaßnahmen sind nicht per-se gut oder schlecht, sondern es kommt drauf an, wie sie gestaltet werden. Nachmittagsworkshops sind eher unnachhaltig. Coaching / Begleitung über einen längeren Zeitraum / Bildung von “communities of practice” sind vielversprechendere Ansätze, also alles, was letztlich die konkrete Erprobung im Alltag befördert und stützt…

  7. Das Problem bei der Gym-Ausbildung sehe ich aber eher darin, dass während des Studiums die Korrelation, die die Studie nennt gar nicht deutlich wird. Natürlich sollte ein_e Lehrer_in die genannten Schülerfragen zumindest diskutieren können und bewusst sein (und dann ggf. nochmal nachschlagen). Aus meiner Erfahrung möchte ich den fachlichen Anteil meiner Ausbildung nicht missen, die Motivation oder der Bezug zur Schule hat in vielen Aspekten jedoch gefehlt. Wie in vielen anderen Bereichen und Fächern erlernt der/die Mathelehrer_in eher Kompetenzen oder Strategien, wie man sich mathematischen Problemen nähert und diese bewältigt. Ein “mathematisches Denken” erlernt sich eben nicht anhand eines Stoffkanons, sondern entwickelt sich im Laufe der Zeit mit den Erfahrungen (und Übungen), die während der Mathematikausbildung gemacht werden.

  8. Precht über Hattie: Äpfel+Birnen

    Precht äusserst sich im TA (Zürich) vom 22.4.2013 über Hatties Studie so:
    “Hattie hat sämtliche verfügbaren Daten aus Schulprojekten in seinen COmputer gefütter, miteinadner verknüpft und geschaut, was herauskam. Da wurdenÄfel mit irnen und Kartoffeln verbacken. Das war ein grosser Unsinn.”
    Precht hat nämlich gerade selbst ein Buch über die Schule herausgebracht: “Anna, die Schule und der liebe Gott”
    Viel Reformpädagogik, Abschaffung von Schulnoten, Befreiung des Schülers wird da gefordert.
    Allerdings scheint mir da Precht nur etwas aufzugreifen, was schon älter ist und letztlich darauf herausläuft die Gesellschaft mit einer neuen Art der Schule neu zu konzipieren.
    Mich erstaun, dass Leute wie Precht in Deutschland ernst genommen werden, Leute, die geistig immer noch im Idealismus und seinen Folgeströmungen verwurzelt sind.

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