Und Hans lernt doch!

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Die meisten hier kennen bestimmt das alte Sprichwort: Was Hänschen nicht lernt, lernt Hans nimmermehr. Heutzutage erklären sich viele Menschen das Sprichwort mit dem Umstand, dass das Gehirn “ausgewachsen” ist und sich deshalb schwieriger an neue Dinge gewöhnen kann – alle Verbindungen sind aufgebaut, keine neuen Zellen entstehen, also gehen viele davon aus, dass das Gehirn “zu starr” für neues ist. Aber stimmt das denn auch? In den letzten Jahren hat die Wissenschaft gelernt, dass sich das erwachsene Gehirn sehr wohl noch ändert, unter Umständen extrem schnell. Hans lernt doch!

Eine der ersten Studien, die sich mit neuraler Umorganisierung befasst hat, stammt aus dem Jahr 2007: Human Adult Cortical Reorganization and Consequent Visual Distortion. In dieser Studie haben sich Daniel Dilks et al. das Gehirn des Schlaganfallpatienten B.L. betrachtet. Bei einem Schlaganfall im Dezember 2001 wurden mehrere Verbindungen in seinem Gehirn beschädigt, größtenteils zwischen seiner primären visuellen Hirnrinde und dem seitlichem Kniehöcker, beides Zentren im Gehirn die für die Weiterleitung der Informationen des optischen Systems verantwortlich sind.

Dies führte dazu das B.L. nicht blind war, aber manche Verzerrungen wahrnahm – besonders im oberen linken Feld seiner Wahrnehmung. B. L. entwickelte dort einen blinden Fleck, aber jetzt wird’s interessant: Anscheinend veränderte sein Gehirn seine Struktur, um für den verloren-gegangenen Signalweg aufzukommen. Dies drückte sich darin aus, dass manche Formen vertikal in den blinden Fleck “überflossen”, sein Gehirn versuchte also mithilfe von Informationen aus der Umgebung den blinden Fleck zu füllen.

Um zu beweisen, dass sich auch die Struktur des Gehirnes verändert, benutzten die Forscher Magnetresonanztomographie, um die aktivierten Hirnareale zu betrachten. Die strukturell unbeschädigten Areale, die für das linke untere Sichtfeld verantwortlich sind, übernahmen die Arbeit der “abgeschnittenen” Areale, verantwortlich für das obere linke Sichtfeld!

Ein anderer Fall, in dem etwas kaputtes vom Gehirn umgangen wird findet sich bei der Makuladegeneration. Bei der Makuladegeneration handelt es sich um einen fortgehenden Funktionsverlust der Gewebe am Gelben Fleck, dem schärfsten Punkt. Betroffene erleben einen wachsenden grauen oder schwarzen Fleck in ihrem Sichtfeld. Es ist schon länger bekannt, dass das Gehirn für diesen Funktionsverlust teilweise aufkommt. Bis 2009 war man der Meinung, dass nach dem Verlust des Gelben Flecks dass Gehirn den Ort, den der Mensch am häufigsten zum Fokussieren benutzt, als neuen schärfsten Punkt benutzt und dass Gehirn die betroffenen Regionen “umschaltet”.

In der Veröffentlichung Reorganization of Visual Processing in Macular Degeneration Is Not Specific to the ‘Preferred Retinal Locus’ wurde jedoch, wiederum mithilfe der Magnetresonanztomographie, gezeigt dass dies nicht der Fall ist – die Gehirnregionen, die vorher für den Gelben Fleck zuständig waren, reagieren auf Anregungen vom gesamten umliegenden Sichtbereich. Es zeigt sich also, dass auch hier das Gehirn seine Verkabelungen umschaltet.

Wir sehen also, in extremen Fällen kommt das erwachsene Gehirn mit einer “Umverkabelung” zu recht. Wie aber sieht’s mit dem Lernen aus?

Der erste Beweis für die Änderung der weißen Substanz beim Lernen erfolgte 2009 in Training induces changes in white matter architecture. In dieser Veröffentlichung mussten Teilnehmer über den Verlauf von 6 Wochen jonglieren lernen. Mithilfe zweier Bildgebungstechniken betrachteten die Wissenschaftler die Gehirne vor dem Training und nach dem Training, und erstaunlicherweise hatten die Gehirne, deren “Besitzer” jonglieren übten, strukturelle Unterschiede in grauer und weißer Substanz. Anscheinend hatte sich hier durch das Lernen strukturell etwas verändert.

Keine der obengenannten Veröffentlichungen betrachtet die Veränderungen auf genetischer Grundlage, alle benutzen die (teilweise umstrittene) Magnetresonanztomographie. Sind die strukturellen Veränderungen “nur” neue Blutgefäße, oder wachsen neue Neuronen? Eine Veröffentlichung, die möglicherweise die genetischen Grundlagen für das Lernen in erwachsenen Gehirnen aufzeigt, erschien Ende August diesen Jahres in Nature Neuroscience: Neuronal activity modifies the DNA methylation landscape in the adult brain

Dabei wurden Gehirne von Testmäusen leicht unter Strom gesetzt, um neuronale Aktivität zu erzwingen. Zusätzlich wurde am Anfang, nach 4 Stunden und nach 24 Stunden genomische DNA aus den Gehirnen extrahiert. Hier zeigte sich, dass im Vergleich zwischen unbehandelten Mäusen und mit Strom behandelten Mäusen bis zu 1.4% aller Cytosine in den Neuronen der behandelten Mäuse entweder de-mytheliert oder methyliert waren. Methylierung ist eine relativ neu entdeckte Form der Genregulierung, mit deren Hilfe durch das Hinzufügen oder Entfernen einer Methylgruppe Gene “an”- oder “ausgeschaltet” werden können.

Hier zeigt sich also, dass neuronale Aktivität vom Gehirn mit unterschiedlicher genetischer Aktivität beantwortet wird – möglicherweise haben wir hier die genetischen Grundlagen für die oben beschriebenen strukturellen Veränderungen. Als Antwort auf den Strom änderte dass Gehirn die Aktivitäten seiner Zellen. Was dies genau für den Lernprozess bedeutet, ist noch ungeklärt und wird sich in den nächsten Monaten zeigen.

Es gibt noch mehr moderne Forschung, die aufzeigt wie sehr sich das menschliche erwachsene Gehirn stets verändert – wenn also das nächste Mal jemand mit obengenanntem Sprichwort ankommt, weil er oder sie zu faul zum Lernen ist: bitte einmal a) in den Hintern treten und b) diesen Artikel geben. Den Spruch hab ich als Zivi zur Genüge von älteren Patienten gehört, den will ich nicht mehr hören!

Dilks, D., Serences, J., Rosenau, B., Yantis, S., & McCloskey, M. (2007). Human Adult Cortical Reorganization and Consequent Visual Distortion Journal of Neuroscience, 27 (36), 9585-9594 DOI: 10.1523/JNEUROSCI.2650-07.2007
Dilks DD, Baker CI, Peli E, & Kanwisher N (2009). Reorganization of visual processing in macular degeneration is not specific to the “preferred retinal locus”. The Journal of neuroscience : the official journal of the Society for Neuroscience, 29 (9), 2768-73 PMID: 19261872
Scholz, J., Klein, M., Behrens, T., & Johansen-Berg, H. (2009). Training induces changes in white-matter architecture Nature Neuroscience, 12 (11), 1370-1371 DOI: 10.1038/nn.2412
Guo JU, Ma DK, Mo H, Ball MP, Jang MH, Bonaguidi MA, Balazer JA, Eaves HL, Xie B, Ford E, Zhang K, Ming GL, Gao Y, & Song H (2011). Neuronal activity modifies the DNA methylation landscape in the adult brain. Nature neuroscience, 14 (10), 1345-51 PMID: 21874013

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Philipp hat einen Bachelor in Biologie, ein Graduate Certificate in IT und studiert momentan für seinen Master in IT in einem übertrieben großen Land voller Spinnen und Schafe. Für die Bierologie schreibt er zumeist über Biologie, Evolution und allem was an den Rändern der Gebiete noch so angeschwemmt wird.

7 Kommentare

  1. Schöner Beitrag

    Danke, der Beitrag hat mir gut gefallen. Dass das Gehirn ein Leben lang formbar ist, ist doch schon bekannt, oder? Bin kein Biologe oder etwas in der Richtung. Ich habe aber gerade “Lernen” von Manfred Spitzer gelesen, und dort wurde davon gesprochen, dass das Alter etwas damit zu tun hat, wie schnell die Umformung stattfindet. Und die Rejustierung würde mit fortschreitendem Alter einfach langsamer vonstatten gehen. Gibt es in der Richtung auch neuere Erkenntnisse?

  2. Danke!

    Dass das Gehirn formbar ist, ist schon länger bekannt (ca. 15 Jahre?), hat sich meines Erachtens aber überhaupt nicht herumgesprochen. Wie weit (und wie schnell!) das Gehirn sich selbst umformt, vor allem in Reaktion auf alltägliche Prozesse wie z.B. Lernen (im Gegensatz zu Reaktionen auf Verletzungen/Störungen) ist erst seit einigen Jahren bekannt.

    Ich hab beim Schreiben auch danach gesucht, ob es Unterschiede bei der Readjustierung des Gehirns zwischen verschiedenen Altersgruppen gibt, habe aber keine Literatur dazu gefunden. Vielleicht weiß jemand anderes mehr dazu?

  3. Wissen der Psychologie

    Schön geschrieben, Philipp, aber da hättest du deinen Klienten während des Zivildienstes auch schon Jahrzehnte alte psychologische Literatur empfehlen können.

    Dass man prinzipiell auch noch im Alter lernfähig ist, weiß jeder; diese Fähigkeit nimmt aber eben im Mittel graduell ab, wenn man ein bestimmtes Alter erreich hat, siehe z.B. die vergleichende Studie

    Mitrushina, M., Satz, P., Chervinsky, A. & D’Elia, L. (1991). Performance of four age groups of normal elderly on the Rey auditory-verbal learning test. J. Clinical Psychology 47: 351-357.

  4. Plastizität

    Dass das Gehirn formbar ist, ist schon länger bekannt (ca. 15 Jahre?), hat sich meines Erachtens aber überhaupt nicht herumgesprochen.

    Oh, suche mal nach “Plastizität”, da findest du selbst auf dem Buchmarkt schon viele Treffer.

    Worauf du hier anspielst ist wohl der Fund zur Neurogenese im erwachsenen Gehirn (Eriksson et al., 1998, Neurogenesis in the adult human hippocampus, Nature Medicine, 1313-1317). Meines Wissens wurde das im Menschen sonst bisher nur noch im Bulbus Olfactorius nachgewiesen.

    Für die Erkenntnis, dass sich das Gehirn das Leben lang formt, hatten wir aber sicher nicht erst die moderne Hirnforschung nötig.

  5. Dass Lernerfolge ausschliesslich von der Motivation und nicht vom Alter abhängt, habe ich selbst erlebt. Aufgrund eines Artikels in einer Zeitung (ich weiss nicht mehr welche) Anfang der 90er Jahre über die bleibende Entwicklungsfähigkeit des Gehirns bis ins höhere Alter hatte mich dazu animiert, mein autodidaktisches Orgelspiel durch Aufnahme des Unterrichts bei einem Kantor in die richtigen Bahnen zu lenken. Zu meinem eigenen Erstaunen hatte ich nach rund zweieinhalb Jahren nahezu Konzertreife erlangt, musste dann aber aus beruflichen Gründen den Unterricht wieder aufgeben. Aber immerhin konnte ich mir beweisen, dass die Lernfähigkeit erhalten geblieben ist.

  6. Umstrukturierung und Neurogenese

    Es ist irgendwie verwunderlich, dass man jetzt erst in der Psychologie schon über hundert Jahre Bekanntes wie die Umstrukturierung des Gehirns oder Übernahme der Funktionen von durch Läsionen zerstörten Arealen des Gehirns durch andere Areale registriert. Diese Kompensation hat auch nur wenig mit Neurogenese zu tun, die leider in der populärwissenschaftlichen Literatur übertrieben und verfälscht dargestellt wird. Und zum Sprichwort: Natürlich kann man mit 80 noch Radfahren lernen, aber es dauert wesentlich länger und ist sicherlich riskanter …

  7. Der kleine Unterschied

    “Was Hänschen nicht lernt, lernt Hans nimmermehr.” Stimmt schon; Volkesmund tut hier Wahrheit kund. Bestimmte Lerndefizite in der Kindheit holt Hans tatsächlich schwer auf. Das gilt aber wohlgemerkt für Hans und nicht für Hanna!
    Interessant sind hierzu Untersuchungen von Hurrelmann:
    http:/www.jungenarbeit-online.de/bilder/Hurrelmann.pdf

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