Wissenschaftler als Kanarienvogel im Bergwerk – Die Türkei auf Abwegen
BLOG: Beobachtungen der Wissenschaft
Wer sein Leben der naturwissenschaftlichen Forschung und ihren Erkenntnissen widmet, wird sich heute mit einem besonderen Begriff schwertun, der seinen Ursprung in der Philosophie hat, dessen Heimatdisziplin jedoch nie genau festzustellen vermochte, was er eigentlich genau bezeichnet: der Begriff der „Wahrheit“. Denn die Wissenschaften lehren uns die Dynamik eines ständigen Befragens des Status quo unserer eigenen intellektuellen Solidität und die nicht endende kritische Reflexion unseres gegenwärtigen Denkens, Wissens und Meinens. Für feste und auf ewig unverrückbare Wahrheiten ist da wenig Platz.
Diese Entwicklung besitzt eine beachtenswerte Entsprechung im politischen Raum, worauf Karl Popper prominent hinwies: In der Loslösung von absoluten wissenschaftlichen Wahrheitsansprüchen lassen sich erstaunliche Parallelen zur gesellschaftlichen Herrschaftsdynamik und Machtlegitimation erkennen. Denn wie die wissenschaftliche Forschung befinden sich auch politische Entscheidungsprozesse in einem permanenten Reparaturmodus, in welchem sich seine Träger immer wieder hinterfragen und rechtfertigen müssen. In beiden führt der Weg echten Fortschritts stets über die permanente Korrektur falscher Entscheidungen bzw. Theorien. Wie die Wissenschaft ihren absoluten Wissens- und Wahrheitsanspruch aufgegeben hat und unser Wissen von der Natur als immer wieder korrigier- und erweiterbar ansieht und genau damit letzthin die historisch beispiellose moderne Fortschrittsdynamik definiert hat, so vermochten auch die offenen, anti-autokratischen und demokratischen Gesellschaften des 20. und 21. Jahrhunderts immer wieder politische Fehler und Irrwege zu korrigieren und trugen somit ihrerseits zu einer zuvor nicht minder unerreichten gesellschaftlichen Wachstums- und Wohlstandsentwicklung bei.
Die Parallelität beider Prozesse ist kein historischer Zufall. Ein Markenzeichen der am höchsten entwickelten und wirtschaftlich erfolgreichsten Gesellschaften der Geschichte ist, dass diese den freien Fluss der Ideen und das uneingeschränkte wissenschaftliche Suchen zuliessen und aktiv unterstützten. Umgekehrt waren es die Naturwissenschaften, die spätestens mit der europäischen Aufklärung die Herrschaftsansprüche der autoritären Machthaber untergruben, welche sich in ihrer Hegemonie immer wieder auf höhere Prinzipien berufen hatten. Wenn Gott nicht mehr in der Natur herrschte, so konnten sich seine Advokaten für ihre eigenen gesellschaftlichen Machtansprüche auch nicht mehr auf ihn berufen. Seit der wissenschaftlichen Revolution im frühen 16. Jahrhundert haben sich so die europäischen Gesellschaften bzw. ihre nordamerikanischen Ableger an die Spitze des wissenschaftlichen und damit auch gesellschaftlichen Fortschritts gesetzt. Akademische Freiheit war seither immer ein Tragpfeiler einer prosperierenden Gesellschaft. Unabhängige Forschung, angstfreies Lehren und Lernen dem freien Fluss der Ideen im offenen Dialog dienen also nicht nur der wissenschaftlichen Erkenntnis, sondern der gesamt-gesellschaftlichen Entwicklung und dem allgemeinen Wohlstand.
So ist es ein schlechtes Zeichen, wenn diejenigen, die sich diesem Fluss am stärksten verschreiben, in ihrem Denken, Handlungen und Wirken beschränkt werden. Autoritäre Machthaber nehmen Wissenschaftler besonders gerne und früh ins Visier (neben Künstlern, Schriftsellern und anderen Nonkonformisten, sowie natürlich jeden politischen Oppositionellen). Denn: „Nichts in der Welt wird so gefürchtet wie der Einfluss von Menschen, die geistig unabhängig sind“ (Albert Einstein). Und wenn Wissenschaftler gar verfolgt, verhaftet und eingesperrt werden, so sollte spätestens jetzt klar sein: Die offene Gesellschaft und der demokratische Staat, und damit zuletzt der ökonomische Wohlstand, sind in akuter Gefahr. Die Wissenschaftler sind die Kanarienvögel in den Kohle-Minen der politischen Entwicklung.
In nahezu exemplarischer Reinheit können wir eine solche Entwicklung momentan in der Türkei beobachten. Tausende Professoren und Dozenten wurden dort seit dem Sommer suspendiert, Hochschulen geschlossen, Dekane abgesetzt, Wissenschaftlern die Reiseerlaubnis entzogen. Kurz: Wir erleben zurzeit eine massive Einschränkung akademischer Freiheiten in der Türkei. Erst letzte Woche initiierte die türkische Regierung eine Verhaftungswelle gegen mehr als hundert Wissenschaftler (Quelle: die staatliche Nachrichtenagentur Anadolu). Ihnen wird Unterstützung einer Terrororganisation vorgeworfen, konkret eine Verbindungen zu dem islamischen Prediger Fethullah Gülen. Es ist immer die gleiche Leier in der Erdogan‘schen Repressionsmaschine. Wir kennen sie unterdessen nur allzu gut.
Wissenschaftler weltweit sind also aufgefordert aufmerksam aufzuhorchen, genau hinzuschauen und ihre fundamentale Opposition gegen die türkische Einschüchterung von Wissenschaftlern und die Einschränkung ihrer intellektuellen Freiheiten deutlich zum Ausdruck zu bringen (sowie natürlich die Einschränkung eines jeden Freiheiten). Und die türkische Regierung und Entscheidungsträger selbst sollten wissen: Sie erweisen ihrem Land und seinen Menschen einen Bärendienst. Davon können gerade die Deutschen ein Lied singen. Massenentlassungen und Drangsalierung von Wissenschaftlern besitzen in Deutschland ein trauriges Vorbild. Deutsche Universitäten verloren in den 1930er Jahren fast ein Drittel ihres Lehrkörpers, darunter Nobelpreisträger wie die Physiker Albert Einstein (dessen Relativitätstheorie nach Ansicht der Nazis „jüdische Physik” war) und Gustav Hertz, sowie den Chemiker Fritz Haber. Ganze Forschungsstätten wie das Frankfurter Institut für Sozialforschung und Fachrichtungen wie die Psychoanalyse nach Sigmund Freud wurden ausgelöscht. Göttingen hatte als ein Mekka der Wissenschaft gegolten, als Weltzentrum der Mathematik. Die Nazis brauchten nur zwei Jahre, um diesen Status komplett zu zerstören. Mit all dem setzte ab 1933 eine Emigrationswelle deutscher Wissenschaftler ein, die langfristig gravierende Auswirkungen auf die Entwicklung der Wissenschaft in Deutschland hatte. Historiker sprechen gar von einer „geistigen Enthauptung Deutschlands“ oder „Demontage deutscher Wissenschaft“. Vor 1933 galten die deutschen Universitäten und Wissenschaftseinrichtungen als die besten der Welt. Dass heute die amerikanischen diesen Ruf genießen, liegt auch an der Selbstzerstörung der Wissenschaften in Deutschland unter den Nazis. Das Land brauchte Jahrzehnte, um sich von diesem Kahlschlag zu erholen. Und die Vormachtstellung, die sich Deutschland in den ersten 33 Jahren des 20. Jahrhunderts in der Welt der Wissenschaften erarbeitet hatte, wurde bis ins 21. Jahrhundert nie wieder erreicht.
Massgeblich für die historisch beispiellose Wohlstandschaffung im Westen während der letzten 400 Jahre war die Entstehung und Entwicklung der Naturwissenschaften. Sie formten unsere heutige Welt, und tun dies heute in immer stärkerem Ausmass. Längst ist aus dem Wunsch nach Verstehen ein Wille zur Gestaltung geworden, der uns auf eine rasante, immer schneller werdende Fahrt in eine immer stärker durch die Naturwissenschaften und den auf ihr aufbauenden Technologien geprägte – und immer wohlhabendere – Zukunft mitnimmt. Das wusste schon Atatürk, der Vater der modernen Türkei. So sagte er:
Auf der Welt bilden die Wissenschaften und die Technik in der Zivilisation, im Leben für Erfolge (insgesamt) den einzig wahren Führer. Ausserhalb von der Wissenschaft einen Führer zu suchen, ist Gedankenlosigkeit, eine Dummheit, ein Irrweg.
(oft verkürzt zitiert: „Der einzig wahre Führer im Leben ist die Wissenschaft.“)
Es bleibt zu hoffen, dass sich Erdogan an dieses Einsicht seines Vorgängers und politischen Vorbildes erinnert. Falls er seine momentane Politik der Einschüchterung, Drangsalierung und Verhaftungen von Wissenschaftlern (und anderen Intellektuellen) fortführt, kommen nicht nur auf die türkische Wissenschaft und Kultur, sondern auf die Türkei als Ganzes, ihre Wirtschaft, ihren Wohlstand und all ihre Menschen schwere und leidvolle Jahre und Jahrzehnte zu. Wenn wir uns in Europa und der westlichen Welt einer solchen Entwicklung gegenüber indifferent zeigen, so könnte sich unserer eigene Zukunft als nicht weniger düster erweisen.
Die Türkei wird womöglich der erste Fall sein, in dem eine (womöglich auch unzulängliche aufklärerische) Demokratie endgültig scheitert. [1]
Zeitweises Scheitern gab es 1938 beginnend,
genau so :
-> https://de.wikipedia.org/wiki/M%C3%BCnchner_Abkommen
Die Erste Tschechoslowakische Republik gab es seit 1918, sie war imperfekt, und ist 1938 von Chamberlain geopfert worden, erklärende Dreckigkeit kann hier webverwiesen werden :
-> https://en.wikipedia.org/wiki/Peace_for_our_time
Allerdings, allerdings, konnten dort, also in der Tschechoslowakei, viele Demokraten verborgen bleiben, auch über Jahrzehnte und es ließ sich wiederherstellen – wie auch anderswo im ehemaligen “Ostblock”.
Die Türkei scheint aber ein Fall zu sein, der Irreversibilität bedeutet.
Sollte diese Annahme richtig sein, ist auch Europa absehbar von islamischer Umformung betroffen.
MFG
Dr. Webbaer (der sich erst kürzlich i.p. Segregation und Sezession von bosnischen Freunden hat beraten lassen, Segregation / Sezession gibt es dort bereits und wird womöglich auch anderswo alsbald in Europa entstehen, Stichwort: Salafistendörger – der das Intro des hiesigen dankenswerterweise zV gestellten WebLog-Artikels, ‘Wahrheit’ und ‘Popper’ und so ein wenig überladend fand, am Rande notiert: Popper hat die hier gemeinte eindringende Veranstaltung nie verstanden)
*
Salafistendörfer
Der Autor dieses Artikels widerspricht sich selber, wenn er zuerst das Hohelied auf die sich seit der Aufklärung selbst korrigierende, dem politischen Fortschrit sich widmende Politik anstimmt – nur um dann Hitlerdeutschland und das 20.Jahrhundert zu erwähnen, ein Jahrhundert in dem sich Stalin damit brüstete 20 Millionen Kulaken umgebracht zu haben um damit dem wissenschaftlich begründete Sozislismus zum Durchbruch zu verhelfen.
Und wo sind wir nun im 21. Jahrhundert: bei Erdogan, Orban und Trump, beim Syrienkrieg mit 1/4 Million Toten.
Wo sind denn die Gesellschaften, die so beschrieben werden (Zitat):
Ist damit Trumps USA gemeint oder Francois Hollands Frankreich. Oder bedeutet die Vergangenheitsform (“zuliessen und aktiv unterstützten”) das der Autor hier über die Vergangenheit und nicht über die Gegenwart schreibt.
Bliebe noch zu erwähnen, dass sich auch Wissenschaftler an ethische Grundsätze zu halten haben. Die menschenverachtenden Experimente im Dritten Reich, wie sie beispielsweise die Auschwitz-Ärzte Josef Mengele und Sigmund Rascher an Juden durchführten, dürfen nicht in Vergessenheit geraten.
http://www.sueddeutsche.de/leben/menschenversuche-die-perversion-des-heilens-1.926062
Andere wiederum, wie Julius Hallervorden und Hugo Spatz, nutzten ungeniert die Gehirne psychisch Kranker und geistig Behinderter, die der Euthanasie zum Opfer fielen, für ihre Forschungen. Manche Institute haben heute noch unter den Altlasten der damaligen Zeit zu leiden. Näheres hier: http://www.fr-online.de/wissenschaft/drittes-reich-forschung-ohne-jeden-skrupel,1472788,30650800.html
@ Herr Holzherr :
‘Der Autor dieses Artikels widerspricht sich’ nicht ‘selber’, sondern beschreibt die seit wenigen Jahrhunderten festzustellende gesellschaftliche Entwicklung in bestimmten Staaten.
Diese aufklärerisch gestimmten Staaten können zeitweise scheitern, die unzulänglich demokratische Weimarer Republik und andere sind so gemeint.
Der Sozialismus ist tatsächlich ‘wissenschaftlich begründet’ worden, der franz. Linie der Aufklärung folgend, die oft versagte, mit den Jakobinern anfangend möglicherweise, aber -mit Verlaub, Herr Holzherr, ein vertrauliches Kommentatorenverhältnis besteht ja schon seit längerer Zeit!- aber hier mit dem Verweis auf den deutschen Nationalsozialismus zu kommen und so einen ‘Widerspruch’ meinen nachweisen zu können, tsk, tsk…
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Aufklärerische Demokratien leisten hauptsächlich Folgendes:
1.) Sie implementieren tatsächlich den Willen des Wahl- oder Staatsvolks, Sapere Aude und so (wenn auch imperfekt, mehr oder weniger).
2.) Sie sichern nach innen hin friedliche Machtwechsel, ein USP sozusagen.
3.) Sie sichern nach außen hin Frieden, so gemeint:
-> https://de.wikipedia.org/wiki/Demokratischer_Frieden
4.) Sie persistieren (trotz zeitweiser Rückschläge – die Türkei wird hier wohl erstmals endgültig scheitern, genau deswegen hat sich Ihr Kommentatorenfreund in einem Feedback weiter oben auch sehr besorgt gezeigt).
Überall sozusagen, anscheinend, die Vergangenheitsform ist im dankenswerterweise bereit gestellten WebLog-Artikel womöglich ein wenig ungünstig gewählt worden, korrekt, gut aufgepasst!
MFG + schönes Wochenende!
Dr. Webbaer
Zutreffender Artikel , mit einer Einschränkung. Die Abschaffung der Freiheit geschieht nicht von heute auf morgen , durch die Etablierung einer Diktatur.
Vielmehr schafft sie sich schon vorher schrittweise selber ab . In Weimar war das die allgemeine Demokratieverachtung , heute ist es subtiler- die Zerstörung des Liberalismus durch einen mehrheitlich illiberalen Journalismus , und die Besetzung der Diskriminierungsfragen durch eine sich “korrekt” nennende , innerdemokratische Variante faschistoiden Denkens.
Zu beiden , insbesondere zur letzteren , tragen auch Wissenschaftler bei.
Nirgendwo wird die demokratiefeindliche Korrektheit aggressiver und alternativloser vertreten als in Teilen der Unis.
Interessant ist auch , daß sich die Nazis mit ihrer Wissenschaftszerstörung die einzige Chance raubten , den zweiten Weltkrieg zu gewinnen. Das wäre nur machbar gewesen , indem man selber die Atombombe hätte bauen können. Es besteht also auch ein Zusammenhang zwischen offener Gesellschaft und militärischer Schlagkraft.
@ DH :
Sie hätten die Juden behalten sollen, dann wäre es womöglich etwas geworden mit dem (u.a.) antisemitischen Nationalsozialismus, korrekt!
Nette Anmerkung, dies ist gerade auch ein Gag, nämlich, dass der Kollektivismus jeglicher Bauart die Wissenschaft behindert bis ins Rudimentäre zurückführen muss – und dann scheitert.
Kluge “Bärte” wissen sogar um dies und versuchen demzufolge die Toleranz der aufklärerischen Gesellschaftssysteme für sich zu nutzen, Anjem Choudary (PBUH) hat wie auch andere “Bärte” hierzu erfrischend offen, wie einige finden, erklärt.
Sie haben dennoch keine guten Erfolgsaussichten, können aber so (und nur so), also durch falsche ihnen im “Westen” zugestandene Toleranz, massive Schäden verursachen und dies wird ihnen ganz absehbarerweise auch gelingen, mehr aber nicht. [1]
MFG
Dr. Webbaer
[1]
Außer eben durch Segregation und Sezession Balkanisierung oder Gazaisierung zu bewirken, womit die aufklärerischen Gesellschaftssysteme später fertig werden, vielleicht sogar in Anbetracht zu erwartender technologischer Entwicklung: “en passant”.
Ansonsten müsste natürlich jetzt prohibitiv gehandelt werden: je später, desto mehr Schäden werden sich ergeben.