Wissenschaft im Wandel der Gesellschaft, Gesellschaft im Wandel der Wissenschaft – Von Ansprüchen und Erwartungen an die moderne Naturforschung

BLOG: Beobachtungen der Wissenschaft

Grenzgänge in den heutigen Wissenschaften
Beobachtungen der Wissenschaft

„Es gibt eine Neigung zu vergessen, dass die gesamte Wissenschaft an die menschliche Kultur überhaupt gebunden ist und dass ihre Entdeckungen außerhalb ihres kulturellen Rahmens sinnlos sind. Eine theoretische Wissenschaft, die sich nicht dessen bewusst ist (…) wird zwangsläufig von der übrigen Kulturgemeinschaft abgeschnitten sein“ So schrieb im Jahr 1952 einer der Väter der Quantenphysik, Erwin Schrödinger. Und tatsächlich geraten die Naturwissenschaften heute immer stärker in das Scheinwerferlicht des öffentlichen kulturellen und politischen Diskurses, vor allem aufgrund ihrer enormen Bedeutung als Triebkräfte des gesellschaftlichen Wandlungsprozesses. Und mit Atomenergie, Nanotechnologien, Genetik, Hirnforschung und zahlreichen weiteren technischen Disziplinen dringt sie auch immer weiter in Bereiche vor, die uns vor fundamentale ethische Fragen stellen. Nicht wenige Wissenschaftler sind überrascht, dass sich die diskursiven Regeln, denen sie sich in diesem Prozess ausgesetzt sehen. so ganz anders darstellen als auf ihrem eigenen Feld. Doch standen naturwissenschaftliche Erkenntnisse und technologische Innovationen nicht schon immer engerer Beziehung zur Gesellschaft, in der sie stattfinden, beeinflussen diese und werden von ihr beeinflusst, wie Schrödinger schreibt?

Zugleich sehen die Naturwissenschaften heute selbst inmitten von bedeutenden methodischen Umbrüchen. Naturphänomene immer größerer Komplexität, die sich den klassischen Labor- und Experimentalwissenschaften längst entziehen, werden mit zunehmender Genauigkeit auf Computern mathematisch modelliert und in ihrem Verhalten somit berechnet anstatt vermessen. So ist neben dem Experiment und der Theorie die numerische Simulation längst zur dritten Säule der wissenschaftlichen Forschung geworden. Bereits bestimmen auf Computern abgebildete Klimamodelle die gesellschaftliche und politische Diskussion zur Klima- und Umweltpolitik. Und mit immer komplexeren Experimenten wie dem LHC am CERN, dem Plasma-Fusionsreaktor ITER oder dem „Human Brain Project“ entsteht eine gewaltige Menge an Daten und Simulationsergebnissen, die nur mit Hilfe geeigneter Computertechnologie verarbeitet werden kann.

Und noch zwei weitere bedeutende Entwicklungen lassen sich innerhalb der wissenschaftlichen Welt beobachten: Erstens, ein enormer Anstieg in der schieren Anzahl von Wissenschaftlern. Heute gibt es zehn- bis 20-mal so viele Naturforschern als noch vor 50 Jahren. Ein solches Wachstum führt unweigerlich zu eine Wesensveränderung wissenschaftlichen Schaffens. Zweitens, Wissenschaft wird immer mehr in Grossprojekten betrieben, in denen viele Forscher vernetzt zusammenarbeiten. Grosse Forschungseinrichtungen beeinflussen die Forschungslandschaft und laufen der traditionellen, durch individuelle Wissenschaftler betriebenen Wissenschaft zunehmend den Rang ab. Das romantische Bild eines einzelnen Genies, das ungestört in Abgeschiedenheit eines Labors oder Schreibtischs nach ebenso leidenschaftlichem und wie zähem Ringen und plötzlichen Geistesblitzen zu bahnbrechend neuen Erkenntnissen gelangt und diese dann einer staunenden Öffentlichkeit präsentiert, stellt im wissenschaftlichen Forschungsbetrieb des 21. Jahrhunderts nur noch eine seltene Ausnahme dar.

Beide Trends führen dazu, dass Wissenschaftler und ihre Institute heute offen um viele Milliarden Euro buhlen, die jährlich vom Staat an Hochschulen und Forschungseinrichtungen verteilt werden. Dies hat  so manchen gestandenen Wissenschaftler zu einem hauptberuflichen Finanz- und Projektmanager werden lassen. Dabei geht es nicht zuletzt um Macht, Einfluss, Politik und Prestige. Wer meint, das Geschäft des wissenschaftlichen Arbeitens und Publizierens laufe immer nach rein sachlichen, ‚wissenschaftlichen‘ und objektiven Kriterien ab, versteht den modernen Wissenschaftsbetrieb kaum. Denn wundert sich die Welt zuweilen um die Selbstdarstellungssucht von Schauspielern oder Wirtschaftsführern, so stehen selbst gestandene Wissenschaftler diesen allzu oft um wenig nach, wenn es um diese niederen Regungen des menschlichen Gemüts. Zuletzt sind es menschliche Charakterzüge, die auch Wissenschaftler ausmachen. Sie gehen einher mit Neigungen und Abneigungen, Egos und Allüren, Ehrgeizen und Karrieresehnsüchten, Neid und Eifersüchteleien. Wo es derart menschelt, können wir nicht erwarten, dass die Auswahl bei der Finanzierung von wissenschaftlichen Projekten oder die Annahme oder Ablehnung eingereichter wissenschaftlicher Arbeiten immer objektiven Qualitätskriterien entspricht. So entsetzt viele Wissenschaftler zuweilen gar die Feindseligkeit, mit der viele Gutachter die zur Veröffentlichung eingereichten Manuskripte ihrer Kollegen zerreißen. Sie tun dies zuweilen in einer Manier, die dem Literaturkritiker Marcel Reich Ranicki zur Ehre gereicht hätte. Und wer schon einmal eine Bewerbung für eine wissenschaftliche Projektförderung ausgefüllt (oder zwischen Bewerbungen ausgewählt) hat, wird eine deutsche oder US-amerikanische Steuererklärung im Vergleich dazu als geradezu übersichtlich und zugänglich empfinden.

Steigende Komplexität der wissenschaftlichen Probleme, mangelnde Sorgfalt aufgrund des Karriere- und Konkurrenzdrucks, ein gnadenloser und unbarmherziger Publikationszwang, der zu immer mehr Quantität auf Kosten der Qualität führt, finanzielle und nicht zuletzt kommerzielle Interessen bis hin zu offenen Interessenskonflikten, in Netzwerken implizit (und explizit) geförderter Konformismus, nicht zu schweigen von handfesten militärischen und sicherheitstechnischen Verwicklungen… die Liste ernüchternder Begleiterscheinungen des modernen Wissenschaftsbetriebs liesse sich fortführen.

Eine noch nähere und grundlegendere Betrachtung der naturwissenschaftlichen Methodik und ihrem Wandel verrät aber noch mehr. Denn in ihr lässt sich zuletzt die Entwicklung eines radikalen Wandels im Erklärungsanspruch der Naturwissenschaften der letzten 100 Jahre erkennen. Und dieser besitzt eine tiefe Bedeutung für die gesellschaftliche Diskussion um ihre Erkenntnisse und ihr Wirken. Die historischen Anfänge der Naturwissenschaften liegen in der philosophischen Sehnsucht und Suche nach einer absoluten und letzten Wahrheit. Bereits bei den Vorsokratikern, den antiken Naturphilosophen vor Sokrates, entstanden die Grundlagen einer Metaphysik, die nach den letzten Gründen und Zusammenhängen suchte, die hinter den Phänomenen der Natur liegen. Ungeachtet der philosophischen Schwierigkeiten, die sich mit dem Gedanken eines absoluten und letzten Wissens von der Natur ergaben, hielt sich dieser intellektuelle Antrieb bis in die Neuzeit. Er motivierte Kepler in seiner Planetenlehre, galt Newton als Grundlage für sein mathematisches System der Mechanik und ließ die Physiker noch zu Beginn des 20. Jahrhunderts von der Einheit der Naturwissenschaften träumen. Auch die mit Descartes und Leibniz beginnende moderne Naturphilosophie leitete der Wunsch und der Glaube an die Möglichkeit absoluter Gewissheit – die ihre Begründungsprinzipien zuletzt nur im Transzendenten jenseits des sinnlich Erfahrbaren finden kann. Erst mit der Entstehung der modernen Physik beschleunigte sich ein Prozess, in welchem die Idee des Absoluten in den Naturwissenschaften systematisch zugunsten einer empiristisch-positivistischen Ausrichtung mit Bayesianisch geprägtem Methodenrahmen zurückgedrängt wird. Bekannte Beispiele sind die Ersetzung von Newtons Vorstellung eines absoluten Raums und einer absoluten Zeit durch die relationale Raum-Zeit in der Relativitätstheorie oder der neue Objektbegriff in der Quantenphysik, sowie die heute zentrale Bedeutung des Begriffs der Information in Evolutionstheorie und Genetik, den beiden Pfeilern der modernen Biologie.

Die Loslösung von einer absoluten Bestimmtheit, wie sie die Quantenphysik betrieb, lässt sich ohne weiteres als eine der größten philosophischen Einsichten des 20. Jahrhunderts bezeichnen. Wir erkennen, dass der Erfolg der Wissenschaften in den letzten 100 Jahren sein zentrales Entwicklungsmoment erst durch die konsequente Eliminierung des metaphysischen Traums vom universell Wahren gewinnt. Dazu kommt die Einsicht, dass unsere Betrachtung der Natur nicht ein von uns selbst losgelöster, subjektunabhängiger Prozess ist. Zusammenfassend können wir sagen: Die Naturwissenschaft hat sich „ent-absolutiert“. Sie sucht nicht mehr nach dem Absoluten.

In der Loslösung von absoluten wissenschaftlichen Wahrheitsansprüchen lassen sich erstaunliche Parallelen zur gesellschaftlichen Herrschaftsdynamik und Machtlegitimation erkennen, worauf Karl Popper bereits von 75 Jahren hinwies. Noch jedes Mal, wenn die Menschen glaubten, sie hätten die perfekte Gesellschaftsform gefunden, endeten sie in der Erstarrung eines despotischen Absoluten. Die Naturwissenschaften lehren uns, beständig den Status quo unserer eigenen intellektuellen Solidität zu befragen und unser gegenwärtiges Wissen (und Meinen) immer wieder kritisch zu reflektieren. Entsprechend befinden sich auch politische Entscheidungsprozesse (wie wissenschaftliche  Erkenntnisse) in einem permanenten Reparaturmodus, in welchem sich ihre Träger immer wieder hinterfragen und rechtfertigen müssen. Eine Regierungsform, in der Macht ihr Wirken korrigieren und sich demokratisch rechtfertigen oder gar abwählen lässt, ermöglicht eine ganz andere gesellschaftliche Dynamik als autoritäre Regierungsformen. Der Weg echten Fortschritts verläuft somit über die andauernde Korrektur falscher Entscheidungen. Dies löste in den offenen, anti-autokratischen und demokratischen Gesellschaften des 20. und 21. Jahrhunderts letzthin eine unübertroffene gesellschaftliche Wachstums- und Wohlstandsentwicklung aus. Wie die Wissenschaft ihren absoluten Wissens- und Wahrheitsanspruch aufgegeben hat und unser Wissen von der Natur als immer wieder korrigierbar und erweiterbar ansieht, ermöglichtem die „offenen Gesellschaften“ (Popper) eine letzthin historisch beispiellose moderne Fortschrittsdynamik. Die Parallelität beider Entwicklungen ist kaum zufällig.

Ein neuer wissenschaftlicher Pragmatismus zeigt sich besonders deutlich im Wesen der heutigen theoretischen Physik. Noch in den 1920er und 1930er Jahren erwuchsen die Einsichten der Physiker einem langen und intensiven Nachdenken über Grundbegriffe wie Raum, Zeit, Materie, Kraft und Bewegung. Erst als sie diese Fragen für sich geklärt hatten, benutzten sie die Mathematik, um ihre Theorie in die geeigneten Formen zu bringen. Einstein und seine Kollegen verstanden ihre Tätigkeit als Teil einer umfassenderen philosophischen Tradition, in der sie zuletzt auch ihre geistige Heimat sahen. Die heutige theoretische Physik dagegen ist dominiert von einem eher pragmatisch-nüchternen, bis hin zu einem instrumentalistischen Stil, der sich in den 1940er- und 1950er-Jahren aus der angelsächsisch-amerikanischen Wissenschaftstradition herausgebildet hat und eher auf mathematische Virtuosität setzt als auf die Fähigkeit, schwierige begriffliche Probleme tief zu durchdenken. „Shut up an calculate“, heißt es in einer pointierten Beschreibung dieses Stils durch den Physiker David Mermin. Erwin Schrödinger, aber auch sein Freund und Weggefährte Albert Einstein, werden sich angesichts dieser Aussage im Grab umdrehen.

Epistemologische Paradigmenwechsel, ethische Dilemmata, gesellschaftliche Kritik an ihrem Schaffen, Selbstzweifel, aber auch die zunehmende Unübersichtlichkeit wissenschaftlicher Großprojekte („big science“) und als gefährlich wahrgenommene Technologien (mit der Atombombe als ‚Mutter aller Technologie-Gefahren‘) liessen die Wissenschaften in der Wahrnehmung vieler in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts in eine wahre Wesens- und Identitätskrise geraten. Doch müssen wir immer daran erinnert werden: Die wissenschaftliche Methode per se ist alles andere als perfekt. Immer wieder hat sie uns grobe Fehler machen lassen und uns auf die ein oder andere Weise in Schwierigkeiten gebracht  – und wird dies auch weiterhin tun. Aber sie ist die mächtigste und dabei zugleich bescheidenste Methode, über die wir zur Erkenntnisgewinnung über die Natur und zur Verbesserung unserer Lebensbedingungen verfügen. Zugleich erinnert sie uns immer wieder an unser limitiertes Wissen. Sie nicht in ihrer ganzen Kapazität zu verwenden, wäre nicht nur töricht, sondern fahrlässig.

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www.larsjaeger.ch

Jahrgang 1969 habe ich in den 1990er Jahren Physik und Philosophie an der Universität Bonn und der École Polytechnique in Paris studiert, bevor ich am Max-Planck-Institut für Physik komplexer Systeme in Dresden im Bereich theoretischer Physik promoviert und dort auch im Rahmen von Post-Doc-Studien weiter auf dem Gebiet der nichtlinearen Dynamik geforscht habe. Vorher hatte ich auch auf dem Gebiet der Quantenfeldtheorien und Teilchenphysik gearbeitet. Unterdessen lebe ich seit nahezu 20 Jahren in der Schweiz. Seit zahlreichen Jahren beschäftigte ich mich mit Grenzfragen der modernen (sowie historischen) Wissenschaften. In meinen Büchern, Blogs und Artikeln konzentriere ich mich auf die Themen Naturwissenschaft, Philosophie und Spiritualität, insbesondere auf die Geschichte der Naturwissenschaft, ihrem Verhältnis zu spirituellen Traditionen und ihrem Einfluss auf die moderne Gesellschaft. In der Vergangenheit habe ich zudem zu Investment-Themen (Alternative Investments) geschrieben. Meine beiden Bücher „Naturwissenschaft: Eine Biographie“ und „Wissenschaft und Spiritualität“ erschienen im Springer Spektrum Verlag 2015 und 2016. Meinen Blog führe ich seit 2014 auch unter www.larsjaeger.ch.

20 Kommentare

  1. Howdy, Herr Jaeger,
    liest sich alles sehr zustimmungsfähig, es folgen ein paar Ergänzungen:

    A) (‘Die wissenschaftliche Methode per se ist alles andere als perfekt.’)
    Die Scientific-Method ist ‘perfekt’, vgl. :
    -> https://en.wikipedia.org/wiki/Scientific_method (leider, leider ist in der bekannten Online-Enzyklopädie kein d-sprachiger Eintrag verfügbar – weiß jemand, warum nicht?)
    -> http://www.etymonline.com/index.php?term=perfect

    B) (‘Es gibt eine Neigung zu vergessen, dass die gesamte Wissenschaft an die menschliche Kultur überhaupt gebunden ist und dass ihre Entdeckungen außerhalb ihres kulturellen Rahmens sinnlos sind.’ [Schroedinger])
    Sehr schön formuliert, im Rahmen der Naturwissenschaften erfasst das erkennende Subjekt näherungsweise, ausschnittsartig und (!) an Interessen gebunden, um in der Folge näherungsweise, ausschnittsartig und (!) an Interessen gebunden zu theoretisieren.

    C) (‘So ist neben dem Experiment und der Theorie die numerische Simulation längst zur dritten Säule der wissenschaftlichen Forschung geworden.’ [Artikeltext])
    Ein “heißes Eisen”, es drohen hier immer die Nicht-Falsifizierbarkeit und die selbsterfüllende Prophezeiung.

    D) Ethisches Bemühen der aufklärerischen Gesellschaften hat sich hier anzupassen und gerät, aus gewisser Sicht, in einen Verzug, was problematisch ist, aber wegen der Geschwindigkeit der Änderungen im Bereich der Naturwissenschaften nicht zu umgehen.

    E) Fachwörter wie (Un-)Falsifizierbarkeit oder Skeptizismus oder Aussagen wie z.B. ‘Theorien haben ein (unbekanntes) Verfallsdatum’ oder ‘Eine Theorie ist nur eine Theorie, also die Sicht auf (erfasste) Daten’ (wobei dieses Nur genau den besonderen Wert des hier kommentierten Vorgehens ausmacht) dürfen beigebracht werden.

    MFG
    Dr. Webbaer (der hier, wenn er sich korrekt erinnert, zuletzt “moderiert” worden ist, hiermit keine (besonderen) Probleme hat, aber im “Moderations”-Fall auf (gerne auch: ganz kurze) Nachricht über die hinterlassene E-Mail-Adresse hofft, denn genau dafür ist sie hinterlassen)

  2. Zitat:

    Und mit Atomenergie, Nanotechnologien, Genetik, Hirnforschung und zahlreichen weiteren technischen Disziplinen dringt sie auch immer weiter in Bereiche vor, die uns vor fundamentale ethische Fragen stellen.

    Ja, aber nicht nur die Anwendung von Technologien stellt ethische Fragen, sondern auch der Verzicht auf Technologien tut das. Dann nämlich, wenn der Verzicht auf Technologien Krankheit und Tod bedeutet. Die Aussat des Vitamin-Mangelkrankheiten verhindernden “Golden Rice” etwa, wurde von Gentechgegnern (Greepeace engagiert sich hier stark) verhindert. Der Erfinder dieses Reises Ingo Potrykus sagt dazu:

    Ist es zu krass formuliert, wenn man darauf hinweist, dass täglich 6000 Kinder an Vitamin-A-Mangel sterben, obwohl mit dem Goldenen Reis eine kostenlose, nachhaltige Lösung existiert, die ohne Gentechnikhysterie seit 2003 hätte angewandt werden können? Was ist das Verhindern von Hilfe zur Vermeidung von mittlerweile Millionen von Toten und Blinden anderes als ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit?

    Überhaupt ist mir in letzter Zeit verstärkt bewusst geworden, dass Ideen und Glaubenssysteme früher schon aber auch heute für den Tod von Menschen verantwortlich sind, denn der Mensch tötet im Namen von Ideen, ja im Namen von Idealen.

  3. Lars Jaeger schrieb (6. November 2016):
    > […] beständig den Status quo unserer eigenen intellektuellen Solidität zu befragen und unser gegenwärtiges Wissen (und Meinen) immer wieder kritisch zu reflektieren.

    Das setzt offenbar beständige und selbstverständliche bzw. mitteilbare, nachvollziehbare, absolute Begriffe der “intellektuellen Solidität” und des “kritischen Reflektierens/Befragens” voraus.

    (Wer weiß, wieso manche Darstellungen “wissenschaftlicher Methodik” ausdrücklich ohne derartig solide begriffliche Grundlagen auszukommen versuchen ?? …)

    p.s.
    > […] Stil, der sich in den 1940er- und 1950er-Jahren aus der angelsächsisch-amerikanischen Wissenschaftstradition herausgebildet hat und eher auf mathematische Virtuosität setzt als auf die Fähigkeit, schwierige begriffliche Probleme tief zu durchdenken. „Shut up an[d] calculate“, heißt es in einer pointierten Beschreibung dieses Stils durch den Physiker David Mermin.

    Soweit ich mich richtig an einen Vortrag des damals schon hochbetagten Hans Bethe erinnere, hat er diese Formulierung als seine eigene, zuerst interne “Executive Summery” der Shelter Island Konferenz 1947 aufgefasst; vgl. http://www.mediatheque.lindau-nobel.org/research-profile/schwinger#page=all

  4. Interessanter Artikel , wahrscheinlich der beste Weg , um anti-wissenschaftlichen Voruerteilen den Wind aus den Segeln zu nehmen , einfach zugeben , daß man selber genauso beeinflußt ist von der Gesamtentwicklung wie alle anderen.
    Daher sollten gerade Wissenschaftler hellhörig werden angesichts der immer weiter fortschreitenden Ökonomisierung aller Lebensbereiche.

  5. Hallo Herr Jäger,

    “Die Naturwissenschaften lehren uns, beständig den Status quo unserer eigenen intellektuellen Solidität zu befragen und unser gegenwärtiges Wissen (und Meinen) immer wieder kritisch zu reflektieren.”

    Na, Na, da überhöhen Sie die Naturwissenschaften und vermengen etwas.

    Methodische Fragen sind Gegenstand der Philosophie. Das kritische Hinterfragen eines Themas ist Philosophie. Die kulturellen Grundlagen des Wissenschaftsbetriebes kritisch zu beleuchten ist sehr lobenswert, ist aber nicht Thema der Naturwissenschaften selber.

    In diesem Zusammenhang wäre eine interessante Frage, warum es das einsame Genie nicht mehr gibt ? Wegen der Menge der Konkurrenten ? Meinen Sie, es liegt daran ? Ich glaube, das hat ganz andere Gründe.

    Und dann sagen Sie:
    “Aber sie (die Wissenschaft) ist die mächtigste und dabei zugleich bescheidenste Methode, über die wir zur Erkenntnisgewinnung über die Natur und zur Verbesserung unserer Lebensbedingungen verfügen. ”

    Also bescheiden hört sich das nicht an.

    Aber bedenken Sie: Erkenntnisse über die Natur sind für sich allein betrachtet gar nichts wert sein. Es sei denn, Sie hätten ein Schema von Werten, das es Ihnen erlaubt, diese Erkenntnisse zu strukturieren, zu ordnen und ihnen einen Nutzen – welchen auch immer – zuzuschreiben. Das dazu notwendige Schema liefert die Naturwissenschaft nicht, das macht wieder die Philosophie.

    Die Krise der Naturwissenschaften, die Sie treffend beschreiben, kann nicht überwunden werden, indem sich die Naturwissenschaft selbstbewußt auf ihre Methode besinnt (“immer wieder hat sie uns grobe Fehler machen lassen und uns auf die ein oder andere Weise in Schwierigkeiten gebracht – und wird dies auch weiterhin tun. Aber (Aber !) sie ist die mächtigste und dabei zugleich bescheidenste Methode…”).

    Wie soll das denn gehen, sich auf die eigene Methode besinnen ? Soll sie sich daraus heraus erneuern ?

    Sie kann ihre kulturelle und wissenschaftliche Krise (z.B. die mit der Quantenphysik abhanden gekommene Ontologie) nur überwinden, indem sie einen Diskurs führt über Methoden und Mittel, Werte und Ziele, Sprache und Begriffe, über Metaphysik und Transzendenz, eben über ihre Grundlagen und die Grundlagen von allem. Dazu muß sie mit Philosophen reden. Das will sie aber nicht. Sie spricht nicht mit Philosophen. Sie schaut auf diese herab.

    Das kann man ruhig auch mal so sagen.

    Das ist dann ihr ihr Fehler und Verhängnis.

    LG
    Fossilium

    • War doch nett (und bescheiden) formuliert, liebes Fossilium:

      Aber sie [wissenschaftliche Methode] ist die mächtigste und dabei zugleich bescheidenste Methode, über die wir zur Erkenntnisgewinnung über die Natur und zur Verbesserung unserer Lebensbedingungen verfügen. Zugleich erinnert sie uns immer wieder an unser limitiertes Wissen. Sie nicht in ihrer ganzen Kapazität zu verwenden, wäre nicht nur töricht, sondern fahrlässig.

      Und selbstverständlich gibt es hier eine Verbindung, vielleicht sogar eine enge, zwischen moderner Naturwissenschaftlichkeit und Philosophie, vielleicht sogar beim werten hiesigen Inhaltegeber.

      Sich auf die ‘eigene Methode zu besinnen’ geht bspw. dadurch sich ‘an unser limitiertes Wissen zu erinnern’, das ‘limitiert’ zu bleiben hat, weil in den Weltbetrieb sozusagen nicht von innen, von Betreiberseite aus, hineingeschaut werden kann, per se nicht.

      Mit Szientismus (in neg. Konnotation) hat dieses naturwissenschaftliche Vorgehen, das gerne auch aggressiv erfolgen darf, nichts zu tun, der (neg. konnotierte) Szientist versucht ja Wahrheiten zu schaffen, zu verifizieren.
      Die seit vielleicht 100 Jahren sukzessiv durchgesetzte Wissenschaftlichkeit sucht die Falsifikation, sie wird vom Inhaltegeber dem Anschein nach vertreten.

      Selbstverständlich ist diese Wissenschaftlichkeit von einem möglichst breiten gesellschaftlichen Diskurs zu begleiten, wobei hier das Mandat der Politik besonders zu beachten ist.

      MFG
      Dr. Webbaer

      • PS und kleiner Gag am Rande hierzu:

        Die Naturwissenschaften lehren uns, beständig den Status quo unserer eigenen intellektuellen Solidität zu befragen und unser gegenwärtiges Wissen (und Meinen) immer wieder kritisch zu reflektieren.

        Einstein soll einmal gesagt haben: ‘Die Definition des Wahnsinns ist, immer das selbe zu tun, und ein anderes Ergebnis zu erwarten.’
        Wobei andere meinen, dass so nicht Wahnsinn definiert worden ist, sondern modernes skeptizistisches naturwissenschaftliches Vorgehen.

        • Dr. Webbaer schrieb (8. November 2016 @ 09:56):
          > Einstein soll einmal gesagt haben: ‚Die Definition des Wahnsinns ist, immer das selbe zu tun, und ein anderes Ergebnis zu erwarten.‘

          Geschrieben (oder einem aufmerksam aufzeichnenden Publikum vorgetragen) hat Einstein dergleichen offenbar nicht.

          Allerdings ist es durchaus ein Ausdruck von Wahnsinn zu unterbreiten, dass irgendwer “verschiedene Male das Selbe” tun könne,
          anstatt verschiedene Male ggf. Gleiches,
          oder sogar Ungleiches.

          • Howdy (der tagesaktuell besonders passende Gruß womöglich an dieser Stelle), Herr Wappler.

            Allerdings ist es durchaus ein Ausdruck von Wahnsinn zu unterbreiten, dass irgendwer „verschiedene Male das Selbe“ tun könne, anstatt verschiedene Male ggf. Gleiches, oder sogar Ungleiches.

            Es gibt den Infinitiv, das Infinitivum, das bedeuten kann, dass da einer immer wieder ein und das Selbe tut (und ein Ergebnis erwartet).
            Ansonsten dürfen Sie gerne unterlassen andere zu beckmessern, halten Sie sich gerne am Gegenstand fest, hier…
            -> https://scilogs.spektrum.de/beobachtungen-der-wissenschaft/wissenschaft-im-wandel-der-gesellschaft-gesellschaft-im-wandel-der-wissenschaft-von-anspruechen-und-erwartungen-an-die-moderne-naturforschung/#comment-62 (“Kommentar 62”)
            …gelang Ihnen dies.

            Wann sich eine Handlung, ein Prozess, in unterschiedliche Schritte unterteilen lässt, so dass nicht mehr von dem Selben, sondern von dem Gleichen gesprochen und geschrieben werden könnte, bleibt eine spannende Frage.

            ..
            Der Gag weiter oben war abär nicht schlecht, woll?!

            MFG
            Dr. Webbaer (der Sie als Physiker kennt wie schätzt, aber nicht genau weiß, wo Sie einsässig sind)

        • Dr. Webbaer schrieb (9. November 2016 @ 19:40):
          > Es gibt den Infinitiv, das Infinitivum, das bedeuten kann, dass da einer immer wieder […] tut

          >Immer wieder” versteht sich doch im Sinne von “ein ums andere Mal” bzw. “viele wiederholte Male”;
          wobei vorausgesetzt wird, dass die genannten mehreren “Male” bzw. “Taten” unterscheidbar und verschieden (und sogar in einer bestimmten Reihenfolge bestimmbar) sind.

          Im Gegensatz (z.B.) zu “immer noch”, “unablässig”, “anhaltend”;
          was ein (als Gesamtheit aufgefasstes und beschriebenes, “einmaliges“, Prozess-haft fortgesetztes) “Tun” meint, nicht wahr?

          Diese Unterscheidung nicht zuletzt im Schach bedeutsam; vgl.
          https://scilogs.spektrum.de/die-sankore-schriften/paritaet-addition-eine-retroanalyse-korolkow/ (Stichwort “Wiederholung”).

          > Wann sich eine Handlung, ein Prozess, in unterschiedliche Schritte unterteilen lässt, so dass nicht mehr von dem Selben, sondern von dem Gleichen gesprochen und geschrieben werden könnte, bleibt eine spannende Frage.

          Eine spannende Frage gewiss:
          Wenn nicht jedem wenigstens zuzugestehen wäre, “das Selbe” und
          “Verschiedenes” unterscheiden zu können, woran ließe sich dann überhaupt (noch) festhalten, was ließe sich überhaupt mitteilen?

  6. Einige Aussagen über den Wandel der wissenschaftlichen Methode, die hier gemacht werden, verwundern mich etwas. Stimmt es wirklich, dass in den 1920er und 1930er Jahren, also in den Jahren, in denen die Quantentheorie vollendet wurde, die Physiker lange über die Grundbegriffe wie (Zitat) “Raum, Zeit, Materie, Kraft und Bewegung” nachgedacht haben um ers nach Klärung dieser Fragen die Mathematik zur Hilfe zu ziehen? Haben Heisenberg (Matrizenmechanik) und Schrödinger (Wellenmechanik) so gearbeitet, nicht aber Richard Feynman (Quantenelektrodynamik) und Murray Gell-Mann (Quantenchromodynamik).
    Mir scheint eher, dass den Physikern zur Zeit von Feynman und Gell-Mann wichtige Prinzipien wie Symmetrien geläufig waren, während Einstein die Bedeutung von Symmetrien und Invarianzen noch selbst entdecken musste. Die Aussage

    Die heutige theoretische Physik dagegen ist dominiert von einem eher pragmatisch-nüchternen, bis hin zu einem instrumentalistischen Stil, der sich in den 1940er- und 1950er-Jahren aus der angelsächsisch-amerikanischen Wissenschaftstradition herausgebildet hat und eher auf mathematische Virtuosität setzt als auf die Fähigkeit, schwierige begriffliche Probleme tief zu durchdenken

    scheint mir etwas gewagt. Ist es nicht vielmehr so, dass Feynman und Murray Gell-Mann ihre Theorien viel besser begrifflich durchdrangen als ihre Vorgänger, weil Feynman und Murray Gell-Mann erstmals um die Wichtigkeit von Symmetrien und Invarianzen wussten. In der Wikepedia liest man zur Quantenchromodynamik:

    Die QCD ist wie die Quantenelektrodynamik (QED) eine Eichtheorie. Während die QED jedoch auf der abelschen Eichgruppe U(1) beruht und die Wechselwirkung elektrisch geladener Teilchen (z. B. Elektron oder Positron) mit Photonen beschreibt, wobei die Photonen selbst ungeladen sind, ist die Eichgruppe der QCD, die SU(3), nicht-abelsch. Die Wechselwirkungsteilchen der QCD sind die Gluonen und an die Stelle der elektrischen Ladung als Erhaltungsgröße tritt die Farbladung (daher kommt der Name, Chromodynamik).

    Dieses Zitat zeigt doch, dass Begriffe wie Eichtheorie, Eichgruppe, abelsch, bezugsweise nicht-abelsch in der QED und QCD eine grosse Rolle spielen. Diese Theorien einfach als Resultat mathematischer Virtuosität zu bezeichnen, scheint mir der Sache nicht gerecht zu werden, denn die Mathematik wird über Begriffe wie nicht-abelsche Eichgruppe oder Lorentz-Invarianz ja physikalisch relevant gemacht. Es ist keine blosse Magie am Werk, sondern sehr viel begriffliche Einordnung.

  7. Zitat:

    Beide Trends [mehr Wissenschaftler und vermehrt Arbeiten in Grossteams] führen dazu, dass Wissenschaftler und ihre Institute heute offen um viele Milliarden Euro buhlen, die jährlich vom Staat an Hochschulen und Forschungseinrichtungen verteilt werden

    Ja, und welche Projekte der Staat wie fördert und wie er die Projekte um Leitlinien und Zielsetzungen herum organisiert und bündelt entscheidet heute sehr stark wie sich eine Forschungsdomäne entwickelt.
    Im Bereich Energietechnologien beispielsweise überzeugt mich das ARPA-E-Programm der USA, weil es Projekte klug bündelt. Die zukünftigen Energiestechnologien, welche beispielsweise über den Erfolg der erneuerbaren Energien entscheiden, werden wohl in eimem der ARPA-E-Programme ADEPT, ALPHA, AMPED, ARID, BEEST, BEETIT, CHARGES, DELTA, Electrofuels, FOCUS, GRID oder einem der anderen von insgesamt 37 Programmen entwickelt und nicht in Europa. Die Forschung in den USA im 20. und jetzt 21. Jahrhundert hat die Welt wohl mehr verändert als alles andere und sie wird sie weiter verändern. China, Indien und Europa haben bezüglich Forschungsorganisation noch einen grossen Nachholbedarf.

  8. Hallo zusammen,

    es ist doch sehr begrüßenswert, daß das Verhältnis zwischen den Naturwissenschaften und der Gesellschaft so tiefgreifend thematisiert wird, wie hier geschehen. Von daher ist der Beitrag super. Den Beschreibungen dieses Verhältnisses kann man ja auch durchaus zustimmen. Nur bei der Analyse dieses Verhältnisses und den daraus folgenden Konsequenzen kann man die Dinge aber auch anders sehen.

    Aber das ist doch auch nur gut so.

    „Erst mit der Entstehung der modernen Physik beschleunigte sich ein Prozess, in welchem die Idee des Absoluten in den Naturwissenschaften …. zurückgedrängt wird.“

    Das ist zum Beispiel nicht richtig – hier wird die Naturwissenschaft überhöht. Daß die Wahrheit nicht erreichbar ist, ist Bekenntnis der Methaphysik seit Jahrtausenden. Das mußte nicht die Physik neu entdecken. Das ist schon ein Thema der Mystik, die die Unvollkommenheit des Menschen gegenüber der göttlichen Allwissen- und Wahrhaftigkeit thematisierte, schon zu biblischen Zeiten waren sich die Menschen ihres Unvermögens bewußt, die Wahrheit zu schauen. Die Idee des Absoluten hatte für den Jahrtausende dauernden Erkenntnisprozeß keine Bedeutung. Sie war nur im Hintergrund präsent.

    Das Problem besteht darin, daß – wie sehr richtig dargestellt wird – die formale Beschreibung der Welt und ihrer Wirklichkeit immer mehr an Bedeutung gewinnt. Ja warum ist das so ? Da hätte ich mir eine Begründung gewünscht.

    Ich glaube, das kommt daher, daß eine Metaphysik der formalen Beschreibungen fehlt, daß diese nicht in gleichem Maße parallel zu den formalen Erkenntnissen entwickelt wird. Die Ursache dafür ist klar: Metaphysik ist eben Philosophie. Was hat ein Physiker, der Quantenfeldtheorien entwickelt, schon mit Philosophie zu tun ? Nichts, Philosophie kann nichts zu physikalischen Erkenntnissen beitragen, umgekehrt: die Physik wirft die wesentlichen philosophischen Fragen auf. Das ist der Grund warum die Naturwissenschaft „eher auf mathematische Virtuosität setzt als auf die Fähigkeit, schwierige begriffliche Probleme tief zu durchdenken“ – wie es sehr treffend beschrieben wird.

    Heraus kommt dabei, daß man formale, das heißt reduzierte, idealisierte, abstrakte Beschreibungen, wie sie im Kontext von Modellen sehr nützlich sind, in die Wirklichkeit überträgt, was im metaphysichen Wirrwarr endet: am Ende wird die Welt im Kleinsten für ontologisch unbestimmt und unscharf erklärt, dort tummelt sich allerlei Virtuelles und mathematische Figuren als physikalische Entitäten. Das ist dann eine Glaubensfrage, ob man diese als real ansieht oder nicht. Wobei wissenschaftliche Erkenntnis damit wider im Mystisch-Transzendenten endet, wie zu allen Zeiten.

    Also man soll bei der naturwissenschaftlichen Methode die Kirche im Dorf lassen.

    Sie ist nicht die Super Methode, mit der sich alle Erkenntnisprobleme lösen lassen. Der Mensch braucht mehr als naturwissenschaftliche Erkenntnisse. Er braucht zum Beispiel Einsichten, die der naturwissenschaftlichen Erkenntnismethode unzugänglich sind.

    Ich bin in diesem Forum offenbar der Einzige, der diese Bescheidenheit proklamiert. Ich habe noch nie einen Beitrag von einem Naturwissenschaftler gelesen, der diese Bescheidenheit offensiv einfordert. Das gibt schon zu denken.

    Was sagen Sie dazu Herr Webbaer ?

    Grüße
    Fossilium

    • Was sagen Sie dazu Herr Webbaer ?

      Erst einmal: Howdy (der tagesaktuell besonders passende Gruß womöglich an dieser Stelle), liebes Fossilium.

      Ansonsten könnte hier und da ein wenig herumgenagt werden, an Ihrer Nachricht, aber womöglich meinen Sie ganz ähnlich wie Ihr Kommentatorenfreund.
      Insofern ganz abstrakt: Die szientifische Methode ist ganz wunderbar oder zumindest das einzige, das funktioniert, insbesondere auch Anwendungen erlaubt und sogar vglw. zuverlässige.
      Für ethische Fragen und erkenntnistheoretische benötigt es Philosophen, insofern ist Bescheidenheit angebracht, oder?
      Andererseits finden viele die szientifische Methode, die die Falsifikation von naturwissenschaftlicher Theorie sucht, eben ganz wunderbar.

      Bei diesen beiden Aussagen – ‘Daß die Wahrheit nicht erreichbar ist, ist Bekenntnis der Met[]aphysik seit Jahrtausenden.’ und ‘Die Idee des Absoluten hatte für den Jahrtausende dauernden Erkenntnisprozeß keine Bedeutung.’ weiß Ihr Kommentatorenfreund nicht so recht, dezent formuliert.
      Es gab wohl schon vor mehr als zweieinhalb tausend Jahren Denker, die dies so wie beschrieben gesehen haben, sie hatten allerdings keine besondere Bedeutung, wurden gar wiederentdeckt.

      Philosophie und szientifische Methode sind strikt zu trennen? (Wobei natürlich richtig bleibt, dass das, was ist oder physikalisch festgestellt wird, von der Philosophie zu bearbeiten ist – vgl. mit Ihrem ‘die Physik wirft die wesentlichen philosophischen Fragen auf’.)

      MFG, btw: ein schöner Tag heute, recht warm und so,
      Dr. Webbaer

    • PS hierzu:

      Das Problem besteht darin, daß – wie sehr richtig dargestellt wird – die formale Beschreibung der Welt und ihrer Wirklichkeit immer mehr an Bedeutung gewinnt. Ja warum ist das so ? Da hätte ich mir eine Begründung gewünscht.

      Weil seit einigen Jahrzehnten eine (in der Menschheitsgeschichte einmalige) physikalische und technologische Revolution stattfindet?
      Angeleitet dann wohl von der Aufklärung (dieses Fachwort fehlte in diesem Beitragsstrang noch, Sapere Aude und so, Schwarmintelligenz, Exoterik und so), natürlich auch inspiriert von antiker Denkweise und der Reformation, aber angeleitet wohl von der Aufklärung.

    • fossilium schrieb (9. November 2016 @ 02:17):
      > Also man soll bei der naturwissenschaftlichen Methode die Kirche im Dorf lassen.

      Man spricht aber insbesondere außerhalb des deutsch-sprachigen Enzyklopädiefragments ausdrücklich von “scientific method“, nicht etwa einer speziellen “method of natural science”;

      und entsprechend findet sich auch eine deutsche Formulierung:

      “Mit Wissenschaft ist auch der methodische Prozess intersubjektiv nachvollziehbaren Forschens und Erkennens in einem bestimmten Bereich gemeint, der ein begründetes, geordnetes und gesichertes Wissen hervorbringt.”

      ,
      nicht etwa nur eingeschränkt auf Naturwissenschaft.

      > Sie ist nicht die Super Methode, mit der sich alle Erkenntnisprobleme lösen lassen.

      Gibt es denn eine andere Definition von “Erkenntnis” als “das, was (im Erfolgsfalle) durch Anwendung der Wissenschaftsmethodik erzeugt wird”
      ?

      > Was hat ein Physiker, der Quantenfeldtheorien entwickelt, schon mit Philosophie zu tun ?

      Welche begrifflichen Grundlagen stünden denn zur Darstellung und Mitteilung/Archivierung von Theorien (auch und besonders denen, die die Natur betreffen) zur Verfügung, wenn nicht denen, die nicht selbstverständlich/nachvollziehbar/philosophisch sind ??

  9. “Das Problem besteht darin, daß – wie sehr richtig dargestellt wird – die formale Beschreibung der Welt und ihrer Wirklichkeit immer mehr an Bedeutung gewinnt. Ja warum ist das so ? Da hätte ich mir eine Begründung gewünscht.”

    Nein lieber Webbaer – sie gewinnt immer mehr an Bedeutung, weil die zugehörige Methaphysik fehlt. Mathematik und Phänomene lassen sich nicht mehr interpretieren. Begriffe und metaphorische Bilder fehlen. Also beschränkt man sich aufs strukturelle und Formale – es ist schlichtweg nichts anderes da !
    Das ist eine sichere Basis. Mit dem Formalen, da kann man nichts falsch machen. Wer wird denn schon wegen ein bißchen Metaphysik die Karriere ruinieren, und sich dem Spott der Kollegen aussetzen.

    Steckt auch ein Stück Interesse dahinter (Eingeweihtenkundler bleiben unter sich).

    Grüße Fossilium

  10. Ist das jetzt eine Reaktion auf die post-faktischen Fakten, die derzeit Tag für Tag über uns ergehen? Haben sie vielleicht inzwischen selbst zweifel an den Fakten und scheinen sich einzugestehen, dass die post-faktische Zeit ganz andere, aber ebenso wirksame Fakten für uns alle bereithält?

    Ich bin nämlich erstaunt über ihren Artikel. Sowas ist man hier als Leser kaum gewöhnt – soviel Rekapitulation. Leider etwas wenig darüber, was so alles schlecht sein könnte, wenn man auch und gerade auf Wissenschaftsseite sich nicht mehr um die “letzten Wahrheiten” bemühen “will” (oder kann, angesichts der Anzahl der heutigen Wissenschaftler ist zu bezweifeln, dass die alle dazu fähig wären)
    Ohne den Willen und die eingesehene Notwendigkeit, diese Zielsetzung der letzten Wahrheit als Teil seiner Forschung zu sehen, sind die ganzen vielen und teuren Wissenschaftler doch auch irgendwie nur Laborvieh, oder? Die zählen und messen und wissen im Grunde gar nicht, was und wozu! Ihnen fehlt die ganz große Vision von dem, was sie da machen.

    Ganz ehrlich!? So wird es sicher keinen Fortschritt geben können, wie wir ihn noch zu Beginn des 20. Jahrhunderts kennen und ihn bestaunen. Es ist sich niemand bewusst, dass es seit rund hundert Jahren tatsächlich keine wissenschaftliche Revolution (wie etwa die Relativitätstheorie) mehr gab – alles bis heute nur Detailerweiterungen und Verfeinerungen gewesen sind. Wir traten also seit hundert Jahrenauf der Stelle.
    Meinen sie etwa, das wäre irgendwie bejubelnswert? Anerkennenswert in besonderer Weise? Wenn denn wenigstens die Kernfusion funktionieren würde, wär ich ja schon etwas besänftigt. Aber da geht noch nichts – seit 50 Jahren dauert die Forschung und Entwicklung an.

    Ich glaube, sie haben – wie viele andere – ein etwas falsches Bild von “echten” Wissenschaftlern. Was sie Wissenschaftler nennen, sind faktisch nur Laborassistenten, die eigenständig ihre kleinen Forschungsstudien anfertigten. Und “wir” alle haben diese unerfüllende Begebenheit einfach so (was blieb uns übrig) akzeptiert…!

    Das Ergebnis ist, dass sich viele der akademisch ausgebildeten Wissenschaftler für das Maß der Dinge halten, obwohl sie nur die Fähigkeiten eines Assistenten besitzen.

    Darüber können wir nicht glücklich sein, oder?

    Und was zum Reichtum zu sagen ist, der sich – oh wunder – parallel zu ihrer erkannten Wandlung des Paradigmas oder Praxis in der Wissenschaft eingestellt hat, der kommt womöglich doch eher aus der Werbebranche, die uns die ganzen tollen Erfindungen schmackhaft macht, damit wir sie auch kaufen wollen, womit der Handel und also der Profit erst perfekt wird. Die Sache mit dem Angebot und der Nachfrage und so, hat nämlich den Haken, dass wir erstmal Nachfrage entwickeln müssen, damit das Geld aus diesem Handel fliesst, damit “wir” so reich werden konnten.

    • Ok, “Laborassistenten” ist sicher zu hart ausgedrückt. Aber sie verstehen, was ich sagen will? Wer meint, er sei Wissenschaftler, nur weil er die Ausbildung dazu zu haben scheint und im Labor arbeitet, hat ein Problem mit seiner Selbstwahrnehmung. Die Philosphische Ebene ist noch immer wichtig, wenn es um wirkliche Fortschritte geht. Das tiefe und breite Denken um den Gegenstand und seiner Einbettung in das Universum ist erst Anzeichen einer echten wissenschaftlichen Tätigkeit. Vorher ist man einfaches Personal – meist eben Werkzeug für die nächst größere Frage – etwa eines Entwicklungsziels, anstatt an das Erschaffen von Wissen beteiligt zu sein.

  11. Chris,
    ……wirkliche Fortschritte in der Physik.
    Wenn wir das großflächig betrachten, dann treten wir seit 200 Jahren auf der Stelle.
    Der Doppelspaltversuch mit Licht ist jetzt 200 Jahre alt. Eine Erklärung haben wir dafür nicht, aber eine mathematische Beschreibung.
    Es scheint, als ob alle Physikalischen Zusammenhänge derart komplex sind, dass nur noch eine mathematische Approximation eine Beschreibung (nicht Erklärung) liefert.
    Das wird auf Dauer zu einem Zielkonflikt führen. Wissenschaftliche Projekte müssen eine Akzeptanz bei der Öffentlichkeit finden, sonst bekommen die Verantwortlichen Probleme sie zu genehmigen.

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