Der Beginn des Atomzeitalters – die erste kontrollierte nukleare Kettenreaktion vor 75 Jahren

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Grenzgänge in den heutigen Wissenschaften
Beobachtungen der Wissenschaft

Im Hitler-Deutschland wurde sie zum ersten Mal nachgewiesen, die Möglichkeit Atomkerne zu spalten. Bei Beschuss mit Neutronen geeigneter Energie platzen die Kerne des Uranatoms wie Wassertropfen und zerfallen in zwei Teile (plus einzelne Neutronen). Mit 200 Millionen Elektronenvolt ist die Energie dieser Bruchstücke wesentlich größer als jede Energie, die in bis dahin bekannten atomaren Prozessen entstanden war.

Die Entdeckung der Kernspaltung liest sich wie ein Krimi. Hier der bekannte Chemiker Otto Hahn, der zwar viel von Chemie, aber weniger von Physik verstand. Dort die brillante Physikerin Lise Meitner, die unmittelbar nach dem erfolgreichen Experiment Berlin verlassen muss, weil die protestantische Christin jüdisch-stämmig  ist und im nationalsozialistischen Deutschland um ihr Leben fürchten muss. Im Exil kommt ihr der entscheidende Einfall: Die Erklärung für diese enormen Energien liegt in Einsteins berühmter Formel E=mc2. Denn die beiden Kerne, die aus der Spaltung hervorgehen, plus die austretenden Neutronen sind in ihrer Summe geringfügig leichter als der ursprüngliche Atomkern des Urans plus das eingefangene Neutron. Die Differenz all dieser Masse entspricht genau der Energie von 200 Millionen Elektronenvolt. Zum ersten Mal war ein Prozess bekannt geworden, im welchem sich die von Einstein formulierte Äquivalenz von Energie und Masse direkt offenbart. Damit war klar: Der Atomkern des Urans lässt sich spalten (Otto Hahn, nicht aber Lise Meitner, erhielt für diese Erkenntnis den Chemie-Nobelpreis 1944).

Aber noch etwas anderes war deutlich geworden: Im Inneren des Atoms schlummern unvorstellbare Energien. Die Physiker nannten sie „Kernenergie“. Der Zufall wollte es, dass bei der durch ein Neutron hervorgerufenen Spaltung eines Urankerns drei weitere Neutronen freigesetzt werden, die ihrerseits Urankerne spalten konnten. Die Physiker erkannten, dass sich über eine Kettenreaktion in sehr kurzer Zeit eine enorme Energiemenge freisetzen ließ. Schnell kam damit auch die Möglichkeit einer militärischen Anwendung ins Spiel. Die nun einsetzende Entwicklung liest sich wie ein weiterer Thriller.

Bereits 1939, weniger als ein Jahr nach Hahns und Meitners Entdeckung, verfasste Otto Frisch, der Neffe von Lise Meitner und ebenfalls Physiker,  zusammen mit seinem britischen Kollegen Rudolf Peierls ein Memorandum, das die technische Konstruktion einer auf Kernenergie beruhenden Bombe beschrieb. Dies liesnun auch Nicht-Physiker aufhorchen.

Als weltweit führende Nation in Forschung und Technik war das nationalsozialistische Deutschland dazu prädestiniert, als Erster die Kernenergie militärisch zu nutzen. Eine Bombe mit solch gewaltiger Sprengkraft in den Händen Hitlers hätte für die Welt katastrophale Auswirkungen gehabt. Auch dem ungarischen Physiker Leó Szilárd, der wie Meitner stark unter dem nationalsozialistischen Deutschland gelitten hatte, drängte sich das Schreckensbild eines atomar bewaffneten Hitlerdeutschlands auf. Er bewog den bis dahin strikten Pazifisten Albert Einstein dazu, einen Brief an den amerikanischen Präsidenten Franklin D. Roosevelt zu schreiben und ihm darin die Anregung zu geben, den Bau einer amerikanischen Atombombe voranzutreiben.

Roosevelt nahm diesen Anstoß auf. Unter höchster Geheimhaltung stellte die amerikanische Regierung ein Team von hochrangigen Wissenschaftlern und Technikern zusammen. Die meisten von ihnen waren aus Europa gekommen und getrieben von der Motivation, Hitler nicht den alleinigen Zugang zu Atomwaffen zu überlassen. Das einzige Ziel des „Manhattan Projekt“ getauften und bis dahin komplexesten, teuersten und schwierigsten Technikprojekts der Geschichte, war der Bau einer Atombombe.

Der erste Schritt war nachzuweisen, dass sich tatsächlich eine Kettenreaktion von Neutronenfreisetzungen auslösen und aufrechterhalten ließ. Dies gelang unter strenger Geheimhaltung und weitab von jeglicher Öffentlichkeit Enrico Fermi, der einige Jahre zuvor aus seinem mit Hitler verbündeten Heimatland Italien ausgewandert war, da dort ebenfalls gegen Juden gerichtete Rassengesetze verabschiedet worden waren (Fermis Frau war jüdischer Herkunft). Unterhalb eines Sportplatzes an der Universität in Chicago konstruierte Fermi, einer der wenigen sowohl auf theoretischem als auch auf experimentellem Gebiet brillierender Physiker, den ersten Kernreaktor der Geschichte. Vor genau 75 Jahren, am 2. Dezember 1942, lief darin die erste kontrollierte nukleare Kettenreaktion von Kernspaltungen ab, die den Zustand der Kritikalität erreichte (so beschreiben die Physiker den Zustand, wenn ebenso viele freie Neutronen erzeugt werden, wie durch Absorption und Verlust nach außen verschwinden). Das Experiment war derart riskant, dass Fermi nicht einmal den Universitätspräsident vorher darüber informierte. Wäre das Experiment schiefgegangen wäre, wäre wohl ein großer Teil Chicagos verstrahlt worden. Als Sicherheitsvorkehrung standen nur ein paar Wissenschaftler mit einer Axt und Eimern voller Kadmiumsulfat bereit, der die Kettenreaktion unterbrechen sollte.

Von diesem Tag an war die Welt eine andere. Das Atomzeitalter hatte begonnen.  Das wussten auch die Augenzeugen des historischen Experimentes: „Alle von uns wussten, dass mit dem Anbruch der Kettenreaktion die Welt nie wieder dieselbe sein würde“, schrieb der Physiker Samuel Allison später. Der Rest der Menschheit sollte erst am 6. August 1945 erfahren, dass ein neues Zeitalter begonnen hatte.

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www.larsjaeger.ch

Jahrgang 1969 habe ich in den 1990er Jahren Physik und Philosophie an der Universität Bonn und der École Polytechnique in Paris studiert, bevor ich am Max-Planck-Institut für Physik komplexer Systeme in Dresden im Bereich theoretischer Physik promoviert und dort auch im Rahmen von Post-Doc-Studien weiter auf dem Gebiet der nichtlinearen Dynamik geforscht habe. Vorher hatte ich auch auf dem Gebiet der Quantenfeldtheorien und Teilchenphysik gearbeitet. Unterdessen lebe ich seit nahezu 20 Jahren in der Schweiz. Seit zahlreichen Jahren beschäftigte ich mich mit Grenzfragen der modernen (sowie historischen) Wissenschaften. In meinen Büchern, Blogs und Artikeln konzentriere ich mich auf die Themen Naturwissenschaft, Philosophie und Spiritualität, insbesondere auf die Geschichte der Naturwissenschaft, ihrem Verhältnis zu spirituellen Traditionen und ihrem Einfluss auf die moderne Gesellschaft. In der Vergangenheit habe ich zudem zu Investment-Themen (Alternative Investments) geschrieben. Meine beiden Bücher „Naturwissenschaft: Eine Biographie“ und „Wissenschaft und Spiritualität“ erschienen im Springer Spektrum Verlag 2015 und 2016. Meinen Blog führe ich seit 2014 auch unter www.larsjaeger.ch.

10 Kommentare

  1. > Das Experiment war derart riskant, dass Fermi nicht einmal den Universitätspräsident vorher darüber informierte. Wäre das Experiment schiefgegangen wäre, wäre wohl ein großer Teil Chicagos verstrahlt worden.

    Hier flunkern und schwanern Sie wohl ein bisschen:

    Fermi argued that by using the delayed neutrons, and by carefully controlling the reaction rates as the power is ramped up, a pile can reach criticality at fission rates slightly below that of a chain reaction relying solely on the prompt neutrons from the fission reactions. Since the rate of release of these neutrons depends on fission events taking place some time earlier, there is a delay between any power spikes and the later criticality event. This time gives the operators leeway; if a spike in the prompt neutron flux is seen, they have several minutes before this causes a runaway reaction. If a neutron absorber, or neutron poison, is injected at any time during this period, the reactor will shut down. Consequently, the reaction can be controlled with electromechanical control systems such as control rods. Compton felt this delay was enough to provide a critical margin of safety, and allowed Fermi to build Chicago Pile-1 at Stagg Field.

    Compton later explained that:

    As a responsible officer of the University of Chicago, according to every rule of organizational protocol, I should have taken the matter to my superior. But this would have been unfair. President Hutchins was in no position to make an independent judgment of the hazards involved. Based on considerations of the University’s welfare, the only answer he could have given would have been—no. And this answer would have been wrong.

    Zusammengefasst:

    Fermi fragte seinen Chef Compton um Erlaubnis. Compton sagte, eigentlich hätte er seinen eigenen Chef, den Präsidenten der Universität, fragen müssen. Da dieser aber keine Ahnung vom Problem hatte habe er selbst entschieden.

  2. Man hat superteuren hochreinen Graphit in erheblicher Menge, super-superteuren Kernbrennstoff, stapelt dieses locker, aber akkurat übereinander, und zur Reaktionssteuerung verwendet man mit Cadmiumblech beschlagene Vierkanthölzer. Holz enthält Wasser, und zwar ein bisschen variabel je nach Luftfeuchtigkeit. Was hätte schon schiefgehen können 🙂

  3. @Karl Mistelberger: Ich expandiere mal den letzten Satz Ihrer Zusammenfassung:

    Da dieser [der Uni-Präsident] aber keine Ahnung vom Problem hatte habe er [Compton, der mit dem Effekt] selbst entschieden.

    Der Präsident hätte das Risiko nicht unabhängig von Fermi/Compton bewerten können, d.h. er hätte ihnen blind vertrauen oder ablehnen müssen. Und eine Ablehnung im Interesse der Universität wäre absehbar, in Comptons Augen aber falsch gewesen.

  4. Forscher wie Fermi scheinen sich gelegentlich ihrer historischen Rolle bewusst zu sein und machen dann quasi “heldenhafte” Versuche, die nur sie und ein paar enge Freunde/Kollegen richtig einschätzen können. Die Entwicklung von Atombomben und Atomreaktoren waren aber letztlich riesige Ingenieurprojekte mit hunderten von Beteiligten. Und die Zündung einer Atombombe wird auch heute nicht von einer einzigen Person ohne jedes Wissen bei Anderen entschieden. Gefährlich wird Wissenschaft dann, wenn sie einer einzigen Person oder einer kleinen Gruppe erlaubt, die ganze Menschheit zu gefährden. Das ist bei der Atomtechnologie (bisher) nicht der Fall, wohl aber bei Biowaffen. Eine einzige Top-Forscherin im Bereich CRISPR/Cas9 könnte ein hochinfektiöses, äusserst letales Grippevirus (Influenzavirus) durch Editieren des Grippegenoms erzeugen und dann auf die Menschheit loslassen – vielleicht noch mit einer Grussbotschaft im Gen versehen. Und als Zweck dieses Unternehmens könnte die Forscherin bei ihrer Festnahme angeben, sie hätte es einfach in die Wikipedia und auf die Medienseiten schaffen wollen und sie habe die Welt verändern wollen.
    Ja, vielen genügt es die Welt zu verändern. Egal wie und auf welche Weise, Hauptsache sie bleiben für immer in Erinnerung.

  5. Lars Jaeger schrieb (3. Dezember 2017):
    > Bei Beschuss mit Neutronen geeigneter Energie platzen die Kerne des Uranatoms wie Wassertropfen und zerfallen in zwei Teile. […] dass bei der durch ein Neutron hervorgerufenen Spaltung eines Urankerns drei weitere Neutronen freigesetzt werden

    Vgl. https://en.wikipedia.org/wiki/Uranium-235#Fission

    > die beiden Kerne, die aus der Spaltung hervorgehen, sind in ihrer Summe geringfügig leichter als der ursprüngliche Atomkern des Urans. Die Differenz der Masse entspricht genau der Energie von 200 Millionen Elektronenvolt.

    Nein: die Neutronenmasse (940 MeV) ist vergleichsweise groß, also hier nicht zu vernachlässigen.

    Die beim Spaltvorgang freigesetzte Energie von ca. 200 Millionen Elektronvolt entspricht der Masse des ursprünglichen Urankerns, zuzüglich der Masse des Spaltungs-hervorrufenden Neutrons (dessen kinetische Energie bzgl. des Urankerns vernachlässigbar ist), abzüglich der Summe der Massen aller Spaltprodukte (insbesondere einschließlich der Massen der entstandenen Neutronen).

    p.s.
    SciLogs-Kommentar-HTML-Test:

    “E = m c<sup>2</sup>” wird dargestellt als: “E = m c2”.

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