Prosopagnosie – aktuelle Forschung
BLOG: Babylonische Türme

In meinem Blog gibt es einen älteren Beitrag, auf den ich immer noch Zuschriften bekomme. Er trägt den Titel: „Ein leichter Fall von Prosopagnosie“. Darin hatte ich mein Forschungsgebiet vorgestellt und die Symptome der angeborenen Prosopagnosie erklärt. Dann lief meine Stelle an der Universität aus und für die Forschung blieb wenig Zeit. Erst vor zwei Jahren bekam ich wieder die Gelegenheit, bei spannenden Forschungsprojekten mitzumachen. Dafür suchen wir noch Teilnehmer, denn je mehr Menschen mitmachen, desto aussagekräftiger werden die Ergebnisse.
Prosopagnosie – was war das noch mal? Es ist ein medizinischer Fachbegriff, und er wird selten benutzt, man muss ihn also nicht kennen. Er bezeichnet die stark eingeschränkte Fähigkeit, andere Menschen an ihrem Gesicht zu erkennen. Wie viele solcher Kunstworte stammt es aus dem Altgriechischen (Prosopon = das Gesicht und agnosia = das Nichterkennen). Ungefähr 2 % der Bevölkerung in Deutschland haben dieses Problem von Geburt an. Die genaue Ursache ist unbekannt, aber jedenfalls tritt es in manchen Familien gehäuft auf. Und das ist für die Forscher ungeheuer spannend. Warum?
Bei jeder körperlichen und geistigen Leistung gibt es einen breiten Spielraum. Manche können gut malen, andere vielleicht gut rechnen oder Fußball spielen. Und dann gibt es natürlich auch das andere Ende: Diejenigen, die sich beispielsweise mit Mathematik schwertun, Worte so schlecht erfassen, dass sie nur sehr langsam lesen, oder sich für Musik und Kunst überhaupt nicht begeistern können.
Oft fallen solche Unterschiede schon sehr früh im Leben auf, und sind nicht grundlegend zu verändern. Eltern oder Lehrer können sie nur in engen Grenzen beeinflussen. Also stellt sich die Frage: Ist bei der Gehirnreifung im frühen Kindesalter irgendetwas ungewöhnlich verlaufen, oder ist das angeboren?
Bei Menschen mit Dyslexie (Schreib-Lese-Schwäche), Dyskalkulie (Rechenschwäche), oder fehlendem musischem Verständnis finden Forscher im Gehirn meist keine erkennbare Veränderung. Müssen sie auch nicht, schließlich sind alle Gehirne sowieso etwas verschieden und die genaue Verschaltung des Gehirns zur Hervorbringung von bestimmten geistigen Leistung kennt ohnehin bisher keiner. Und wenn bestimmte Dinge nicht optimal funktionieren, muss das keine einheitliche Ursache haben. Schon wenn ein Uhr beständig nachgeht, kann das tausend Gründe haben, und das Gehirn ist sehr viel komplizierter als das beste Uhrwerk.
Wenn ein kognitives (= mit der Wahrnehmung zusammenhängendes) Defizit aber erblich ist, dann ist die Ursache vermutlich einheitlich – wie eben bei der angeborenen Prosopagnosie. Dann könnte man endlich die Funktion, das Volumen oder die Anatomie bestimmter Gehirnregionen mit einer komplexen kognitiven Leistung in Verbindung bringen, was die Gehirnforschung sehr voranbringen würde.
In den Jahren 2002 bis 2005 konnte ich nachweisen, dass es eine angeborene, erbliche und auch noch häufige Form der Prosopagnosie gibt. Das gab der Forschung beträchtlichen Schwung und ich arbeitete in Deutschland und Österreich mit mehreren Arbeitsgruppen an spannenden Forschungsprojekten.
Und bevor ich mich zeitweilig aus der Forschung verabschiedet hatte, begann sich schon ein etwas genaueres Bild der Teilleistungsstörung abzuzeichnen. Andere Gruppen rund um den Globus machten weiter, aber bis heute ist noch nicht richtig klar, welche Funktionen im Gehirn eigentlich genau verändert sind. Es ist also immer noch genug zu erforschen.
Aktuelle Studien – wer macht mit?
Seit 2019 bin ich wieder aktiv dabei und arbeite in mehreren Projekten an zwei Universitäten mit, darunter Bamberg in Bayern (Lehrstuhl für allgemeine Psychologie und Methodenlehre mit Prof. Claus-Christian Carbon). Für alle Projekte suchen wir noch Studienteilnehmer. Wer also Probleme hat, andere Menschen an ihren Gesichtern zu erkennen, sich Gesichter zu merken, oder auf Märkten, Bahnhöfen oder Flughäfen Fremde von Bekannten zu unterscheiden, darf sich gerne bei mir melden. Die meisten Untersuchungen und Tests finden für diese Studien am heimischen Computerbildschirm statt, für eine MRT Studie müssten die Teilnehmer persönlich anreisen.
In jedem Fall erfolgt vorher ein ausführliches Gespräch per Telefon oder Videokonferenz. Sobald die Studien ausgewertet und veröffentlicht sind, schicken wir allen Teilnehmern eine Zusammenfassung der gesamten Ergebnisse.
Bei wissenschaftlichen Veröffentlichungen (im Jargon „Paper“ genannt) kann das allerdings durchaus etwas Zeit dauern.
Hier die E-Mail-Adresse für alle, die sich jetzt angesprochen fühlen:
prosopagnosie[at]comfood.com.
Das [at] bitte durch den Klammeraffen @ ersetzen. Jede sichtbare E-Mail in einem Blog landet leider sofort in den Fängen der Spamversender. Deutschsprachige Informationen gibt es auch auf unserer Infoseite prosopagnosie.de.
Noch ein Hinweis zum Schluss: Weil die Prosopagnosie angeboren ist, zeigt sie sich auch schon im frühen Kindesalter. Manche Mütter wundern sich beispielsweise darüber, dass ihr sonst lebhaftes Kind in einer Spielgruppe nicht von ihrer Seite weicht, aber nur wenn andere, ähnlich angezogene Mütter im Raum sind. Schon mit zwei Jahren können Kinder mit Prosopagnosie manchmal Angst haben, ihre Mutter nicht wiederzuerkennen. In der Schule brauchen Kinder mit Prosopagnosie oft sehr lange, bis sie ihre Klassenkameraden sicher auseinanderhalten.
Aber weil diese Teilleistungsschwäche noch kaum bekannt ist, fragen sich Eltern, Lehrer und Erzieher häufig, was dem Kind fehlt. Wir haben dafür schon vor einigen Jahren eine Info-Broschüre zusammengestellt. Und selbstverständlich dürfen mich Eltern, Therapeuten, Erzieher oder Lehrer gerne ansprechen. Je eher das Problem erkannt wird, desto eher kann man den Kindern helfen.
Wirklich spannend. Solche Teilleistungsschwächen wie Prosopagnosie. Spannend, weil man nicht damit rechnet, dass es so etwas gibt. Denn wir nehmen ja alle spontan an, dass in den Köpfen der Anderen ähnliches abläuft wie im eigenen.
Vielleicht ist diese voreilige Annahme mit ein Grund, dass man Prosopagnasie in der Medizin und Psychologie so spät als eigenständige Besonderheit erkannte. Inzwischen weiss man, dass es auch auditive Verarbeitungs- und Wahrnehmungsstörungen gibt sowie Störungen beim Erkennen und Merken der Reihenfolge von Ereignissen.
Gesichter erkennen ist eben mehr als sehen und sich erinnern. Der Artikel Artificial networks shed light on human face recognition zeigt zudem, dass es Ähnlichkeiten in der neuronalen Struktur der Gesichtserkennung von Menschen und von gesichtserkennenden künstlichen neuronalen Netzwerken gibt.
Ich denke, es könnte durchaus sein, dass wir uns mit unseren persönlichen Theorien des Mentalen (ToM) mehr als einmal täuschen, weil Menschen eben verschiedener sind als sie es sich eingestehen wollen. Verschiedener nicht nur auf höherer psychologischer Ebene, sondern sogar auf Wahrnehmungsebene.
Sehr interessant.
Ein Aspekt wird nicht angesprochen, es gibt Menschen, an die erinnert man sich noch nach Jahren, auch wenn der Kontakt noch so kurz war, und es gibt Menschen , die verschwinden total aus dem Gedächtnis. Es hängt also nicht nur vom Beobachter selbst ab, sondern auch noch vom Gesicht der beobachteten Person.
Man nennt das auch Bühnenpräsenz. Als Lehrer lernte ich im Jahr durchschnittlich 120 neue Schüler kennen. Da muss man dem Gesicht den Namen zuordnen. Und es gab eine Mutter, deren Gesicht konnte ich mir “ums Verrecken” nicht merken. Die saß in der ersten Reihe und ich nahm sie nicht wahr. Mir war das peinlich, denn ich werde diese Frau schwer beleidigt haben.
Bis heute ist mir dieses Phänomen unerklärlich.
Haben die Betroffenen auch bei der Erkennung anderer Muster Probleme oder geht es ausschließlich um Gesichter?
Es ist noch nicht ganz klar, wie eng die Störung auf die Erkennung von Gesichtern begrenzt ist. Möglicherweise liegt eine allgemeine Störung der visuellen Mustererkennung- oder Verarbeitung vor, die sich bei Gesichtern am stärksten auswirkt. Es gibt dazu einen guten Übersichtsartikel aus dem Jahr 2018 von Geskin und Behrmann dazu: Congenital prosopagnosia without object agnosia? A literature review. Die Autoren haben darin die Arbeiten ausgewertet, die sich für und gegen eine umschriebene Störung der Gesichtserkennung aussprechen. Die Kontroverse ist auch heute noch nicht entschieden.
Ich habe mich schon seit einigen Jahren mit diesem Thema beschäftigt, weil ich einen Freund habe (den ich witzigerweise noch gar nicht von Angesicht zu Angesicht kenne, denn wir schreiben uns “nur” seit über 10 Jahren), der keine Gesichter erkennt.
Die Maskenpflicht fand ich deshalb sehr interessant, weil man sich plötzlich in einer ähnlichen Lage befindet: Wie erkenne ich meine Freunde und Bekannten, wenn ich ihr nur die Augen statt des Gesichts sehe? Da fange ich an, mich auch vermehrt auf andere Merkmale zu besinnen: Frisur, übliche Bekleidung, Statur, Gang, Gestik, Sprache usw. Manchmal gar nicht so einfach …
Howdy, Dr. Webbaer ist partiell (vs. ‘stark eingeschränkt’) sozusagen betroffen, das eine Gesicht ist ihm (teilweise) wie das andere, die diesbezügliche Grundlage könnte in der Erziehung, teils auch in anfänglich schwieriger Haltung des Säuglings liegen, sofern sich Erziehende abgewechselt haben, sich so keine besondere, keine extra-spezielle Beziehung ergab.
Böse formuliert war es dann in späterem Alter so, dass eine “Nase” wie die andere vorkommt – wenn die etwas wollte und ein besonderes Eingehen nicht angeraten schien, keine Vorteile versprach, wenn der eine doch (irgendwie) wie der andere ist ?!
Das Fachwort hier : Soziopathie, sicherlich müssen nicht alle so eingeordnet werden, das Spektrum der bereit stehenden Persönlichkeiten – und zu akzeptierenden – ist weit; in früherer Zeit wäre hier nicht sonderlich interessiert zugegriffen worden.
Dr. W hat sozusagen ernsthafte Probleme damit, wenn ihm mehrere Personen vorgestellt werden, sie auseinander zu halten.
Obwohl generell schon vglw. gut : merkfähig.
Denkbarerweise hängt hier einiges zusammen, wie im dankenswerterweise bereit gestellten Text angeregt.
Mit freundlichen Grüßen
Dr. Webbaer (der davon ausgeht, dass teils sog Leadership auch so angelegt sein könnte, auch wie versucht : psychologisch beforschbar)
Dr. W.
Ergänzend dazu
Ich hatte es einmal mit zwei Chinesinnen gleichzeitig zu tun. Die sahen unterschiedlich aus, aber in ihrem Benehmen waren sie sich ähnlich. Die zwei müssen irgendwie erkannt haben, dass ich Schwierigkeiten habe, sie zu unterscheiden.
Kurz: Sie haben ihre Rollen getauscht. Die eine sagte das, was die andere sonst immer darauf gesagt hat. Und ich fiel darauf herein, als ich es bemerkte war es schon zu spät. Die beiden lachten mich aus.
Da kam ich mir schon klein vor. Das tat der Sympathie mit der einen Chinesin keinen Abbruch, wir tauschten e-mails aus und sie schickte mir Bilder von ihren Kindern.
Das Erkennen ist also nicht nur an Äußeres gebunden, sondern hängt auch mit dem Verhalten zusammen. Wir erkennen Menschen an ihrer Bewegung, an der Art wie sie sprechen.
Zum Wesen des Weibes , soll an dieser Stelle unerklärt bleiben.
IYKWiM.
MFG
WB (der sich hier, womöglich auch (allgemein) : günstig, a bisserl exponiert hat)
Dr. Webbaer,
Das Wesen des Weibes macht es ja gerade deswegen so anziehend.
Vielleicht ist es ja für der Natur von Vorteil, wenn nicht so sehr nach kleinen Differenzen unterschieden wird, es reicht ja die grobe Unterscheidung nach dem anderen Geschlecht.
Andersherum reicht es, wenn der Mann einen Hut aufsetzt, das genügt schon ihn interessant zu machen.
Oder wenn er nur Geld hat, Geld macht sexy.
Man denke nur an die Jaqueline Kennedy und Onassis.
Dr. W kennt “Chickie” ein wenig, webverweist gerne wie folgt :
-> https://www.youtube.com/watch?v=aLOnQmmmlkw
-> https://www.youtube.com/watch?v=6o6zMPLcXZ8
MFG
WB
Dr. W.
Das Halleluja von Leonard Cohen zählt zu dem Besten was Musik bieten kann.
Hören Sie sich mal das Ave Maria von Nina Hagen an.
Da fühlen Sie , wie ein schwarzer Engel über Sie fliegt.
Leonard Cohen ist dem Schreiber dieser Zeilen schon vor la-anger Zeit, positiv, aufgefallen, er lag im Krankenbereich einer so genannten Station und hörte so, Kommentatorenfreund ‘hwied’.
In den Sechzigern oder frühen Siebzigern, vermutlich war es eher in den frühen Siebzigern.
Sicherlich ist “Old Dockie” auch gar nicht so-o ‘soziopathisch’, er verfügt ja auch über Nachkommenschaft und hat sozusagen dementsprechend geleistet, auch im Bereich der Wirtschaft, ist also vielleicht eher nur a bisserl soziophob, wie es viele sind, heutzutage, vielleicht wie der hier :
-> https://en.wikipedia.org/wiki/Jesse_Eisenberg
Oder Woody Allen.
Mit freundlichen Grüßen
Dr. Webbaer (der eigentlich schon vglw. gut Visagen humaner Subjekte zu memorieren weiß, von den vielen Ausnahmen einmal abgesehen; bei “Chickie” nur einmal anmerken wollte, dass es so, wie beschrieben und i.p. Forschung angefragt so auch bei vglw. normalen Ursiden vorkommt)
Nichts gegen Leonard Cohen, aber im Blogpost geht es um Gesichtserkennung und deren Störungen. Ich möchte doch darum bitten, dass die Kommentare wenigsten im weitesten Sinne beim Thema bleiben.
Wird nicht wieder vorkommen, Dr. W war zeitweise desorientiert.
Mit freundlichen Grüßen und weiterhin viel Erfolg!
Dr. Webbaer (der für Ihre Geduld dankt, dem diese Sache auch recht peinlich ist)
PS:
Für pers. Gespräch steht Dr. W nicht bereit, vielleicht genügt auch E-Mail?
Martina Grüter,
etwas Grundsätzliches zur Kommunikation. Die muss auch Spaß machen und offen bleiben für Persönliches , denn nur wenn auch das Gefühl beteiligt bleibt, sind die Mitkommentatoren inspiriert einen Beitrag zu leisten.
Einige Blogmaster erzielen Beiträge bis 100 , andere bekommen gar keine Zuschriften.
Übrigens, Ihr Thema ist äußerst wichtig bei Zeugenaussagen. Manche Zeugen können sich an interessante Einzelheiten erinnern, andere Zeugen können nur allgemeine Angaben machen.
Mit Intelligenz, wie das zusammenhängt, da bin ich mir selbst noch nicht schlüssig.
Vielleicht mal wieder zurück zum Thema…
Wenn man 7 x 24 x 365 x n von dieser Störung betroffen ist, hat man vielleicht auch ab und mal seinen ‘Spaß’ daran (manchmal kompensiert man so grotesk, dass es wirklich zum Lachen ist), aber die meiste Zeit ist es anstrengend. Und peinlich. Und man verletzt nahestehende Menschen, immer wieder, Jahr für Jahr.
Das erzwungene Home-Office und die dadurch bedingten vielen Video-Konferenzen (mit eingeblendeten Namen – wunderbar!) ist für mich tatsächlich eine Erleichterung im Arbeitsalltag. Trotzdem wünsche ich mir natürlich bald wieder (alte) normale Verhältnisse.
Letztens ist mit aufgefallen, dass ich auch im Traum keine Personen an ihren Gesichtern erkennen kann. Entweder ich ‘weiß’ im Traum einfach wer die Person ist, oder ich ‘sehe’ (erkenne) nur eine unscharfe/konturlose helle Fläche zwischen Hals und Haaren. Und habe dann -wie im echten Leben- Stress mit der Frage, wer das wohl ist.