Neuro-Enhancement: Anders sein ?

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Vom Nutzen und Missbrauch des Verständigungsmittels Sprache
Babylonische Türme

Wie wirkt sich ein Neuro-Enhancer auf die Situation des Einzelnen aus?

Bei den vielen Diskussionen um gesellschaftliche Belange scheint das niemanden so recht zu kümmern. Übrigens ist Thema nicht etwa neu:
Die bekannte amerikanische Science-Fiction-Autorin hat die Idee bereits im Jahre 1991 aufgegriffen und ihren Science-Fiction "Bettler in Spanien" in allen Aspekten durchdekliniert. Eltern können ihren Kindern auf Wunsch und gegen Bezahlung verschiedenste Fähigkeiten "erkaufen", die dann genetisch integriert werden.

In diesem speziellen Fall wird den Kindern das Schlafbedürfnis genommen, sodass sie nicht nur besondere intellektuelle Leistungen vollbringen, sondern das auch 24 Stunden rund um die Uhr. Körperlich makellos sind sie außerdem. Schön, klug und schlaflos, das ist teuer. Nur Familien mit dem finanziellen Background können sich das leisten, die auch diese Kids fördern können.

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Interessant sind die beschriebenen Konsequenzen. Die Kinder schlafen gar nicht mehr. Jeder (besonders Eltern) kann sich vorstellen, was das bedeutet. 24 Stunden rund um die Uhr Betreuung, eine zeitlang sicher zu schaffen, aber auf Dauer wirklich nur mit Hilfe von Dritten und Vierten durchzuhalten!

Die schlaflosen Kinder potenzieren ihre Leistungsfähigkeit und werden zu Außenseitern. Sie denken schneller, kommunizieren anders, haben andere Interessen. Eigentlich gar kein so fremder Gedanke. Ich habe mich längere Zeit mit hochbegabten Kindern beschäftigt und tatsächlich, diese Problematiken sind dort auch tatsächlich aktuell (nicht ganz so zugespitzt, natürlich).

LEIDER reagiert die Gesellschaft auf Leistungsträger und Andersdenker nicht nur positiv. Weniger Schlafbedürfnis zählt auch bei diesen Kindern durchaus häufig dazu. In der Kleinkindphase wird es wahnsinnig anstrengend, wenn das ach so süße Baby kaum Ruhezeiten braucht. Sleep on demand sollte da die Lösung sein, aber das kann man ja mit seinem eigenen Job kaum koordinieren, und wehe, wenn die Eltern einen höheren Schlafbedarf haben als Junior. Dann die Förderung des Wissensdurstes, manche Kleinen habe schon ungewöhnliche Interessen und können sich glücklich schätzen, wenn da Mama oder Papa genügend Antworten wissen. Leider wird es meist zu Kindergartenzeiten und Schulzeiten eher schlimmer. Kann es doch nicht sein, dass der oder die Kleine mit acht oder neun Jahren locker den Stoff der fünften Klassen aufsaugt. Wenn dann die anderen in der Klasse ganz andere Interessen haben und die Kommunikation zu Gleichaltrigen nicht läuft, kommen noch Erwachsene daher und meinen, dass dem Kleinen die Soziale Reife fehlt (Unterton – egal wie klug der/die auch ist …). Das sind dann die Probleme, die Eltern verzweifeln lassen, weil ihr Kind so anders reagiert und in der Außenseiterposition steckt.

Ist es wirklich wünschenswert durch Neuro-Enhancement genau diese Hirnaktivitäten zu pushen, um noch leistungsfähiger zu sein? Wie wird das Umfeld reagieren, wenn jemand ach so viel schneller ist, als die anderen?

Im Science-Fiction von Nancy Kress richten die normalen Menschen (die Schläfer) bald ihre Wut gegen die Schlaflosen, und die meisten Schlaflosen ziehen sich in einen eigenen Bereich zurück. Im Laufe der Geschichte pushen die Nichtschläfer ihre geistigen Fähigkeiten genetisch noch weiter. Dummerweise ist aber ihr Hirn so aktiv, dass es motorische Fähigkeiten nicht mehr so sauber steuern kann. Diese Kinder sind etwas tollpatschig, stottern und zittern ständig. Dafür leisten sie gedanklich tolles "übermenschliches" Denken.

Sehen so eventuell unsere neuro-enhanced-Kids aus? Anders – weil sie nicht die 100%-Kontrolle des Hirns haben, sondern nur die kognitiven Fähigkeiten auf Hochtouren fahren und die Muskelbeherrschung dafür verlieren. Dann tragen sie ein böses Stigma, das sie natürlich prägen muss.

Was erfahren auffallend andere Menschen denn – schräge Blicke, Anpöbelungen, Ausgrenzung?

Dieser Preis für mehr Gehirnleistung ist meiner Meinung nach zu hoch, ganz gleich ob durch genetische oder medikamentöse Wirkung, und es wird immer einen Preis geben. Nichts ist umsonst zu haben!

Langzeitwirkungen und Nebenwirkungen sind immer Probleme jedes Medikamentes. Und was sehen wir später, wenn das Gehirn zu stark genutzt wurde und immer auf Hochtouren laufen musste … Burnout, Parkinson, Wahn, Demenz?

Warum will man sich diese Schwierigkeiten zusätzlich schaffen?

Ich habe mich auch gefragt, ob ich das ausprobieren möchte, wenn es ginge 😉 – meine persönliche Antwort – NEIN, ebensowenig, wie ich LSD oder Haschisch probieren würde. Und meinem Kind würde ich, nur um ein paar bessere Noten zu schaffen, sicher keine Medis verschreiben.

Mein Slogan bleibt: Hirnjogging ja- aber kein Doping!

LINKTIPP: Gehirn&Geist-Sonderseite "Neuro-Enhancement" mit zahlreichen Artikeln und weiteren Informationen zum Thema

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Martina Grüter ist Medizinerin und befasst sich seit 2001 der angeborenen Prosopagnosie, einem erblichen Defizit in der Gesichtserkennung und Verarbeitung. Das Thema hat ihr gezeigt, wie vielschichtig die Verarbeitung von Informationen im Gehirn sind und wie wenige Erkenntnisse wirklich gesichert sind. Sie ist affiliert am Lehrstuhl für allgemeine Psychologie und Methodenlehre der Universität Bamberg und arbeitet mit Wissenschaftlern an mehreren deutschen Universitäten an verschiedenen Forschungsprojekten.

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