Soziale Vulkanologie

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Von Steinen bis zu den Sternen
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Vulkanbewohner sind oft abergläubisch und wiegen sich in falscher Sicherheit: Sie prozessieren schon mal an den qualmenden Schlot, um die Kreatur im Berg zu beschwichtigen. Der Job eines Vulkanologen wird dadurch nicht einfacher – er muss sich zwingend mit dem Aberglaube und den Vorstellungen der Einwohner befassen.
 
Pyroklastischer Strom am Merapi (Bild: Lesto Kusumo / Wikimedia Commons / gemeinfrei)
Pyroklastischer Strom am Merapi (Lesto Kusumo / Wikimedia Commons / gemeinfrei)

Vulkanologe zu sein ist schwer. Er rückt mit allerlei Gerät an, misst wie sich die Erde hebt oder senkt, wie sie zittert und schwankt. Doch wann ein wirklich gefährlicher Vulkan ausbricht, kann er niemals exakt vorhersagen. Weil Vulkanologen aber vorsichtige Menschen sind, werden sie Vulkanbewohner lieber einmal mehr evakuieren lassen als einmal zu wenig.

Ich möchte nicht mit einem Vulkanologen tauschen, der wegen eines Grummelns im Berg sieben mal evakuieren ließ, ohne dass der tatsächlich Feuer spuckte – und erst nach seiner achten Warnung das Dorf zermalmte. Leben und Tod hängen eng mit der Überzeugungskraft des Vulkanologen zusammen. 

Gute Mythen, schlechte Mythen

In keinem Land drängen sich so viele Menschen um Vulkane wie in Indonesien. Allein auf der Hauptinsel Java gibt es 40 aktive Vulkane und 130 Millionen Menschen. Um die Anwohner vor Ascheregenpyroklastischen Strömen und vulkanischen Bomben zu schützen, müssen Vulkanologen die lokale Kultur verstehen. Denn wo Naturgewalten großes Leid auslösen, haben Dorfgemeinschaft schon immer religiöse Erklärungen  gesucht. Einen studierten Geologen und orthodoxen Naturwissenschaftler mag das abstoßen. Doch Religion hat eine kulturelle Funktion: Sie hilft erlebtes Leid zu erklären und dadurch leichter zu ertragen.

Manche Traditionen dienen gar der gemeinschaftlichen Sicherheit: Während des Tsunamis im indischen Ozean zogen die gut 80.000 Bewohner der Simeulue-Insel in höher gelegene Gebiete. Ein bekanntes Kinderlied beschrieb die Vorzeichen eines Tsunamis und trichterte schon den Kleinen ein, wo sie Schutz finden könnten.

Doch leider sind die meisten kulturelle Mythen dem warnenden Naturkundler feindlich gesinnt. Katherine Donovan and Aris Suharyanto haben in Indonesien gelebt und beschreiben diverse ähnlicher Fälle: 

Im Jahr 1963 kamen hunderte Dorfbewohner auf einer Prozession ums Leben, die auf den Vulkan Agung auf Bali  zog.  Dann brach er aus. Seit 500 Jahren hatte er das nicht getan. Die Anwohner glaubten, ihre Götter kämen den Berg herab und entschieden, sie in ihrem Tempel zu erwarten. Als man ihre Körper fand, hielten sie noch immer die traditionellen Musikinstrumente in den Händen.

Wenn Vulkane zuletzt vor Jahrhunderten ausbrachen, sind die überlieferten Warnungen längst verloren gegangen. Doch selbst an den Flanken der gefährlichsten Feuerberge leben Menschen. Der Merapi auf Java zählt zu den gefährlichsten – alle zwei bis drei Jahre bricht er aus und schickt bis zu 700 °C heiße Aschewolken seine Hänge hinab. Leben gibt es entlang ihrer Pfade danach nicht mehr.

Allein im Umkreis des Merapi leben rund drei Millionen Menschen. Ein Netz aus Mythen ranken sich um den Berg. Sie handeln von Göttern, ihrem Zorn und Wegen zu ihrer Beschwichtigung. Jedes Unglück ruft neuen Aberglauben hervor, etwa nachdem 1994 ein pyroklastischer Strom das Dorf Turgo begrub. Alle 64 Mitglieder einer Hochzeitsgesellschaft kamen dabei ums Leben:

Die Kreatur [gemeint ist der Merapi] erlaubte 1994 den Einwohnern von Turgo, weiter in ihrem Dorf zu leben. Unter einer Bedingung: Feierlichkeiten oder Hochzeiten dürften nicht an den Tagen Jumat Kulwon und Selasa Kilwon stattfinden. Die Opfer des Ausbruchs von 1994 feierten jedoch an Selasa Kilwon.

Donovan und Suharyanto beschreiben weitere Beispiele ungesunden Aberglaubens, etwa wenn der Vergleich mit einem feuerspeienden Ungeheuer falsche Sicherheit säht: Der Merapi richtete seine todbringenden Auswürfe in den letzten Jahrzehnten fast ausschließlich gen Süden. Deshalb glauben die nördlichen Bewohner nun, sie säßen im Nacken des gefräßigen Riesens und nicht an seinem gefährlichen Maul. Doch so berechenbar ist kein Vulkan: Leicht könnte sich sein Verhalten ändern, wenn der aktive Schlot verstopft und sich die Auswürfe an anderer Stelle ihren Weg bahnen.

Die Autoren fordern nach solchen Erfahrungen eine "neue interdisziplinäre Wissenschaft", die soziale Vulkanologie. Nur wenn Vulkanologen die Vulkanbewohner so genau beobachteten wie die Berge selbst, könnten sie die Gemeinschaften effektiv schützen.

Katherine Donovan ist eine der ersten auf diesem Feld und hat untersucht, wie den Menschen speziell am Merapi geholfen werden kann (Area 42.1, 2010). Sie stellte fest, dass Aberglaube meist nicht der wichtigste Grund für den Verbleib im Dorf vor einem Ausbruch ist. Es gibt weitere:

  • Die (überwiegend armen) Anwohner wollten ihr Vieh nicht zurücklassen, das bei lang dauernder Evakuierung verendet wäre. Das Vieh ist aber für viele die wichtigste Lebensgrundlage.
  • Frühere Erfahrungen mit dem Vulkan beeinflussen den traditionellen Glauben der Menschen, was mit der räumlichen Verteilung der Gefahr zusammenhängt. Dörfer nahe am Gipfel lassen sich eher evakuieren, da sie wissen, wie real die Zerstörung ist. Weiter entfernt lebende Gruppen glauben sich in Sicherheit, weil sie ja bisher immer verschont wurden. Die Huldigungen an die Kreatur boten also ausreichenden Schutz.
 
Donovan fordert von den Vulkanologen mehr Einfühlungsvermögen ein. Sie sollten nicht nur besonders gefährdete Gebiete ausweisen und die Menschen warnen. Sie sollten auch frühzeitig auf die Dorfgemeinschaften achten, die sich bei der kommenden Evakuierung widersetzen könnten.

Dieser Text ist angelehnt an einen Beitrag im GeoScientist 21 vom 2. Februar 2011.

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Karl Urban wäre gern zu den Sternen geflogen. Stattdessen gründete er 2001 das Weltraumportal Raumfahrer.net und fühlt sich im Netz seitdem sehr wohl. Er studierte Geowissenschaften und schreibt für Online-, Hörfunk- und Print-Publikationen. Nebenbei podcastet und bloggt er.

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