Chaos und Leben im Sonnensystem
BLOG: AstroGeo
Chaos, das ist etwas Wirres, durcheinander Geworfenes. Oder etwas hoch Komplexes – nein: Das würde ja bedeuten, dass eine höhere Ordnung dahinter steht, die wir nur nicht begreifen. Was ist aber, wenn keine höhere Macht verantwortlich ist für das Chaos?
Chaos, ein griechischer Wortstamm, der für den „unendlichen leere Raum, die gestaltlose Urmasse“ steht, ist also eigentlich zutiefst unnatürlich, ein theoretisches Konstrukt der Mythologie aus grauen Vorzeiten. Eine Bergschlucht mit dem griechischen Namen χάος sei gar vergleichbar mit der Schlucht Ginnungagap im nordischen Sagenbuch Edda. Diese Schlucht durchteilte das Land zwischen dem südlichen Feuerreich und der eisigen Welt im Norden.
Nun, genug in den Gefilden des Sprachlogs gewildert. Denn Schluchten und Chaos, das sind auch Themen für den Planetengeologen. Chaos, das steht etwa auf dem Mars für völlig durcheinander geratene Gebiete, durchzogen von Furchen, Rissen und wenigen, seltsam versprengten Tafelbergen. Wie genau die marsianischen Chaosregionen entstanden, ist bislang nicht ganz verstanden. Raumsonden haben hier immerhin viele Anzeichen für Wasser gefunden, darunter das Mineral Hämatit und Phyllosilikate, aber auch Offensichtliches wie Ablaufkanäle.
Noch mehr Chaos findet sich etwas weiter draußen im Sonnensystem, auf dem Jupitermond Europa. Wir erinnern uns: Europa, ein silikatischer und damit erdartiger Mond, der umgeben ist von einer zehn Kilometer mächtigen Eisschicht, unter der die Gezeitenkräfte wärmespendende Vulkane und einen flüssigen Ozean unterhalten. Eine Welt also, auf dem die wichtigsten Voraussetzungen für Leben vorherrschen: flüssiges Wasser und eine Energiequelle. Das Problem: Zehn Kilometer Eis sind nicht eben leicht zu durchbohren.
US-Geophysiker haben jetzt allerdings eine Hintertür gefunden in die aquatische Unterwelt Europas – Chaosregionen. Sie bedecken gut 40 Prozent der Mondoberfläche und machen ihrem Namen alle Ehre. Es sind zirkulär geformte Gebiete, hunderte bis tausend Kilometer im Durchmesser. In ihnen liegen riesige Eisschollen, die teilweise gedreht und gekippt wurden. Sie scheinen in einer Matrix aus Eis zu schwimmen, die reich ist an Verunreingigungen und die offenbar deutlich jünger ist als der Rest der Oberfläche. Doch in geschmolzenem Wasser schwimmen die Eisberge nicht wirklich, immerhin besitzt Europa keine Atmosphäre. Unter so extremen Druckbedingungen – also im Beinahe-Vakuum – kann flüssiges Wasser nicht stabil sein.
Die Forscher um Britney Schmidt von der University of Texas in Austin haben sich nun ein Modell überlegt, wie diese Chaosregionen entstanden sein könnten. Es gelingt ihnen dabei, die Topografie gleich mehrerer Gebilde zu erklären – denn auf Europa gibt es verschiedene Ausprägungen des Chaos. Manche ragen als Hügelkette über ihre Umgebung hinaus, andere befinden sich in Senken. All das ist laut Britney Schmidt und ihren Kollegen erklärbar – durch riesige ständig aufsteigende Eisdiapire und (das freut jetzt die Astrobiologen) flüssige Schmelzwasserlinsen.
Demnach wird oberhalb des vulkanisch erwärmten Ozeans auch das Eis an der Basis von Europas Eispanzer erwärmt und beginnt durch seine geringere Dichte pilzförmig aufzusteigen. Langsam steigt der Druck über dem Eisdiapir und der Eispanzer erreicht irgendwann seinen Druckschmelzpunkt, wodurch die Schmelzwasserlinse entsteht und die Oberfläche darüber lokal absinkt. Oberhalb der Linse kann das Eis naturgemäß aber nur spröde auf Verformungen reagieren, wodurch nun lange Klüfte zwischen einzelnen Eisschollen entstehen, die an kalbende Eisberge irdischer Gletscher erinnern. Schließlich beginnt das Wasser der Schmelzwasserlinse erneut zu frieren, was Teile der Eisschollen anhebt und aus der vormaligen Senke hervortretende Hügelketten bildet.
Das Ganze klingt spannend: Eine vorsichtige Schätzung der Geophysiker kommt auf 20.000 bis 60.000 Kubikkilometer Frischwasser, das sich allein unter dem recht kleinen Thera Macula bewegt (das Äquivalent aller Great Lakes Nordamerikas – oder der Ostsee). Und dieses Wasser liegt nicht zehn Kilometer tief unter dem Eis – wie Europas Ozean – sondern nur schlappe drei Kilometer – wenn das Modell so stimmt. Diverse antarktische Bohrungen wie der Vostokkern gehen deutlich tiefer und sind damit zumindest auf der Erde technisch machbar.
B. E. Schmidt et al.: Active formation of ‘chaos terrain’ over shallow subsurface water on Europa, Nature 479, 7373 (2011), DOI: 10.1038/nature10608
Arthur C Clarke
Wie schrieb doch Arthur C. Clarke so schön in 2010: Odyssey 2: “All these worlds are yours exept Europa. Attempt no landing there!”
http://en.wikipedia.org/wiki/2010:_Odyssey_Two