Gagarins 108 historische Minuten – Teil 2

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Lesen Sie hier Teil 2 der Ereignisse des 12. April 1961, wie sie sich zwischen 9:07 und 10:55 Uhr Moskauer Zeit abspielten. Teil 1 finden Sie hier. Wir steigen ein in dem Moment, als die Retrozündung über Südafrika stattgefunden hat, aber sich die Gerätesektion der Wostok nicht vollständig von der Rückkehrkabine abgetrennt hat. Beide Elemente sind noch über den Kabelbaum miteinander verbunden, und drehen sich mit einer Geschwindigkeit von 30 Grad pro Sekunde umeinander. Dennoch sendet Gagarin den Funkcode "WN". Er steht für "Wsje normalno – alles normal"

Das war sicher eine erhebliche Untertreibung, aber die Code-Übermittlung ließ wohl nicht viele Abstufungen zwischen Havarie und Normalzustand zu. Es zeigt aber auch Gagarins offensichtliches Vertrauen, dass das Raumfahrzeug dieses Problem überstehen würde. Er wusste: es musste der Kabelbaum sein, seine Beobachtung der Drehung der beiden Komponenten umeinander sagte ihm, dass die Verbindung vermutlich nur lose war, dass sich das Problem beim Eintritt in die Erdatmosphäre durch die hohen dynamischen Lasten wahrscheinlich von selbst lösen würde, und dass sich die beiden Sektionen dann voneinander trennen würden.

So war es, doch sofort stellte sich ein neues Problem ein, wie dem Bericht zu entnehmen ist: „..das Raumschiff drehte sich nach wie vor. Die Trennung ereignete sich dann um 10 Uhr 35 Minuten, wie ich es erwartete, ungefähr 10 Minuten nach dem Ende der Arbeit der Bremsanlage. Die Trennung spürte ich heftig. Es erfolgte ein Schlag, dann ein Stoß. Die Drehung dauerte an. Alle Lampen am PKRS erloschen, nur eine Aufschrift schaltete sich ein ‚Bereiten Sie sich zum Katapultieren vor‘“.

Gagarin wusste, dass seine Kapsel beim Wiedereintritt eigenstabil sein und sich von selbst die optimale Lage einnehmen würde. So dürften ihn die fortdauernde Drehung (es ging nun gar nicht mehr anders, denn das Antriebsmodul mit den Lageregelungstriebwerken war nun endgültig weg) wohl weniger beunruhigt als die Meldung des Abstiegssystems sich auf das Ausschleudern vorzubereiten. In 160 Kilometern Höhe, bei 27.500 Kilometern pro Stunde, noch vor dem Wiedereintritt! Alle Alarmglocken müssen in ihm geschrillt haben. Ein Todesurteil, wenn es denn tatsächlich passieren würde.

In der Folge behält er die Schleudersitzanzeige genau im Auge, berichtet aber auch über alle anderen Vorgänge. Hier einige Auszüge aus der Passage, die sich mit dem Wiedereintritt beschäftigen: „Die Drehung des Raumschiffes verringert sich und das Schiff begann um ungefähr 90 Grad nach allen drei Achsen zu schwingen. Ein voller Überschlag geschah jedoch nicht (die Schwerpunktlage der Wostok war so beschaffen,  dass die kugelförmige Kabine die am dicksten gepanzerte Hitzeschildschicht in Flugrichtung ausrichtet)…plötzlich erschien an den Rändern des Rollos (er hatte vor dem Vzor-Fenster vor dem Wiedereintritt in Erwartung blendender Helligkeit einen Rollo heruntergezogen) hell-glutrotes Licht…ich empfand die Schwingungen des Schiffes und das Brennen der Abschmelzschicht…es war ein Knistern zu hören…ich wusste nicht, woher das Knistern kam, ob die Konstruktion knisterte oder ob die thermische Hülle sich durch die Erwärmung ausdehnte…es war zu fühlen, dass die Temperatur sich erhöhte…die Überbelastung stieg kontinuierlich…die Schwingungen der Kugel dauerten die ganze Zeit über an…im Moment der maximalen Überbelastung verringerte sich die Krängung des Schiffes auf +/- 15 Grad. Nach meinen Empfindungen betrug die Überbelastung jetzt 10 g. Vor den Augen wurde es mir grau (bei sehr hohen Andruckbelastungen, kurz vor Eintritt der Bewusstlosigkeit, verliert der Mensch das Farbsehvermögen)…ich strengte mich an (er meint vermutlich die Pressatmung, die bei extremen Andruckbelastungen durchgeführt werden muss, um nicht das Bewusstsein zu verlieren)…diese Überbelastung dauerte nur kurz…sie schwand kontinuierlich, aber schneller als beim Anwachsen. Von diesem Moment an konzentrierte ich mich darauf, dass bald das Katapultieren geschehen soll…“.

Er schildert nun das Pfeifen und Rauschen der Windgeräusche und seine Vorbereitung auf das Herauskatapultieren aus dem Raumschiff: „Ich wartete nun auf das Katapultieren…ungefähr in einer Höhe von 7.000 Metern wurde der Deckel der Luke 1 abgesprengt.  Ein Schlag, und der Deckel war weg…in diesem Moment geschah der Schuss und ich katapultietre mich…Ich flog mit dem Sessel weg, weiter als eine Kanone schoss, und der Stabilisierungsfallschirm entfaltete sich“.

Der Schleudersitz wurde direkt über der Wolga aktiviert, und in den ersten Sekunden befürchtet Gagarin, im Wasser landen zu müssen. Er trennt sich vom Sitz und der Hauptschirm öffnet sich normal. Aufgrund der großen Höhe war jedoch die Winddrift beträchtlich und es trieb ihn vom Fluss weg. Er kannte die Gegend von seinem Fallschirmtraining.

Nun berichtet er von einem Vorfall, der nirgendwo in den Dokumentationen über den Flug enthalten ist, wohl weil er ihn selber in beiläufigem Ton schildert und ihn – mangels Hintergrundwissen – keiner der Historiker sonderlich ernst nahm: „Dann wurde der Ersatzfallschirm aktiviert, öffnete sich und blieb hängen. Er entfaltete sich nicht…dann kam eine Schicht Wolken. In der Wolke blies ein leichter Wind und der zweite Fallschirm öffnete sich…

Offensichtlich hat sich also der Reserveschirm aktiviert, obwohl der Hauptschirm normal funktionierte. Er hing zunächst offensichtlich als „Fahne“ ungeöffnet neben dem Hauptschirm (mit der latenten Gefahr, sich im Hauptschirm zu verheddern) und öffnete sich danach. Gagarin hing danach an zwei geöffneten Fallschirmen. Ein solcher Zustand sorgt keineswegs für mehr Sicherheit, wie man als Laie annehmen möchte, sondern für deutlich weniger. Die Kombination ist nun erstens nicht mehr steuerbar, zum zweiten ist die Sinkgeschwindigkeit jetzt höher, da sich die beiden Rundkappen gegenseitig aus der optimalen Position verdrängen und zum dritten besteht weiterhin die Gefahr, dass sie sich ineinander verhaken. Eine nicht ungefährliche Situation, die ein Fallschirmspringer unter normalen Umständen dadurch begegnen würde, eine der beiden Kappen zu trennen.

Gagarin hatte allerdings noch mit einem anderen Problem während der Fallschirmlandung zu kämpfen, denn das Ventil des Sauerstoffversorgungssystems hatte sich durch die vielen Bewegungen und das stramme Gurtzeug verschoben. Er konnte nur noch mit Schwierigkeiten atmen und war auch nicht in der Lage das Helmvisier in der Luft zu öffnen. Das gelang ihm erst nach der Landung (die zum Glück in einem frisch gepflügten Acker erfolgte, so dass sie sehr weich war). Über den Moment der Landung berichtet er wie folgt, und die Erleichterung ist offensichtlich: „Der hintere Fallschirm fiel auf mich, der vordere ging nach vorn. Ich löste ihn, nahm das Geschirr ab. Ich schaute. Alles war ganz. Das bedeutete, ich lebe, ich bin gesund“.

Was nun kommt, könnte der Stoff für eine Groteske sein.

Die verzögerte Abtrennung der Geräteeinheit hatte dazu geführt, dass er den geplanten Landeort erheblich verfehlte. Statt südlich von Wolgograd landete er viel weiter nördlich, in der Nähe der Stadt Saratow. Die Bergemannschaften warteten im Zielgebiet in der Gegend von Wolgograd auf ihn, aber hier in Zaratow war niemand.

Also marschierte er los, um nach einem Telefon zu suchen, mit dem er sich zurückmelden konnte. Auf einer Anhöhe angekommen sah er eine Frau mit einem kleinen Mädchen. Das Mädchen bekam vor der Gestalt in ihrem roten Raumanzug Angst, riss sich los und lief davon. Die Frau würde das am liebsten auch tun, aber schließlich gelang es ihm, sie zu überzeugen. Auch hier ist durchaus Grund zur Besorgnis. Weniger als ein Jahr zuvor war Gary Powers über der Sowjetunion abgeschossen worden und die Bewohner in der Umgebung von Swerdlowsk, die ihn aufgriffen, hätten ihn beinahe gelyncht.

In Erinnerung an den Gary Powers Vorfall hält ihn die Frau zunächst für einen weiteren amerikanischen Spion.
Die Besorgnis der Offiziellen, dass Gagarin ein Malheur durch die eigene Bevölkerung geschehen könnte, führte auch dazu, dass die Durchführung des Fluges bereits zu einem Zeitpunkt im Rundfunk verbreitet wird, zu welchem der Ausgang der Mission noch ungewiss ist. Schließlich kommen auch ein paar Männer hinzu, die gerade die Meldung im Radio gehört haben. Man macht sich gegenseitig höflich miteinander bekannt, eine Situation, die in Komik wohl kaum zu überbieten sein dürfte, und plaudert ein wenig. Gagarin bittet dann die Frau auf die Fallschirme aufzupassen und will mit den Männern zur Ansiedlung gehen.

Da kommt aber auch schon ein Offizier aus dem nächstgelegenen Militärlager vorbei. Wieder stellt man sich höflich vor. Gagarin fragt, ob er nach Moskau telefonieren kann. An der Rückkehrkapsel (sie war vier Kilometer entfernt niedergegangen) und an Gagarins Landeort werden Posten bezogen. Gagarin fährt ins Feldlager und kann endlich seinen Raumanzug ausziehen, mit dem Ergebnis allerdings, dass er nun die nächste Zeit in seiner etwas albern aussehenden hellblauen Thermalunterwäsche herumlaufen muss. Erst jetzt erfolgt die telefonische Meldung nach Moskau. Gagarin besteigt wieder ein Auto (den Raumanzug packt man hinten mit rein) und man fährt wieder hinaus zur Landestelle. Dort ist inzwischen ein Hubschrauber angekommen, der jedoch niemanden vorgefunden hat, und gerade wieder dabei ist, fortzufliegen, als Gagarin aus dem Auto springt und winkt. Der Hubschrauber landet wieder, einige höhere Offiziere befinden sich an Bord, Gagarin sagt ihnen, wen sie informieren sollen (die Generale Kamanin und Agalzow) und dass sie ihn doch bitte an der Landestelle absetzen sollten, mit seiner Ausrüstung, weil er da auf sie warten werde…

Und schließlich gewinnt die Sache an Eigendynamik. Es beginnt der Rummel, der für Gagarin lange Zeit nicht mehr abebbte. Meldungen an Generale. Meldungen von Generalen an weitere Generale Telefonate mit Breschnew und Chrustschow. Paraden in Moskau und der ganzen Welt. Der erste Tag der bemannten Raumfahrt.

Quellenhinweise: Eine Übersetzung des gesamten „Vortrags J.A. Gagarins auf der Sitzung der Staatlichen Kommission nach dem kosmischen Flug“ findet sich in Raumfahrt Concret, Heft 66, Ausgabe 1/2011. Die Auszüge sind aus diesem Artikel entnommen.

Die Fragen der Kommission, die nach Gagarins Bericht anschlossen, sowie ein Transskript des gesamten Funkverkehrs vom Start bis zur Landung sind als Ausdruck für 6.50 € ebenfalls bei Raumfahrt Concret zu erhalten.

In Sterne und Weltraum 4/2011 widmet Gerhard Kowalski, intimer Kenner der sowjetisch/russischen Raumfahrt dem Flug Gagarins und seinen Begleitumständen den Leitartikel.

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Ich bin Raumfahrt-Fan seit frühester Kindheit. Mein Schlüsselerlebnis ereignete sich 1963. Ich lag mit Masern im Bett. Und im Fernsehen kam eine Sendung über Scott Carpenters Mercury-Raumflug. Dazu der Kommentar von Wolf Mittler, dem Stammvater der TV-Raumfahrt-Berichterstattung. Heute bin ich im "Brotberuf" bei Airbus Safran Launchers in München im Bereich Träger- und Satellitenantriebe an einer Schnittstelle zwischen Wirtschaft und Technik tätig. Daneben schreibe ich für Print- und Onlinemedien und vor allem für mein eigenes Portal, "Der Orion", das ich zusammen mit meinen Freundinnen Maria Pflug-Hofmayr und Monika Fischer betreibe. Ich trete in Rundfunk und Fernsehen auf, bin Verfasser und Mitherausgeber des seit 2003 erscheinenden Raumfahrt-Jahrbuches des Vereins zur Förderung der Raumfahrt (VFR). Aktuell erschien in diesen Tagen beim Motorbuch-Verlag "Interkontinentalraketen". Bei diesem Verlag sind in der Zwischenzeit insgesamt 16 Bücher von mir erschienen, drei davon werden inzwischen auch in den USA verlegt. Daneben halte ich etwa 15-20 mal im Jahr Vorträge bei den verschiedensten Institutionen im In- und Ausland. Mein Leitmotiv stammt von Antoine de Saint Exupery: Wenn du ein Schiff bauen willst, dann trommle nicht Menschen zusammen, um Holz zu beschaffen, Werkzeuge zu verteilen und Arbeit zu vergeben, sondern lehre sie die Sehnsucht nach dem weiten unendlichen Meer. In diesem Sinne: Ad Astra

1 Kommentar

  1. Überlebenswahrscheinlichkeit

    Eine sehr interessante Schilderung der ersten bemannten Raumfahrt. Da war offensichtlich auch ein wenig Glück dabei, denn von einem problemlosen Ablauf der Mission kann ja keine Rede sein. So “über den Daumen gepeilt” würde ich schätzen, dass Y.Gagarin etwa eine 50%-ige Überlebenschance hatte. Das scheint mir angesichts der zahlreichen, zum Teil echt bedrohlichen Störfälle und angesichts der vorangegangenen Fehlschläge mit der Trägerrakete – insbesondere die Schwierigkeiten mit den Vibrationen während der Startphase – eine durchaus plausible Schätzung. Ich jedenfalls würde das Space-Shuttle als Transportmittel vorziehen…

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