Ein Siegel wurde in Jerusalem gefunden – wer kennt den Besitzer?

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Archäologische Spatenstiche

Viktor Golinets

Die israelische Zeitung Jerusalem Post berichtete am 17.01.2008 vom Fund eines Siegels während der Ausgrabungen in der Davidstadt in der Nähe des Mülltors (vgl. "First Temple seal found in Jerusalem", dort auch ein Foto des Siegels). Die Ausgrabung wird durch die Archäologin Dr. Eilat Mazar geleitet.

Das Siegel ist aus Stein und hat die Maße 2,1 cm x 1,8 cm. Auf dem Siegel sind zwei Personen dargestellt, die an einem Rauchopferaltar opfern. Oberhalb des Altars sieht man den Halbmond, das Symbol des babylonischen Mondgottes Sin. Unterhalb des Bildes sind Buchstaben in paleo-hebräischer Schrift eingeritzt.  

Wenn ich den Text des Artikels in Jerusalem Post richtig verstehe, war es Dr. Eilat Mazar, die die hebräischen Buchstaben als Taw, Mem und Chet gelesen hat. Sie hat den Text als den Namen Temech gedeutet und den Namen mit einer Familie der Tempeldiener aus der Zeit des ersten Tempels in Verbindung gebracht. Dieser Name kommt in der Bibel in den Büchern Ezra 2:53 und Nehemia 7:55 vor.

Wenn man sich das Bild anschaut und bedenkt, dass es sich um ein Siegel handelt, dann wird einem klar, dass ein Abdruck des Siegels spiegelverkehrt vorliegen würde. Diese Einsicht hat Implikationen für die Deutung der hebräischen Buchstaben. Sie müssen dann am Siegel nicht von rechts nach links, sondern von links nach rechts gelesen werden.

Wird der Text auf diese Weise gelesen, dann sieht man dort die Buchstaben Shin, Lamed, Mem und Taw, also nicht drei, wie bei Mazar, sondern vier. Diese Lesung wurde zuerst von Dr. Peter van der Veen vorgeschlagen (vgl. "But can it balance a beach ball on its nose?). Der Text würde somit den Namen Schelomit/Schulamit ergeben.

Folgende Überlegungen sprechen für diese Lesung:

1. Es wurde schon darauf hingewiesen, dass wir es hier mit einem Siegel zu tun haben, dessen Abdruck spiegelverkehrt rauskommt.

2. Die Buchstabenform. Während die Buchstaben Schin und Taw symmetrische Formen entlang ihrer senkrechten Achsen haben, ist der lange Schaft beim Buchstaben Mem rechts, wie das spiegelverkehrte Bild des Siegels zeigt. Der Buchstabe Lamed sieht als ein senkrechter Strich aus. Da das Bild im Internet in niedriger Auflösung vorliegt, kann nicht mit Sicherheit gesagt werden, ob der Buchstabe Lamed einen kurzen, nach rechts gehenden Strich hat.

3. Die Neigung der Schrift. Die Buchstaben weisen eine Neigung von rechts oben nach links unten auf. Dies entspricht dem Duktus der althebräischen Schrift. Es erübrigt sich zu sagen, dass wenn man diese Buchstaben als Taw, Mem und Chet deutet, auch die dann merkwürdige Neigung der Schrift erklärt werden muss.

4. Für die Deutung von Dr. Eilat Mazar kommt die Tatsache erschwerend hinzu, dass der mutmaßliche Buchstabe Chet einen zweiten Strich neben dem linken Schaft hat. In der Lesung von Dr. Peter van der Veen werden diese Striche als Teile des Buchstabens Schin aufgefasst.

Aus diesen Gründen ist die Lesung Shin, Lamed, Mem und Taw zu bevorzugen.

In den Internetpublikationen zu diesem Siegel – ebenso wie in dem Artikel in Jerusalem Post – wird der Name auf dem Siegel in Verbindung mit der Familie von Temech gebracht. Der Fund wird als eine außerbiblische Bezeugung einer in der Bibel genannten Person gefeiert und als eine Bestätigung für die Genauigkeit der Bibel gesehen. Nun haben wir leider keine Anhaltspunkte dafür, ein Siegel, auf dem nur ein Name steht und weitere Identifizierungsmerkmale fehlen, mit einer Person zu verbinden, von der wir nur wissen, dass sie mal am Tempel gearbeitet haben kann. Aufgrund von mehreren Unbekannten wird eine solche Gleichung nie zustande kommen können.

Ähnliches gilt auch für den Versuch, im Namen Schelomit/Schulamit die Geliebte des Salomo zu sehen (Hohes Lied 6:13; 7:1), falls eine solche Identifikation in Zukunft vorgeschlagen wird. Ich denke, dass diese Identifikation viel interessanter ist und viel mehr Gemüter beunruhigen wird, als die Erwähnung eines kaum bekannten Wasser- oder Holzträgers aus dem Tempel.

P.S. Der Name Schelomit/Schulamit kommt in der Bibel in unterschiedlichen Schreibungen und Vokalisierungen als Männer- und Frauenname vor. Als Männername: 1 Chronik 23:9, 18; 24:22; 26:25, 28 (drei Personen); 2 Chronik 11:20 (das Geschlecht des Namenträges ist unklar); Esra 8:10. Als Frauenname: 3 Mose 23:11; 1 Chronik 3:19 (zwei Personen).

Abbildung: Das Schulamit-Siegel aus Jerusalem, gefunden im Januar 2008 bei Ausgrabungen in der Davidstadt. Die Abbildung stamm aus der Onlineausgabe von Jerusalem Post, 17.01.2008. Das Siegel ist hier spiegelverkehrt dargestellt und somit gibt es seinen Abdruck wieder.

Das Schulamit-Siegel aus Jerusalem, gefunden im Januar 2008 bei Ausgrabungen in der Davidstadt. Die Abbildung stamm aus der Onlineausgabe von Jerusalem Post, 17.01.2008. Das Siegel ist hier spiegelverkehrt dargestellt und somit gibt es seinen Abdruck wieder.

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Viktor Golinets arbeitet im Bereich der semitischen Sprachen und der Hebräischen Bibel. Sein Interesse gilt unter anderem der Sprache und der Textgeschichte des Alten Testaments.

1 Kommentar

  1. Finde ich gut, Herr Golinets, daß Sie uns hier mit dem Kommentar über die Entwicklung auf dem Laufendem halten.

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