Die ‚Homerische Frage‘
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Die ‚Homerische Frage‘ behandelt im engeren Sinn die Frage nach dem Verfasser der Ilias und Odyssee. Im weiteren Sinn ist die ‚Homerische Frage‘ eine Suche nach Antworten zu den Fragen wann und wie die Epen entstanden sind. Ob es tatsächlich einen griechischen Dichter namens ‚Homer’ gab, ist in der aktuellen Forschung sehr umstritten. Ab dem 2. Jahrhundert v.Chr. gibt es Quellen, die vom Zweifel an der Echtheit einiger Versen handeln.[1] Damit startete eine Auseinandersetzung, die bis heute anhält.
1795 erlebte die Debatte um die ‚Homerische Frage‘ eine erste Wendung. Friedrich August Wolf entzog Homer die Autorenschaft und setzte stattdessen mehrere Dichter als Urheber der Werke ein. Der Analytiker Wolf kam zu dem Ergebnis, dass der Text ein von Rhapsoden (Sängern) vorgetragener, variierender Liederkomplex sei.[2] Die Verschriftlichung des mündlich tradierten Textes fand nach Wolf erst unter der Herrschaft von Peisistratos ca. 550 v.Chr. statt. Die heute vorliegende Version der Ilias wurde hingegen erst im Hellenismus verfasst. Nach Wolf handelte es sich um eine Überarbeitung eines oder mehrerer Urtexte. Erkennbar sei dies an der hellenistischen Grammatik, auf der die komplexe Kunstsprache basiere.[3] Die hellenistische Grammatik ist aus den Scholien rekonstruierbar.
Als größter Kritiker Wolfs fordert Guillaume de Sainte-Croix die Wahrnehmung Homers als einzelner Autor. Hauptargument Sainte-Croixs für die Existenz Homers war Vollendung und Geschlossenheit des Epos.[4] Die Annahme eines einzelnen Dichters wird in der Forschung als Position der Unitarier bezeichnet. Die Unitarier bilden eine Gegenposition zu den Analytikern.
Neuen Aufschwung erhielt die Forschung durch die Etablierung der ‚Oral Poetry‘ als neuen Forschungszweig Anfang des 20. Jahrhunderts. Durch die ‚Oral Poetry‘-Forschung erhalten mündliche Überlieferungen eine Aufwertung. Zentraler Untersuchungsgegenstand ist die mündliche Überlieferung von Erinnerungen vergangener Gesellschaften.[5] Die Forschung der ‚Oral Poetry’ zeigte, dass eine Stoffgeschichte maximal zwischen drei Generationen wahrheitsnah überliefert werden kann. Spätestens nach der dritten Generation erfolgen erste stoffliche Verzerrungen durch Rekonstruktion und Interpretation.[6] Milmam Parry bewies einen folgenreichen Improvisationszwang in seiner Forschung über die serbokroatische Volksepik, dem die fahrenden Künstler bei jedem Vortrag ausgesetzt waren. Der Künstler arrangierten einzelne Inhalte in jedem Vortrag neu, als Folge traten Versprecher und andere Fehler auf.[7] Wie sich der Vortrag eines homerischen Sängers angehört haben könnte, der Teile der Ilias oder Odyssee vortrug, zeigt das Projekt von Georg Danek und Stefan Hagel. Ihr Projekt strebt nicht nach einer exakten Rekonstruktion der Gesänge, sondern nach einer Annähern an die technisch denkbaren Möglichkeiten eines Vortrags.
Die ‚Oral Poetry‘ legt nahe, dass die Inhalte der Ilias und Odyssee zuerst mündlich und erst deutlich später ab der zweiten Hälfte des 8. Jahrhunderts schriftlich tradiert wurden. Eine letzte Klärung der ‚Homerischen Fragen‘ bleibt offen. Denkbar ist auch das ‚Homer‘ eine kollektive Berufsbezeichnung für Sänger im allgemein war.[8] Alleine durch das Auftauchen neuer Quellen ist eine Klärung der Fragen möglich. Vorerst muss die ‚Homerische Frage‘ ungelöst bleiben.
[1] Vgl. Joachim Latacz: Homers Ilias. Studien zu Dichter, Werk und Rezeption, Berlin / Boston 2014; George Melville Bolling: The External Evidence for Interpolation in Homer, Oxford 1925, S.27-30; Cic. Or. 13,13.
[2] Vgl. Justus Fetscher: Anbrüche, Vorgeschichte und Programm der Fragmentpoetik, in: Eckart Goebel / Martin von Koppenfels (Hg.): Die Endlichkeit der Literatur, Berlin 2002, S.63.
[3] Vgl. Ebd. Fetscher, S.63.
[4] Vgl. Guillaume-Emmanuel-Joseph Guilhem de Clermont-Lodève Sainte-Croix: Widerlegung des Wolfischen Paradoxons über die Gedichte Homers, aus dem Französischen übersetzt und herausgegeben von Siegfried Lebrecht Crusius, Leipzig 1798, S. 58-59.
[5] Vgl. Gabriele Müller-Oberhäuser: Mündlichkeit, in: Metzler Lexikon, Literatur- und Kulturtheorie, herausgegeben von Ansgar Nünning, 4., aktualisierte und erweiterte Auflage, Stuttgart / Weimar 2008, S. 516-517.
[6] Vgl. Astrid Erll: Kollektives Gedächtnis und Erinnerungskulturen. Eine Einführung, Stuttgart 2005, S. 13-27.
[7] Vgl. Ebd. Müller-Oberhäuser: Mündlichkeit, S. 517.
[8] Vgl. Latacz: Homers Ilias, S.28-29; Vgl. Martin Litchfield West: Die Geschichte des Textes, in: Joachim Latacz (Hg.): Homers Ilias. Ein Gesamtkommentar, Prolegomena (3, 2009), S.27.
Interessant, der Schreiber dieser Zeilen war kürzlich selbst mit dieser Materie kurz befasst, ergänzend:
Homer lebte oder “lebte” zwischen 850 BC und 1,200BC .
Schrift, die Griechisch persistiert hat, gibt es seit dem 14. Jhd. v. Chr. – allerdings nicht dem griechischen Alphabet folgend, das seit dem 9, Jhd. v. Chr. bereit steht.
Es ist undenkbar, dass originale “Homersche” Dichtung in der mündlichen Überlieferung auch nur annähernd im Sinne eines Originals überlebt hat.
MFG + schönes WE noch, danke für Ihre ganz bemerkenswerte Arbeit!
Dr. W
In der Antike hat meines Wissens (oder meines Unwissens) keiner die Existenz der Person Homers bezweifelt. Warum sollte man es heute tun, wissen wir denn diesbezüglich soviel mehr? Da scheinen mir die Zweifler sportlich am Werke zu sein, ähnlich was die Frage betrifft, ob Jesus tatsächlich gelebt hat.
Irgendjemand muss die Ilias geschrieben haben, eventuell ein Autorenkollektiv, aber ich weiß nicht, ob letzteres wahrscheinlicher ist. Also solange keine besseren Argumente aufgetischt werden, bleibe ich erstmal Unitarier.
Vielleicht haben wir Glück, und im ägyptischen Sand findet sich einmal eine Ilias nahe an der Entstehungszeit.
@ Herr Stefan :
Negativ, so wichtig wie es die Erfindung der Sprache war, damit “überhaupt etwas ist”, war die Erfindung der Schrift insofern außerordentlich wichtich, als dass sie dem mündlich Überlieferten, dem Märchen oder der Mar oder der Mär, interessant vielleicht auch in diesem Zusammenhang, wer es sprachlich so alles mit dem ‘Ausmähren’ (Mähren und so) versaubeutelt, überlegen ist, weil sie persistiert, bessere Medien als biologisch Nachtragende meinend.
Die bisher vier wichtigen Zivilisationssprünge sind: 1.) Erfindung der Sprache 2.) Erfindung der Schrift 3.) Erfindung des Buchdrucks und 4,) die Erfindung der Idee, die im Rahmen der Informationstechnologie persistiert, dupliziert und weitergehend ohne weiteres fabriziert werden kann, auch besondere funktionelle Logik meinend.
Dr. W
PS:
Gott und so, vgl. Pantheismus, hmm, hmm, in etwa so, wie der Mohammedanismus für einige zu Doitschland gehören soll, soll aus Sicht des Schreibers dieser Zeilen Jesus (“Christus”) unser Held sein,. verglichen mit dem Dreck natürlich nur, der realiter heutzutage kommt.
MFG
Dr. W (“Atheist”)
*
, verglichen mit dem Dreck natürlich nur
Dunkel ist der Sinn Ihrer Worte.
Die Ilias ist ein Werk, das ganz spezifisch nur am Übergang von Mündlichkeit zur Schriftlichkeit entstehen konnte. Sie weist noch viele formelhafte Wendungen auf, typisch für die mündliche Tradition, ist aber ein durchkomponiertes Großepos. Da wurde offenbar nicht nur etwas aufgeschrieben, sondern dabei auch neugeformt und gestaltet. Es ist vielleicht wie bei den Seifenopern. Sie haben viel Handlung, die die Zuschauer fesselt, aber wegen der raschen Produktion sind sie sprachlich grottenschlecht, bestehen zu großen Teil aus Phrasendrescherei. Deswegen wirken auch die Schauspieler oft so mies. Wenn man nun eine Serie als Roman herausgeben wollte, müsste man sie sprachlich überarbeiten, um genießbar zu sein. Homer hat diese Gelegenheit des Wechsel des Mediums verstanden, möglicherweise einfach durch die Praxis der Verschriftlichung und aus einer teilweise improvisierenden Vortragsdichtung ein sprachlich differenzierende Literatur gemacht. Es gab wahrscheinlich Vorstufen der Verschriftlichung von Epen, von denen Homer lernen konnte.
Diese Gedanken käue ich natürlich auch nur wieder, so wie sie mir plausibel erscheinen, ich bin kein Altphilologe.
Mit der Mährologie möchte ich nicht fortfahren, die Märchen wurden sicherlich nicht an der March ersonnen.
@ Herr Stefan :
Fully correct, Opa Webbaer deteriorierte womöglich einstweilen.
Von Wutanfällen einmal abgesehen, müsste die hier vorgegebene Nachricht passen; Homer und so, entscheidend diese weiter erfolgte Nachricht, hier wie folgt wiedergegeben:
Die bisher vier wichtigen Zivilisationssprünge sind: 1.) Erfindung der Sprache 2.) Erfindung der Schrift 3.) Erfindung des Buchdrucks und 4,) die Erfindung der Idee, die im Rahmen der Informationstechnologie persistiert, dupliziert und weitergehend ohne weiteres fabriziert werden kann, auch besondere funktionelle Logik meinend.
Hmm, hmmm, MFG,
Dr. W
@ werte Inhaltegeber(in) :
Opa Webbaer war weiter oben kommentarisch womöglich nicht in Bestform, vielen Dank für Ihre Geduld.
Zu Mähren, der Mar, dem Märchen und dem sprachlich gelegentlich verwendeten Sich-Aus-Mä(h)ren, das H muss hier fehlen.
Wie vergleichen spaßeshalber, auch den netten “Henk” berücksichtigend:
-> http://henryk-broder.com/hmb.php/blog/article/4574
-> http://www.achgut.com/dadgdx/index.php/dadgd/article/ich_sage_im_zweifel_fuer_die_meinungsfreiheit._punkt
(etc.)
MFG
Dr. W
Zu Paul Stefan 01.08.15 16:11 “Da scheinen mir die Zweifler sportlich am Werke zu sein, ähnlich was die Frage betrifft, ob Jesus tatsächlich gelebt hat.”
Den angeblich wundertätigen Wanderprediger hat es nicht gegeben, die mystischen Geschichten um ihn sind nicht authentisch.
Ich habe es mir doch gedacht, dass so etwas kommt …
Es gibt verschiedene Fassungen der Illias und Odyssee und die aus der hellenistischen Spätzeit werden heute weitergepflegt sind aber deutlich anders als die Urtexte. Damit ist die homerische Frage teilweise beantwortet ist: Es gibt keinen Homer aus der griechischen Frühzeit, der von den Nachfahren als Originalautor anerkennt worden wäre. Das sagt viel. Denn nicht einmal die antiken Griechen wären wohl auf die Idee gekommen, Herodots Bücher (Geschichte) in späteren “Druckauflagen” zu ändern und zu verbessern, bei Homer aber hatten sie keine Hemmungen. Das deutet doch darauf hin, dass es einen historischen Homer nur bedingt gab.
Würde man den Urtexten weiter nachgehen liesse sich die Frage wohl noch klarer beantworten. Heute scheint es denkbar, dass die Urtexte, die schliesslich in die Illias und Odysse eingingen, von einem oder wenigen Autoren geschrieben wurden und später in eine modernere Form gebracht wurden (eben während des Hellenismus). Es ist aber auch denkbar, dass es eine ganze Reihe verschiedener Quellen gab, die in das Endprodukt einflossen. Wenn der Urheber der Kompilation ein einzelner Mann wäre, dann könnte man wiederum von einem Homer als Autor sprechen. Doch es wäre dann ein Homer der auf der gleichen Ebene wie die Gebrüder Grimm, welche ebenfalls eine Kompilation von vielen Urtexten als Grimms Märchen herausgaben.
Die ersten vollständigen Manuskripte der Ilias und Odysee stammen aus dem 10. Jh. lese ich in einem Artikel von Martin L. West in dem Ausstellungskatalog “Homer. Der Mythos von Troja in Dichtung und Kunst” (2008). Aus der Antike sind nur Fragmente bekannt. Der Text unterlag in der Antike durchaus gewissen sprachlichen Modernisierungen und Anpassungen, die mittelalterlichen Texten liefern aber meistens die Besten Varianten zu einzelnen Stellen, heißt es. Alle älteren Versionen müssen aus dieser Überlieferung rekonstruiert werden. Homer hat natürlich ältere Geschichten verarbeitet.
Eine breitbandige Frage
Wer (gab es ihn/sie?), Was wurde geschrieben? Wer hat es wann veröffentlicht?
So kann man eine Menge Literatur untersuchen. Ich kann mich noch gut an eine Sendung erinnern, die die Frage nach Shakespeare stellte.
Die Homerische Frage kennzeichnet so ein Grundprinzip. Schon im ersten Abschnitt werden die Epen mit einbezogen. Prof: Maul übersetzte das Gilgamesch Epos modern, das schon 1831 vollständig nach damaligen Kenntnissen erstellt wurde.
Die Spanier brachten aus ihren Kriegszügen im Mittelalter mit, dass man in der neuen Welt König Gilgamesch kannte.
Prof. für Altorientalistik K. Hecker war verantwortlich für die Übersetzung eines komplexeren Werkes – das Enuma Elisch.
Diese beiden und weitere Epen könnten breiten Raum für eine Diskussion bieten.