Wattwanderung

BLOG: Anatomisches Allerlei

Kopflose Fußnoten von Helmut Wicht
Anatomisches Allerlei

Wattwanderung

(oder: 7 = 5 und die Evolution des Fippthelers)

Warnung: der folgende Text ist gänzlich hirnlos, hat aber Hand und Fuss.

Eine Zeit lang wollte ich Paläontologe werden. Nicht wegen der Saurier – die fand ich nie spannend. Zu gross, zu plärrig, zuviel Hype. Das Devon fand ich aufregend, jene mittlere Periode des Paläozoikums, "als die Fische an Land gingen". 350 Millionen Jahre ist das her. "Major e longinquo reverentia", dacht’ ich mir schon damals, "die Ehrfurcht nimmt mit der (zeitlichen) Entfernung zu". Und so beschaute ich die Fossilien der diversen devonischen Dachschädler (Stegocephalia – was für ein Name!) mit grösserer Ehrfurcht als jene der Dinos. Dort, im Devon, unter den dachschädelnden Fusskriechern ("Pederpes" ist der Gattungsname von so einem Stegocephalen), dort krauchte mein, kroch unser aller erster Ahn, das früheste Vierfusswesen, der erste Tetrapod. Die Saurier: ein Seitenzweig.

Ausserdem fand ich Paläontologie an sich prima. Das hatte so etwas von "Veritates aeternae" – ewige Wahrheiten, vor Jahrmillionen in Stein gemeisselt, fern aller holozänen ("jetztzeitigen") Wissenschaftshektik.

Dass ich diesem Trieb ins Devonische nicht folgte, hat mit einer Frau zu tun, was en detail hier aber nicht ausgebreitet werden soll. Statt mit dem Geologenhammer zu Felde zog ich mit dem Skalpell fortan Häute von Menschenleibern: Ich ward Humanatom. Freilich bleibt einem da der Blick des Biologen erhalten. Verträumt schaut der paläontologisch vorbelastete Anatom dann mitunter auf seine latex-behandschuhten Hände, Pinzette in der einen und Skalpell in der anderen, und denkt sich: "Naja – im Silur waren das halt noch Flossen!". Vor allem dann, wenn er gerade eine Präparation ungeschickt vermurkst hat. "An jeder Hand fünf Daumen!", verflucht er sich dann weiter selbst, womit wir beim Thema wären: Die Evolution der Pentadactylie, der Fünffingrigkeit also, und eben auch die Evolution paläontologischer "Veritates aeternae".

"Tetrapoden haben vier Füsse und daran je 5 Zehen". Das war so eine ewige Wahrheit der Paläontologie und der vergleichenden Anatomie. Es tat der Wahrheit keinen Abbruch, dass manche Tetrapoden nur zwei Füsse haben (der Mensch zum Beispiel) oder andere nur einen Zeh (der Esel zum Beispiel). Denn jene "4×5"-Gestalt war der "Bauplan", war die "Idealfigur", war die "Morphe" der idealistischen, prä-darwinschen Biologie, aus der heraus sich die Vielgestaltigkeit der Füsse, Hände, Flügel, Pratzen, Flossen, Tatzen, Flughautfinger und Hufhornhalter (etc.pp.) ableiten liess.

Kam Darwin, und ohne viel Federlesens wurde jener "Bauplan" (ein Abstraktum) in den Rang eines Vorfahren (eines Konkretums) erhoben, das nun eben als der letzte gemeinsame Vorfahr all dieser "4×5"-Wesen eingesetzt wurde. Man musste ihn nur noch ausgraben, den Vorfahren.

Tat man. Man fand in Grönland Wesen, die man Dachschädler, Stegocephalia,  nennt. Darunter ist Acanthostega – der Stacheldachler, wenn ich es recht übersetzt habe. Das "Dach", um das es da immer geht, ist das Schädeldach. Beim Acanthostega trägt es zwei rückwärts gewandte Dornen. Bei Ichthyostega, dem Fischdachler also, sieht es aus wie das mancher (ebenfalls fossiler) Fische. Alles wunderbar. Hier geht es aber nicht um Dächer, hier geht es um Hände, Füsse, Zehen und Finger.

Pentadactyl sollt’ er sein, der Vorfahr. War er auch. Theoretisch. So etwa bis 1980. Im folgenden Jahrzehnt passierte dann etwas, was die Vertreter der Theorie des "punctuated equilibrium" ("angestochendes Gleichgewicht") in helle Begeisterung versetzen sollte – mit einem Schlag wurde die Luft aus der fünffingrigen Theorie gelassen. (Der Scherz mit dem "punctuated equilibrium" ist für die Insider. Ich erklär’ ihn bei Bedarf…). Denn bis dahin hatte man nur die Schädel der Dachschädler. Jetzt kamen aber die Extremitäten zum Vorschein.

Und die trugen 6 Finger. Oder 7. Oder gar 8. Also machten die Paläontologen die Rolle rückwärts – die Geschichte der Fingerevolution musste neu erzählt werden, mit deutlich mehr Fingern zum Auftakt. Wurde sie auch. Das Zitat eines wunderschönen Reviews von Jennifer Clack hab’ ich unten angehängt. Er ist nur ein Jahr alt, von 2009. In den Begriffen der Paläontologie ist das "rezent" – allergegenwärtigste Gegenwart, frischestes Holozän des känozoischen Quartärs.

In den Begriffen des Wissenschaftsbetriebs allerdings ist es schon wieder finsterstes Archaikum. "E Polonia lux", aus Polen fällt neues Licht auf die Evolution der dezimalen Fingerei und Zehnzehigkeit. In "Nature", ganz frisch, von Grzegorz Niedzwiedzki et al., das genaue Zitat steht unten. Die haben in einem polnischen Steinbruch, der im Mitteldevon mal ein Wattenmeer war, ziemlich imposante Fussabdrücke gefunden. Die folgende Abbildung (ich hab’ sie direkt aus dem zitierten Paper gemopst) zeigt links (a) so einen Abdruck. Die Paläontologen nennen das ein "trace-fossil" – das Tierchen selbst, das den Abdruck hinterlassen hat, fanden sie nicht. Kein Skelett, nur die Spuren. Und ich sollte auch nicht "Tierchen" sagen. Der Abdruck ist gross – das Vieh muss über zwei Meter lang gewesen sein.

Fussabdruck

Ein Fussabruck im Matsch. Notabene ist dieser Matsch etwa 20 Millionen Jahre älter als die ganze Schädel- und Extremitätensammlung der Dachschädler, Ichthyostega und Acanthostega, von deren vielmehralszehn-zehigem Dasein oben die Rede war.

Man sieht Zehenabdrücke ("d"). Und zwar fünf, da gibt es wenig zu deuteln, denn auch andere Abdrücke zeigen diese Fünfzahl. In der Mitte des Bildes (b) ist nun die Hinterpfote des (Millionen Jahre jüngeren und viel kleineren) Ichthyostega zu bewundern. Dessen Skelett, wie gesagt, kennt man. Er hat sieben Zehenstrahlen, sieben Sätze von Zehenknochen, die die Anatomen "Phalanges" nennen – aber die grosszehenseitigen drei sind so klein, liegen so dicht beieinander, dass sie von einer gemeinsamen Weichteilhülle umgeben gewesen sein könnten – also könnte das ganze dann doch zu dem fünfzehigen Abdruck im Matsch passen.

Es könnte aber auch sein, dass der mitteldevonische Wattwanderer aus Polen wirklich nur 5 Zehen hatte. Und überhaupt (hier hebt der Anatom sein Haupt und schimpft auf die Paläontologen) – wovon reden wir denn eigentlich, wenn wir von "Pentadactylie" reden? Von den Fingern und Zehen ("Digitus" auf lateinisch, "Dactylos" auf griechisch) oder von deren Knochen ("Phalanges")? Ist ein Delphin, der eine Vorderflosse hat, "pentadactyl", bloss weil das Skelett im Inneren noch fünf Fingerstrahlen aufweist? Oder andersherum: ist nicht Ichtyostega "pentadactyl", aber "heptaphalangisch"? Ist sieben gleich fünf?

Oh, ich glaub es ist ganz gut, dass ich doch nicht Paläontologe geworden bin. Ja, "major e longinquo reverentia". Aber aus der sicheren Distanz, die die Ignoranz verleiht, schimpft es sich auch besser. Und eigentlich wollt’ ich ja auch gar nicht schimpfen. Nein, ganz im Gegenteil, es war eine herrliche Exkursion. Als ich nämlich all das hier eilig in die Tastatur klapperte, war ich im Geiste im Mitteldevon, sah mächtige Fischlurche durch Wattenmeere krauchen, deutete mit dem Zeigefinger auf einen von ihnen und sagte "Opa" zu ihm. Er hob mahnend eine fünffingrige Pfote aus dem Matsch und gab zurück: "Also, Jungchen, dsa mit dem Zeehnfingre-Sytsem aufd er Trasrtatur, asd musst Du nohc ein wneig üben, das sieht hja uas, als ob Du an jder Hand siebne Daumen hättst…"

Jennifer A. Clack (2009) The fin to limb transition: new data, interpretations and hypotheses from paleontology and developmental biology. Annual Review of Earth and Planetary Science, 37, 163-179

Grzegorz Niedz’wiedzki, Piotr Szrek, Katarzyna Narkiewicz, Marek Narkiewicz, and Per E. Ahlberg (2010) Tetrapod trackways from the early Middle Devonian period of Poland. Nature, 463, 43-48

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Veröffentlicht von

Gedankenfragmente von Helmut Wicht, Dozent an der Frankfurter Universität, über Neurobiologie, Anatomie, Philosophie, Gott und die Welt. Seine eigentliche Expertise bezieht sich auf die (Human-)anatomie und die vergleichende Anatomie des Nervensystems.

2 Kommentare

  1. Ahnenreihe

    Hallo Helmut,

    “Oh daß wir unsere Ur-Urahnen wären,
    ein Klümpchen Schleim in einem warmen Moor”…(G.Benn)

    Hast Du schon mal über Deine verwandschaftlichen Beziehungen zu den Ediacara nachgedacht, die waren doch präkambrisch auch schon sehr attraktiv und haben wohlklingende Namen (Kimberella, Dickinsonia, Swartpuntia,
    Spriggina, Randea,).

    Neujahrswünsche von
    S.R.

  2. @ Rehm

    (Zitat Benn)
    Oh ja!

    (Zitat Hoffmansthal, verfremdet)
    “Ganz vergess’ner Viecher Müdigkeiten
    kann ich nicht abtun von den schweren Lidern,
    noch fernhalten von der erschrock’nen Seele
    stummes Sterben silurischer Schlammkriecher.”

    Mein Lieblingstier aus diesen noch früheren Frühzeiten ist natürlich “Hallucinogenia spec.”. Zum Beispiel hier

    http://tinyurl.com/yg2o2w9

    zu bewundern. Man hielt sie erst für eine systematische Phantasmagorie, in keine Tiergruppe passend. Hat sich aber, soweit ich weiss, mittlerweile als ein schnöder Onychophor, ein Stummelfüsser, ein Peripatus herausgestellt.

    Wie schade. Aber Onychophoren per se sind auch schon recht bizarr. Grosse befusste, wehrhafte Würmer. Ausserdem kommt man von “Peripatus” (einem Artnamen von so einem Wurm) rasch zu Aristoteles und den Peripatetikern, was die Würmer literarisch und philosophisch spannend macht.

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