Über Norbert Elias: “Über die Zeit”
BLOG: Anatomisches Allerlei
Hätte man mir das Büchlein1 nicht geschenkt – ich hätte es nie zur Kenntnis genommen und etwas verpasst. So aber hab’ ich es gelesen und will es loben.
Schwach ist allerdings sein Anfang. Da fiel dem Herrn Elias (1897-1990) nichts anderes ein, als mit dem schon lange totgerittenen Diktum dem heiligen Augustinus von Hippo2 zu kommen, das man schon allzu oft als “teaser” in Aufsätzen über die Zeit gelesen hat – unfrisch, abgegriffen. Dann aber lässt Elias frischen Wind hinein – zumindest in meinen Kopf. Ich fand seine Ideen spannend und will sie referieren.
Zeit, sagt er, ist nicht gegeben, sondern gemacht. Zeit, sagt er, ist eine synthetischer Begriff, von dem vergessen wurde, wie er gestrickt ist. Weswegen er (der Begriff) und sie (die Zeit) wie urzeitliche, stets schon vorgefundene Monolithe erscheinen, was sie aber nicht sind. Und dann dröselt er – mir kam es geradezu dekonstruktivistisch vor – das Gewebe der Zeit auf und zerlegt die Monolithe in Klötzchen.
Damit Zeit sei, sagt er, braucht es verschiedene Voraussetzungen.
Es braucht zunächst einmal Wesen, die zur Synthese fähig sind, die also einen Zustand, der nicht mehr ist, und einen, der ist, zusammenbringen können. Hier ist Elias ein wenig unscharf: ich glaube, er meint mit diesen Wesen eigentlich nur den Menschen. Das sollte er aber besser nicht tun – jedes lernende Tier kann das ja auch. Diese Unklarheit tut aber Elias’ Argument im Kern keinen Abbruch – eine Synthese, eine Synopse von “war”, “ist”, und “wird sein” ist nötig, damit Zeit sei.
Eine – wie ich finde – navigatorische Meisterleistung führt ihn dann zwischen den Schlünden von Scylla und Charybis hindurch.
Scylla – das ist Newtons “tempus absolutum et verum”, die objektive Zeit der Weltbühne, die ungerührt und nur unter Bezug auf sich selbst vergeht. Das, sagt Elias, ist Quatsch. Zum einen, sagt er, ist Zeit ursprünglich durchaus sozial konstruiert (dazu später), zum anderen bringt er das schöne Beispiel eines hypothetischen Universums, das aus nur einem “Strang eines Wandlungskontinuums” besteht, das also immer nur von A zu B zu C und dann wieder zu A sich wandelt. Selbst wenn es diese Wandlung rhythmisch perfekt und immer wieder durchliefe, sagt Elias, wäre das noch keine Zeit , denn es gäbe nichts anderes, was man mit dieser Wandlung vergleichen könnte. Mindestens ein zweites, anders getaktetes “Wandlungskontinuum” muss dazu kommen, damit das eine auf’s andere bezogen werden kann, und damit Zeit werde. Zeit ist Bezogenheit – nicht auf sich selbst, wie Newton meinte, sondern von verschiedenen Vorgängen untereinander.
Charybdis – das ist Kants Apriori, die subjektive Zeit, die, Kanten zu folgen, zusammen mit der Vernunft vom Himmel in unsere Köpfe fiel und – gemeinsam mit dem nicht minder berühmten Apriori vom Raum – macht, dass uns die Welt so erscheint, wie sie uns erscheint. Elias zerlegt das geradezu genüsslich, indem er zeigt, dass Zeit nichts Vorgefundenes, sondern etwas Gelerntes ist: Kinder müssen lernen, Zeitvorstellungen zu entwickeln, Gesellschaften müssen es lernen. Sie lernen es in Interaktionen unter Subjekten und in den Interaktionen mit ihrer Umwelt. Und was Zeit sei, ändert sich unterdessen. Zeit wird “gemacht”.
Freilich bringt Elias jetzt die Beispiele, die er bringen muss. Erste Zeitmessungen in frühen Ackerbaugesellschaften, wegen der Notwendigkeit der Bestimmung der Saat-Termine. Notabene, sagt er, ist das schon ein sozialer, gesellschaftlicher Zusammenhang in entwickelteren Gesellschaften. Sammlern und Jägern war der Termin der Aussaat egal, weil sie sie unterliessen.
Zeit, sagt Elias, spielt sich ursprünglich stets im Zusammenspiel von Interaktionen der Menschen untereinander und mit ihrer Umwelt ab. Die Wasseruhr haben die alten Griechen erfunden, um die Redezeit der Politiker auf der Agora gleichmässig und gerecht verteilen zu können. Zeit, sagt Elias – wie sollte er auch anders, schliesslich ist er einer der Gründerväter der Soziologie – Zeit ist primär ein soziales Phänomen.
Und dann kommt Galileo Galilei und verwendet die Wasseruhr, um die Fallzeiten einer Kugel auf einer schiefen Ebene zu messen und um so den Aristoteles zu widerlegen, der behauptet hatte, dass schwere Körper schneller fallen als leichte. Das, sagt Elias, ist der Moment in der Wissenschaftsgeschichte, in dem die Zeit begann, sich ins physikalische, objektive Universum zu verabschieden – aus dem auch Einstein und Minkowski, bei aller 4-Dimensionalität des Weltkontinuums, sie nicht zurückgeholt haben. Sie wurde zu “etwas da draussen”, zu etwas Unverständlichem – genauso unverständlich wie Kants in die Köpfe gefallenes Apriori.
Es folgen freilich noch alle möglichen lesenswerten Passagen über die Konstruktion nicht nur von Zeitmessgeräten (Uhren) sondern auch von Zeitzählvorrichtungen – Kalendern also. Und da — das zeigt Elias schön – dreht sich der Spiess um. Die “Zeit da draussen” (also die “natürliche” Einteilung der Jahre in Monate und Tage) erweist sich als viel zu ungenau für die steigenden sozialen Ansprüche der Menschheit an die Genauigkeit der Zeitzählung. Immer neue Kalenderreformen, Schaltjahre, Schalttage, neuerdings sogar Schaltsekunden müssen her, damit z.B. Ostern in nicht in den Sommer rutschte – wobei es der Zeit “sui generis”, gäbe es sie, eigentlich völlig egal sein müsste, wann wir Ostern feiern. Uns ist es aber nicht egal. Unsere Kalenderzeit ist hochgradig sozial konstruiert und das Ergebnis eines langen Lernprozesses. Wir vergessen es nur oft.
Ob ich nach Elias’ Lektüre jetzt schlauer bin?
Hm … eigentlich hat er nichts gesagt, was man sich nicht selber hätte denken können. Und er hat auch nicht gesagt, was Zeit denn nun ist, mal abgesehen davon, was sie nicht ist. Nichts Substanzielles jedenfalls, nichts aus sich selbst heraus. Sondern etwas Relationales, in dem Menschengesellschaften eine grosse Rolle spielen.
Als Antidot gegen den Physikalismus und den Idealismus ist das sicher eine gute Lektüre. Und — ich hab’ gelernt, Einsteins berühmtes Diktum auf die Frage, was Zeit sei, neu zu lesen. Einstein sagte:
“Zeit ist, was eine Uhr misst”
Man liest das gerne als die ausweichende Antwort eines sehr klugen Mannes auf eine Frage, die er nicht beantworten kann (oder will): Nämlich die Frage nach der “Substanz”, der “Eigentlichkeit”, dem “Wesen” der Zeit.
Man kann es aber auch positiv lesen – und ich glaube, Elias hätte es so gelesen, wenn er es gelesen hätte. Einstein sagt ja schon, was die Zeit ist: Eine Messung. Nicht die Zeit wird gemessen, sondern in der Messung erst konstituiert sich die Zeit.
—
1 Norbert Elias: “Über die Zeit”. Suhrkamp, 1988
2 “Quid est ergo tempus? Si nemo ex me quaerat, scio; si quaerenti explicare velim, nescio.”
“Was also ist Zeit? Wenn’s niemand von mir wissen will, dann weiss ich’s, will ich’s einem erklären, weiss ich’s nicht.”
Zeit ist für Weltteilnehmer das Maß an (Zustands-)(ver-)änderung, die an Hand von für die Messung geeigneten Gegenständen gemessen werden könnte [1], wobei ‘Weltteilnehmer’ erkennende Subjekte zu sein haben, jedenfalls zu derartiger Bemessung fähige.
Soweit die Tautologie oder Logik.
Außerhalb dieser Sprachlichkeit oder Logik könnte “Zeit” alles mögliche sein, der Schreiber dieser Zeilen wäre bspw. nicht in der Lage zu widerlegen, dass “Zeit” auch sozusagen rückwärts laufen könnte, Gewesenes an Hand von Zustandsänderung sozusagen rückbauend, wobei diese Entwicklung berechenbar (“geplant”) sein könnte. [2]
Kausal sozusagen rückbauend.
MFG
Dr. W
[1]
zeitgenössische moderne & skeptizistische Wissenschaftlichkeit definiert genau so
[2]
spaßeshalber angemerkt, Devo und so:
-> https://de.wikipedia.org/wiki/Devo
Bonus-Kommentar:
‘Substanziell’ meint “Darunter-Stehendes”, ‘sub’ und ‘stare’ und so, Zeit ist ‘substanziell’, erkennenden Subjekten [1] verantwortet.
MFG
Dr. W
[1]
‘Objekte’ sind “Entgegen-Geworfenes”, und zwar ‘Subjekten’ (dementsprechend Unterworfene), es gilt dementsprechend bedarfsweise zu berichten, von Subjekten.
‘Aus sich selbst heraus’ geht ja nicht, denn ansonsten wäre die Zeit ein Subjekt.
Ich hab’ den Begriff “Substanz” im (scholastischen) Sinne von “das selbständig Seiende” verwendet.
Man tut dem Bischof Augustinus bitter Unrecht, wenn man ihn nur auf den oben genannten Satz reduziert. Im Buch ´Augustinus – Bekenntnisse´ 11.Buch Kap.14-29 (Reklam ISBN 978-3150027929) – äußert er sich ganz konkret mit seinen Vorstellungen von Zeit (es lohnt sich diese Texte genau zu lesen):
A) Für ihn gibt es demnach nichts als die Gegenwart – die keine Dauer hat
B) In dieser Gegenwart erleben wir das Aktuelle – in dieser Gegenwart stellen wir uns die Zukunft vor – und in dieser Gegenwart erinnern wir uns an Vergangenes
C) D.h. ganz wesentlich für unser Empfinden von Zeitdauer ist unser Gedächtnis – mit dessen Hilfe wir in der Gegenwart sowohl wahrnehmen, wie auch planen und erinnern
( zu A) Auch in der buddhistischen Philosophie geht man davon aus, dass die Gegenwart keine zeitliche Ausdehnung hat – und damit zeitlos ist)
Der obige Text bezieht sich nur auf Zeit im Sinne von Zeit-Dauer. Diese Sichtweise (Dauer) muss aber ganz klar vom eigentlichen Wesen der Zeit unterschieden werden – denn dafür muss man Zeit als Energiedifferenz/-menge beschreiben. Per Google suche finden Sie DOI: 10.5281/zenodo.15483 dort habe ich diese Idee kurz skizziert. Und damit haben wir ein Problem: Wenn sich das Wesen von Zeit als Energie beschreiben lässt – dann fehlt uns die 4. Dimension.
Oh, fern sei es von mir, den Augustinus auf diesen Satz zu reduzieren! Wohl weiss ich, dass er die Antinomien der Zeit schön herausgearbeitet hat.
Aber dieser eine Satz, den hab’ ich halt zu oft gelesen. Es ist wie beim “Vitruvischen Mann” von DaVinci, der jedesmal herhalten muss, wenn Mensch und Mass illustriert werden müssen. Man hat’s irgendwann satt.
Als Physiker geht man ja davon aus, dass es eine objektive Realität gibt, die unabhängig vom menschlichen (oder sonst einem) Bewusstsein existiert. Insofern möchte man dann natürlich auch der Zeit eine objektive Bedeutung geben. Einsteins Antwort, dass Zeit das ist, was eine Uhr misst, versteht der Physiker in mir als den Verweis darauf, das wir Zeit in der Physik als Zählen von Ereignissen begreifen, und das Zeit der Ordnungsbegriff ist, der Ereignisse über die Relationen “vorher” und “nachher” ordnet. In diesem Sinne vergeht auch in jenem hypothetischen Universum, das durch drei Zustände oszilliert, Zeit. In einem hypothetischen Universum, in dem überhaupt gar nichts passiert, sich der Zustand des Universums überhaupt nicht ändert – da steht die Zeit still, genauer: es gibt keine Ereignisse mehr, die in eine Reihenfolge gebracht werden können.
Angeblich strebt unser Universum diesen stationären Zustand des immer gleichen, in dem nichts mehr passiert, an. Die Zeit käme dann zum Erliegen.
Die Darstellung des Inhalts von “Über die Zeit” vermengt meiner Ansicht nach den physikalischen mit einem kulturellen Zeitbegriff. Für letzteren interessiert sich der Physiker allerdings allenfalls als Laie.
Begriffsvermengung “physikalisch” vs. “kulturell”.
Das ist nicht mein Text, der die beiden Begriffe vermengt – das ist Elias’ Methode und Anliegen. Er wendet sich ausdrücklich gehen die Unterscheidung “Natur” / “Kultur.”
Geht es eigentlich dbzgl. nicht zu ‘vermengen’? – Vermutlich ist gemeint, dass ein Physiker Größen definiert, fleißig mathematisiert und theoretisiert, empirisch streng angeleitet, dabei sozusagen außerkulturell (die Physiklehre gehört schon zur Kultur) formalisiert. Könnte dann so stimmen, bleibt aber unklar, wenn es um das Wesen der Zeit geht, Physiker sind ja auch Philosophen (die nicht unbedingt Realisten sein müssen, es eigentlich gar nicht sein müssen).
Also, hier sind weder die Ausführungen des Norbert Elias (“Soziologe”), noch die des werten hiesigen Inhaltegebers gänzlich unverstanden geblieben,
MFG + danke an den zuletzt Genannten! [1]
Dr. W
[1]
Ihnen und allen anderen natürlich auch & sowieso.
Da sind wir drei (Elias, Sie und ich) uns ganz einig. Genau SO habe ich auch Elias’ (ungleich berühmteren) Text “Über den Prozess der Zivilisation” verstanden.
Eine wunderbare Freundschaft muss jetzt natürlich nicht direkt entstehen, aber Sie sind nicht auch wegen Verständigkeit in den letzten Jahrzehnten beizeiten ein wenig angeeckt?!
Ganz klar ist mir die Stossrichtung Ihres Kommentares nicht.
Aber ich muss/kann konstatieren, dass ich unter naturwissenschaftlichen Kollegen mitunter auf Befremden stosse, wenn ich auch nur sage, was ich so lese und was mich interessiert. Nicht bei allen — aber manche betrachten jede Art von “Grenzüberschreitung” in die Philosophie/Soziologie (oder gar in die Metaphysik) als “unseriös”.
Bei aller mathematisch/intellektuellen Rafinesse und hoher Intelligenz halte ich manche meiner Fachkollegen (viele sind SEHR viel klüger als ich), was die Reflexion der epistemologischen Horizonte angeht, für sehr naiv. Naiver jedenfalls als die (wenigen) Geisteswissenschaftler, die ich gut kenne.
Und ich verstehe es nicht. Es ist oft, als ob sie sich das Denken ab einer gewissen Grenze einfach abschnitten. Vielleicht WEIL sie klüger sind als ich.
‘Geplauder’ war’s, Sie werden hier geschätzt und viel mehr war’s auch nicht. [1]
Nett, dass Sie auf obiges Feedback zu reagieren wussten, WebLogs oder außerhalb der Standardmedien Journalistisches, werden hier gerne abgenommen. [2]
MFG
Dr. W (Opa Webbaer ginge auch)
[1]
womöglich verdientes Bauchpinseln sozusagen
[2]
Ohne “Standardmedien” direkt zu verachten
Helmut Wicht schrieb (13. Juli 2015):
> Einsteins berühmtes Diktum auf die Frage, was Zeit sei […] Einstein sagte:
“Zeit ist, was eine Uhr misst”
Verbürgt ist jedenfalls Einsteins schriftliche Äußerung (Ann. Phys. 17, (1905)):
(Und diese schriftliche Äußerung Einsteins erlangte Berühmheit nicht zuletzt dadurch, dass er sie als Ausgangspunkt und begriffliche Grundlage weiterer “Festsetzungen” seiner Relativitätstheorie machte.)
> Einstein sagt ja schon, was die Zeit ist: Eine Messung.
“Zeit” im Sinne des mir bekannten Einstein-Zitats ist vor allem jede einzelne Anzeige eines bestimmten (identifizierbaren) Beteiligten. Und ja, sofern man dem jeweiligen Beteiligten die Fähigkeit zugesteht, die Reihenfolge mehrerer (unterscheidbarer) eigener Anzeigen beurteilen zu können, sind in diesem Sinne damit auch Messungen verbunden.
Sofern man aber “das Maß der Zeit” (im Sinne eines metrischen Raumes) mit einem eigenen Begriff benennt, spricht man von Dauer.
Helmut Wicht schrieb (13. Juli 2015):
> Einsteins berühmtes Diktum auf die Frage, was Zeit sei […] Einstein sagte:
“Zeit ist, was eine Uhr misst”
Verbürgt ist jedenfalls Einsteins schriftliche Äußerung (Ann. Phys. 17, (1905)):
(Und diese schriftliche Äußerung Einsteins erlangte Berühmheit nicht zuletzt dadurch, dass er sie als Ausgangspunkt und begriffliche Grundlage weiterer “Festsetzungen” seiner Relativitätstheorie machte.)
> Einstein sagt ja schon, was die Zeit ist: Eine Messung.
“Zeit” im Sinne des mir bekannten Einstein-Zitats ist vor allem jede einzelne Anzeige eines bestimmten (identifizierbaren) Beteiligten. Und ja, sofern man dem jeweiligen Beteiligten die Fähigkeit zugesteht, die Reihenfolge mehrerer (unterscheidbarer) eigener Anzeigen beurteilen zu können, sind in diesem Sinne damit auch Messungen verbunden.
Sofern man aber “das Maß der Zeit” (im Sinne eines metrischen Raumes) mit einem eigenen Begriff benennt, spricht man von Dauer.
“kommentarvorschau.mag.irgendwann.sein”
Eine Kommentarvorschau wäre ja so etwas wie eine Zeitreise – und die scheint aus irgendeinem Grunde nicht möglich.
Joker schrieb (13. Juli 2015 23:02):
> Eine Kommentarvorschau wäre ja so etwas wie eine Zeitreise […]
Und was an eventuell Korrigierbarem einstweilen immer noch dasteht, mag ja inzwischen schon mal Gelegenheit für weitere Betrachtungen, Kommentare usw. bieten.
Im Übrigen würde ich gerne einen beträchtlichen Anteil meines Rundfunkbeitrags dafür eingesetzt sehen, dass allen, die sich öffentlich-rechtlich äußern möchten, dazu auch die entsprechende Vorschau und Korrekturmöglichkeit gegeben wird.
Zeitreisen à propos sind ein gutes Mittel, wenn dem Wesen der Zeit rein philosophisch, insbesondere auch gedankenexperimentell näher gekommen werden soll.
Die logische Deutung des Begriffs Zeitreise bringt recht viel diesbezüglich, ganz ohne physikalisches Fachwissen.
MFG
Dr. W
Hallo Helmut
Ein sehr schöner Beitrag, kurz und knackig.
Ich würde nicht unterschreiben, dass “sich die Zeit ins physikalische, objektive Universum verabschiedet hat”. Die Zeit ist nämlich – wie ja gerade die Relativitätstheorie lehrt – eine relative Größe, nämlich abhängig vom Beobachter. Hier schließt sich auch der Kreis zu Einsteins Zitat, mit dem er (meines Erachtens) ausdrücken wollte, dass jeder Beobachter seine individuelle Zeit an seiner Uhr abliest.
Der These von der (vom Menschen) “gemachten Zeit” möchte ich entgegenhalten, dass verronnene Zeit auch in lebloser Materie kodiert ist, z.B. im Mondgestein, dessen Alter man mit radiometrischen Methoden bestimmen kann.
Ein “objektives Universum” wurde ja durch beide große physikalischen Theorien des 20. Jahrhunderts aus der Welt geschafft: durch die Relativitätstheorie (relative Zeit und Länge) und die Quantentheorie (Rolle des quantenmechanischen Beobachters, der Einfluss auf die Messung an einem System hat).
Beste Grüße,
Andreas
(Einsteins Kosmos, Kosmologs)
Danke.
Ich bin mir nach der Lektüre – wie im Text ja erwähnt – NICHT darüber im Klaren, ob die “Synthese-Leistung”, die Zeit nach Elias ist, tatsächlich ein bewusstes Wesen oder gar speziell menschliche Bewusstheit voraussetzt.
Jedes Lernen ist Synthese (man kann sogar Einzeller konditionieren), eigentlich ist auch Evolution ein “Lernvorgang”, der “einstmals erfolgreiches” in den Genen konserviert. Dennoch würde ich Elias dahingehend zustimmen, dass “Zeit” sich allein in dieser Synthese noch nicht konstituiert – diese Synthese mag zu einem Begriff (oder einer vagen Idee, oder einem angeborenen Programm) von “war” -> “ist” führen, aber das ist noch kleine Zeit, sondern lediglich die Konstatierung von Veränderung (ich glaube, Aristoteles hat so etwas als “zeitlose Bewegung” zu konstruieren versucht).
Die Veränderung aber, damit sie zu Zeit werde, braucht ein Mass. Im obigen Beispiel kann vom “war” zum “ist” ein Millenium vergangen sein, oder eine Sekunde – einw “Messung” einer Veränderung an einer anderen erst konstituiert Zeit.
Glaubst Du, dass ich mit einer anterograden episodischen Amnesie im Fluss der Zeit “stehe” während der Rest meiner Umwelt mit der Strömung fließt (mein semantisches Gedächtnis ist noch intakt, meine innere Uhr funktioniert)?
Es gibt sicherlich viele Publikationen darüber, wie es sich anfühlte, Henri Molaison zu sein (das ist der berühmte Mann mit der anterograden Amnesie nach beidseitiger Hippocampus-Exstirpation).
Ob er sich in einem “stehenden” oder “laufenden Jetzt” fühlte, das weiss ich nicht. Die bekannten Anekdoten über ihn (alles war ihm immer neu, vermutlich auch sein eigenes Altern) deuten auf ein “stehendes Jetzt”. Ich weiss es aber nicht genau.
“Schwach ist allerdings sein Anfang. Da fiel dem Herrn Elias (1887-1990) nichts anderes ein, als mit dem schon lange totgerittenen Diktum dem heiligen Augustinus von Hippo zu kommen”
Was bedeutet “schon lange”? Nicht dass ich Elias grundsätzlich verteidigen möchte, aber war das Diktum auch beim erscheinen des Buchs, 1984, tatsächlich schon abgeritten? Vielleicht ist es erst, oder zumindest auch, durch Elias bekannt geworden, wurde von Anderen aufgeschnappt und weiterverbreitet, in damals noch gar nicht vorstellbaren Medien vervielfältigt, so dass man nun, 2015, “das schon allzu oft als “teaser” in Aufsätzen über die Zeit gelesen hat”, und Sie dem eigentlichen Quell der Verbreitung, sozial konstruiert, quasi in einer Zeitschleife, vorwerfen, er wäre nicht originell.
Ich kannte das Zitat damals noch nicht – meine ich, mich erinnern zu können.
Das früheste Zitat des Augustinus-Zitates, das ich erinnere, ist irgendwo bei Schopenhauer.
Ich fände es ja schön, wenn die Zeit – Vergänglichkeit etc. – nur ausgedacht und menschen- (oder tier-)gemacht wäre. Ist sie aber nicht. Dass unsere Wahrnehmung der Zeit sich im Laufe der individuellen sowie kulturellen Entwicklung ändert, bedeutet ja nicht, dass die Zeit selbst kein Phänomen sei, vor dem wir eben ziemlich ratlos stehen und das wir vorfinden, ohne es wirklich zu verstehen. Alle Konstruktivismen verwechseln meines Erachtens Wissen mit der Wirklichkeit, über die das Wissen etwas zu wissen glaubt. Dass das Wissen Konstrukt ist – geschenkt; vor allem in der Soziologie.
Das Problem der Zeit ist sehr tiefgreifend und mich wundert, wie sträflich oberflächlich es z.B. in der Physik – nicht zu reden von “der Hirnforschung” ! – üblicherweise behandelt wird. Wenn die Realität die Konstellation aller Elementarteilchen und ihrer Eigenschaft genau jetzt und jetzt und jetzt ist, welche eben noch nicht und kurz darauf schon nicht mehr existiert – und so verstehe ich die physikalistische Position -, dann stellen sich einige sehr unangenehme metaphysische Fragen: Wann überhaupt existiert die Welt? Wie könnten Wolken aus dumm gegeneinander stoßenden Elementarteilchen und umeinander wabernden “Feldern” (epistemisch geschlossenen Einheiten jeweils) von einem Früher und einem Gleich “wissen” bzw. überhaupt auf die Idee der Zeit kommen (zudem es absolut keine Wiederholung gibt)? Und wenn das Gehirn lediglich ein Teil dieser universellen Elementarteilchenkonstellation ist, wie könnte es dann Erinnerung und Erwartung erklären; es steckt doch genauso in dem unendlich kurzen Jetzt fest wie alles andere auch?! Es ist lächerlich, das Phänomen des Gedächtnisses durch Verweis auf das Gehirn erklärt zu glauben (wenngleich völlig klar ist, das wir es ohne ganz bestimmte Hirnvorgänge nicht besäßen).
Die “durée”, die das Bewusstsein kennzeichnet, der ausgedehnte Moment also, in dem das Eben nachklingen und in dem sich das Gleich schon ankündigt, dafür fehlt uns die Erklärung. Ohne diese “durée” mag eine Welt vor sich hinexistieren, aber sicherlich nicht für uns. Und die Welt hat die Eigenschaft zeitlich zu sein eben nur gemessen an dieser “durée” steter Gegenwart unseres Bewusstseins; die Welt fließt an unserem unbewegten, unveränderlichen und gegenwärtigen Bewusstsein entlang, deswegen erscheint sie uns zeitlich.
Dieser Gedanke hat nichts mit der Relativitätstheorie zu tun; “der Beobachter” in jener Theorie ist ja letztlich eine Uhr, ein Messapparat, aber kein Bewusstsein. Ich spreche hier von Bewusstsein (durée).
Danke für den Kommentar.
Einig sind wir uns gewiss in unserer reservierten Haltung gegenüber dem objektivistisch/rein physikalisch gefassten Zeitbegriff. Zur Ehrenrettung der Hirnforscher: Er löst sich auf. Ich arbeite in der Chronobiologe/-medizin, und da wird Zeit sehr wohl als ein System der Interaktionen von Individuen untereinander und mit der Umwelt verstanden.
Uneinig sind wir uns, glaube ich, hier:
“Alle Konstruktivismen verwechseln meines Erachtens Wissen mit der Wirklichkeit, über die das Wissen etwas zu wissen glaubt.”
Wie soll denn – im umgekehrter Fomulierung – das aussehen: Eine Wirklichkeit, über die man nichts weiss? Ist nicht Wirklichkeit – wie Schopenhauer mal gesagt hat – einfach das, von dem man weiss, dass es wirkt?
Allerdings muss ich dann auch eine Kröte schlucken: Wirklichkeiten ändern sich.
Im Akt des Erkennens vereinen sich für einen Moment das Erkannte, der Erkennende und seine Erkenntnis. Genauso falsch wie es wäre, den Erkennenden (das Subjekt) mit seiner Erkenntnis in eins zu setzen, so falsch wäre es seine Erkenntnis mit dem Erkannten, die Beschreibung mit dem Beschriebenen gleichzusetzten. Die Einheit im Erkennen ist eine differnzierte Einheit.
Der Witz ist ja gerade, dass wir um die Unvollständigkeit und partielle Falschheit unserer Erkenntnisse wissen. In dieser Einsicht denken wir immer schon eine (bleibende) Differenz zwischen einer gewonnenen Erkenntnis und dem (vermeintlich) Erkanntem bzw. zwischen Denken und Sein; dass unser Denkens auf das Wirkliche, das es zu denken und zu beschreiben versucht, verweist, ist meines Erachtens evident und unabweisbar, und hierhin liegt die bleibende Differenz.
Nochmal: ein rein erkenntnistheoretischer Konstruktivismus ist imho relativ trivial, Wissen ist vielfach konstruiert. Problematisch – aber zunehmend verbreitet – sind ontologisierende Konstruktivismen, die den Eindruck erwecken, wir dächten uns die Wirklichkeit aus, während sich umgekehrt Denken an der Wirklichkeit, die wir nie ganz auf den Begriff bringen werden, zu bemessen hat. Die Überzeugung, mein Wissen sei bereits die Wirklichkeit, verkennt dessen Semantik, ist unbescheiden, weil das implizite Wissen um unsere Fehlbarkeit verloren geht, und daher letztlich auch gefährlich.
In der Schlussfolgerung sind wir uns vermutlich wieder einig?!!
Die Wirklichkeit dessen, was wir unzureichend mit “Zeit” etc. beschreiben, ändert sich nicht, auch wenn sich unsere Auffassungen über Zeit im Laufe der Zeit ändern.
Vorab:
Ich weiss nicht – ebensoweniog wie irgendwer sonst – wie es in Wahrheit und Wirklichkeit ist und will auch keiner Ideologie oder philosophischen Strömung das Wort reden.
Das Beharren auf der “Differenz” verstehe ich auf der einen Seite – und auf der anderen wieder nicht. Ja, die Welt geht im Denken nicht auf, der Begriff ist nicht das, was er meint, die Erkenntnis ist nicht das Erkannte. Das führt aber – wenn ich es konsequent zu denken versuche – in das Kant’sche Dilemma des “Dinges an sich”, die Dinge, wie sie sind, sind unsagbar, unerkennbar.
Ich mach’ dann halt gerne die Berkeley/Schopenhauersche Volte und setze “Welt/Wirklichkeit” mit “Vorstellungen” in eins. Wobei – notabene – diese “Vorstellungen” nicht etwas rein subjektives sind: Sie sind Beziehungen zwischen einem Erkennenden und einem Erkannten.
Zugegebenermassen verschwindet bei diesem idealistischen Kurzschluss die Differenz. Die Welt IST Vorstellung.
Aber ganz verschwindet die Differenz dann doch nicht, denn es muss unter dieser Prämisse zugegeben werden, dass die Welt sich ändert, wenn die Vorstellungen sich ändern, und ebensowenig verschwindet die Differenz zwischen Sollen und Sein.
Ich bin im Zwiespalt. Ich weiss es halt nicht.
Nur bin ich mir ziemlich sicher, dass er sehr schwer sein wird, einen Beweis für:
“Die Wirklichkeit dessen, was wir unzureichend mit “Zeit” etc. beschreiben, ändert sich nicht, auch wenn sich unsere Auffassungen über Zeit im Laufe der Zeit ändern”
zu führen. Das ist die klassische naturwissenschaftliche, beobachter-unabhänginge Arbeitshypothese, das scheint mir Kants Apriori und Newtons tempus abs. et ver. in einem zu sein.
Ich würde – aus naturwissenschaftlischer Sicht – dagegen halten, dass wir wissen, dass selbst elementare Zeitmaße (Dauern) sich ändern (Tage waren z.B. einst viel kürzer) und dass all diese Änderungen nur offenbar (wirklich?) werden, wenn wir hochgradig künstliche Zeitmaße (mechanische/atomare oszillierende Apparaturen) zum Vergleich heranziehen.
Doch, dies eine ist, denke ich, wahr und richtig:
Die Zeit IST nicht aus sich. Sie ist ein Bezug. Von wem aut was – was weiss ich…
Helmut Wicht schrieb (15. Juli 2015 8:47):
> Die Zeit IST nicht aus sich. Sie ist ein Bezug. Von wem aut was – was weiss ich…
Innerhalb einer gegebenen Menge von unterscheidbaren Anzeigen lassen sich zweierlei Bezüge aufstellen:
– die Identifizierung, welche Anzeigen von jeweils dem selben individuellen Beteiligten dargestellt (vorgestellt) wurden; bzw. welche Anzeigen von verschiedenen Individuen, und
– für jeden einzelnen Beteiligten die Reihenfolge der entsprechenden Anzeigen.
@ Herr Dr. Hoppe :
Nur kurz zum Intro oder ersten Absatz Ihrer Nachricht:
Ersetzen Sie vielleicht ‘ausgedacht’ und ‘gemacht’, durch ‘erkannt’. [1]
Wobei es dann um das Wesen des Erkennen ginge, es wird ausschnittsartig, näherungsweise und an Interessen gebunden erfasst (“Daten erhoben”, die Welt meinend, es gibt hier auch sozusagen unzählige Messtheorien) und ausschnittsartig, näherungsweise und an Interessen gebunden theoretisiert.
Von erkennenden Subjekten oder Erkenntnissubjekten.
‘Konstruktivismen’ lehnen die Möglichkeit der Letzterfassung ab, sie ‘verwechseln’ nicht.
Urteile a priori sind OK, bleiben aber metaphysisch, physikalisch oder die Natur betreffend, wird dann methodisch genagt. Wie bspw. der Realismus oder Objektivismus oder Reduktionismus oder was es sonst noch so gibt.
MFG
Dr. W
[1]
‘Erkannt’ ist nicht ‘gemacht’, hier könnte auch theologisch womöglich einiges zu machen sein, also bspw. die Wirklichkeit meinend als das, was auf Seiten des Erkenntnissubjekt gepflegt wird, als Momentum.
Bemerkung an alle:
Der Joachim Schulz hat hier:
https://scilogs.spektrum.de/quantenwelt/was-zeit-ist-und-was-zeit-misst/
aus Sicht eines Physikers geschrieben.
Quasi ein Antidot zu Elias.
Da ist das vermeintliche Einstein-Zitat (“Zeit ist, was die Uhr misst”) auch drin. Ich glaub’, ich hab es dort zuerst gelesen und dann, ohne nachzudenken, oft weiterverwendet.
Weiss einer, wo das tatsächlich herkommt?
Meines Wissens kommt es aus einem der Zahlreichen Interviews, die Einstein gab. Manchmal hatte er wohl einfach keine Lust auf lange Erklärungen und hat dann solche einsilbigen Antworten gegeben.
Danke!
Wie siehst Du das?
IST Zeit eine Messung?
Oder würdest Du Dich – zusammen mit Popper, der so Fragen auch nicht mochte – vor derlei “Seinsfragen” drücken bzw. sie als irreführend einstufen?
Herr Dr. Schulz schließt den Konstruktivismus zumindest nicht aus, womöglich aus Gründen der Verständigkeit [1] nicht, womöglich als Physiker nicht.
MFG
Dr. W
[1]
Popper könnte derartige Sach- oder Sinnfragen womöglich gemocht haben, der Schreiber dieser Zeilen hinkt hier sozusagen mit.
Physiker sind aus der Außensicht und so, wie der Schreiber dieser Zeilen seit ca. zehnjähriger Beschäftigung erfahren hat, schon “ganz OK”, die Spitze der Erkenntnis meinend sozusagen, Herr Dr. Schulz sowieso.
Zeit ist schon ein bisschen mehr als die Messung mit einer Uhr. Der Welt scheint eine Struktur zugrunde zu liegen, die sich mit der allgemeinen Relativitätstheorie als Raumzeit gut beschreiben lässt. Das mag konstruiert sein, aber es ist eine Konstruktion die zu den Beobachtungen passt. Andere (z.B. Newtons) Konstruktionen passen nicht.
Ich bin also wohl vom Herrn Elias nicht ganz weit weg.
Obwohl ich Argumentationen wie “Wenn es nur zwei Zustände gäbe” nicht mag. Es gibt ja nun mal mehr als das.
Zeit – ist ein typischer Teekessel-Begriff (´Teekessel sind Begriffe mit mehreren Bedeutungen: z.B. ´Schloß´ kann ein Türschloss sein oder ein Wohngebäude von Adeligen sein).
Wenn man bei ´Zeit´ nicht klar zwischen persönlichen Empfindungen (Zeit-Dauer) und dem Wesen von Zeit (aus was besteht Zeit) unterscheidet, wird man manche Fragen im Zusammenhang mit diesem Thema nie beantworten können.
Die Ambiguität eines Begriffes/Konzeptes/Symboles schliesst dessen Brauchbarkeit nicht aus. Im Kern ist JEDE symbolische/begriffliche Repräsentation ambivalent, denn der Begriff “Zeit” (als Laut- oder Zeichenfolge. i.e. als Signifikant) verweist zum einen auf sich selbst als identifizierbares Symbol unter anderen Symbolen, zugleich aber auf etwas ganz anderes, nämlich das Signifikat (die “getakteten Veränderungen”).
Was “Zeit” meint ist:
Zeitpunkt
Zeitfolge
Zeitdauer
Viel mehr Mehrdeutigkeit vermag ich in dem Begriff momentan nicht zu erkennen…
Wenn die Zeit mit dem Universum beim Urknall aus purer Energie entstand – dann müsste man das Wesen von Zeit eigentlich als Energieinhalt/-derivat diskutieren. Z.B. müsste man dann die Zeit im System Universum mit dem Thermometer/Kalorimeter messen – nicht mit einer Uhr.
D.h. je nach Deutung eines Begriffs erhält man unterschiedliche Antworten. Ignoriert man aber mögliche Theorie-Varianten, dann wird man auch die zugehörigen Antworten nicht bekommen.
Helmut Wicht schrieb (14. Juli 2015 9:41):
> Was “Zeit” meint ist:
> Zeitpunkt, Zeitfolge, Zeitdauer
Dem überlagert sich die Differenzierung zwischen eigentlichen, physischen Anzeigen, Reihenfolgen bzw. Dauerverhältnissen einzelner Beteiligter einerseits,
und der (mehr oder weniger unabhängigen) Zuordnung von reellen Zahlen, als „t“-Koordinaten oder „Uhrzeiten“, zu diesen einzelnen Anzeigen (oder auch zu ganzen Ereignissen mit mehreren unterscheidbaren Beteiligten);
sowie die daraus folgende Betrachtung von Uhren, die mehr oder weniger „monoton“ und (sogar) „gut“ sein mögen, oder die Betrachtung von bestimmten Mannigfaltigkeiten als Modelle geometrischer Beziehungen.
Dazu kommt erschwerend, dass insbesondere Dauern gelegentlich improper zugeschrieben werden; z.B. wenn die (eigentliche) Lebensdauer eines Myons nicht deutlich von der Dauer des Speicherringes (von dessen Anzeige der Myon-Erzeugung bis zu dessen Anzeige des Myon-Zerfalls) unterschieden wird.
“Eine Messung. Nicht die Zeit wird gemessen, sondern in der Messung erst konstituiert sich die Zeit.”
Sehe ich auch so. Die Messung ist willkürlich und hängt von der Uhr ab. Für die einen ist das Glas halb voll für die anderen halb leer. Und wenn ich mein Metronom einschalte und das Gewicht nach oben schiebe, so hab’ ich mehr “Zeit” für die Sechzehntel. Wir sollten unsere Uhren wegschmeißen und künftig nach einem Metronom leben -mit dem Gewicht ganz oben. Dann läßt auch die Hektik nach.
Danke.
Eine Antwort, eines Musikus und eines Philosophen würdig.
Leider fummeln auch andere an unseren Metronomen herum.
In der Physik und in einer physikalistischen Auffassung der Wirklichkeit ist Wissen generell Wissen über die Beziehung von Objekten und (Mess-)Grössen. Fragen nach der “Substanz”, der “Eigentlichkeit”, dem “Wesen” der Zeit sind in diesem physikalischen/pysikalistischen Rahmenwert nicht direkt möglich. Sie müssen zwangsläufig mit Relationen beantwortet werden und nicht etwa mit der Benennung der Substanz, die die Zeit ausmacht.
Wer diesen physikalischen/physikalistischen Ansatz ablehnt bewegt sich zwangsläufig auf sehr dünnem Eis, ja so jemand sucht meiner Meinung nach sogar nach einer Illusion, nach einem Fetisch, also einem Gegenstand, der die Zeit verkörpert und den man in die Hand nehmen kann
Eine in der Physik noch immer offene Frage ist die nach dem Wesen des Zeitpfeils, besser gesagt die Frage, was den Zeitfluss immer in eine Richtung fliessen lässt und dazu noch überall in die gleiche Richtung. Der bis jetzt erreichte Konsensus sieht den Zeitpfeil in thermodynamischen Vorgängen realisiert (Entropie). Die Frage ist heute ob es noch eine tiefer verwurzelte Quelle des Zeitpfeils gibt, denn Thermodynamik gibt es nur in Vielteilchensystemen.
Eine weitere Frage ist die nach dem Determinismus, die Frage also ob die Zukunft schon festgelegt ist. Im Extremfall könnte die Zeit einfach eine weitere Dimension sein und das Verstreichen der Zeit wäre dann nichts anderes als eine Bewegung entlang der Zeitachse zu einem Punkt der schon immer existiert hat. Die Quantenmechanik und die Rolle des Zufalls und der Interaktion scheint dieser Auffassung aber den Boden zu entziehen. Die Quantenmechanik legt eher die Auffassung nahe, dass die Zukunft in jedem Augenblick auf nicht vollkommen vorhersebare Art erzeugt wird indem eine Auswahl getroffen wird zwischen verschiedenen Alternativen.
“In der Physik und in einer physikalistischen Auffassung der Wirklichkeit ist Wissen generell Wissen über die Beziehung von Objekten und (Mess-)Grössen. Fragen nach der “Substanz”, der “Eigentlichkeit”, dem “Wesen” der Zeit sind in diesem physikalischen/pysikalistischen Rahmenwert nicht direkt möglich. Sie müssen zwangsläufig mit Relationen beantwortet werden und nicht etwa mit der Benennung der Substanz, die die Zeit ausmacht.”
Dann wäre man sich ja im KERN einig: Wissen ist Messen ist Relationsbestimmung.
Bleibt strittig/unklar (siehe auch Hoppe): Das Verhältnis Wissen Wirklichkeit.
Wenn Wissen (mit Popper) der Prozess der immer näheren Approximation des Gewussten an’s Wirkliche ist – was ist dann das Kriterium, an dem ich das Wirkliche bzw. die Annäherung daran erkenne? Wird mein Wissen immer “wirklicher”? Ist die zunehmende techn. Beherrschbarkeit der Welt der Ausweis der Annäherung? Ist es nicht vielmehr so, dass wir uns (Klima etc.) immer weiter von der Idee der Beherrschbarkeit und sogar dem Verständnis der Wirklichkeit entfernen?
Voraussagbarkeit erhöht unser Vertrauen in Theorien. Einstein sagte exakt voraus wie stark Sternenlicht, das an der Sonne vorbeizieht, abgelenkt wird. Und ein Autofahrer lenkt nach rechts worauf das Auto nach rechts fährt womit die Welt für ihn in Ordnung ist. Wer jedoch Aktien kauft in der Meinung der Kurs steige, wobei der Kurs aber fällt, dessen Annnahme (Theorie) wurde widerlegt – etwas was sogar mit einem empfindlichen fianziellen Verlust verbunden sein kann.
Offensichtlich geht es den meisten Menschen und auch der Menschheit besser, wenn sie das, was sie beabsichtigt auch mit den vorgesehenen Mitteln erreichen kann. Die Naturwissenschaft und Technik hat die Welt voraussehbarer und den Weltenlauf damit für die Menschen günstiger gemacht.
Nun zur letzten oben gestellten Frage:
Antwort: Nicht nur das Berechenbare auch das Unberechenbare ist zusammen mit der Menscheit gewachsen.
Die Menschheit ist gewachsen und hat an Einfluss gewonnen. Heute gibt es 12 Mal mehr Menschen als zu Zeiten Roms und das war nur aufgrund von Wissenschaft/Technik möglich. Gerade das was den Menschen, seine Gesellschaft und sozialen Systeme ausmacht, das lässt sich heute kaum berechnen, was sich in Wirtschafts- und Finanzcrashs, Kriegen und anderen Krisen ausdrückt.
Und sogar dort wo sich etwas “menschliches” vorausberechnen, vorausprojizieren lässt, kann man es oft nicht ohne weiteres ändern sobald es um menschliches Verhalten geht. Beispielsweise weiss man heute, dass die Bevölkerung Afrikas bis 2050 auf 2 Milliarden (heute 1.2 Milliarden) und dann bis 2100 auf 3 bis 4 MIlliarden anwachsen wird. Das kann Probleme verursachen aber es ist sehr schwierig das zu ändern. Ebenso weiss man dass Deutschland bevölkerungsmässig schrumpft was Probleme verursachen wird, was aber sehr schwierig zu korrigieren ist.
Zusammen mit der Menscheit wächst auch der menschliche Faktor und damit etwas, was sich nur schwierig beeinflussen lässt.
“Antwort: Nicht nur das Berechenbare auch das Unberechenbare ist zusammen mit der Menscheit gewachsen.”
D’accord. Wenn wir aber doch zugeben müssen, dass die Wirklichkeit durch das Wirken des Menschen sich verändert hat (bis zu dem Punkt, dass wir das Anthropozän ausrufen wollen, bis zu dem Punkt, dass so etwas “natürliches” wie das Wetter vom Wirken des Menschen abhängt) – dann spricht doch eigentlich alles für die Richtigkeit der Elias’schen These, dass man die strikte Unterscheidung von “Natur” und “Kultur” aufheben möge. Und zwar in dem Sinne, dass die beiden (trivial) aufeinander bezogen sind, aber auch in dem Sinne (nicht trivial), dass eine “subjektfreie”/”objektive” Betrachtung gar nicht möglich ist, weil die Wirklichkeit, die ist, die beiden immer schon (spätestens aber seit dem Anthropozän) ineinander verwoben zeigt.
Biologisches Leben setzt wie der Mensch Technologien ein um Organe und Organismen aufrechtzuerhalten. Insoweit gibt es keinen physikalischen Unterschied zwischen menschlichen Produkten und biologischen (natürlichen) Produkten. Vielmehr ist es ein historischer Unterschied der Menschen- von Naturprodukten unterscheidet. Die Biologie hat den Menschen hervorgebracht und nicht umgekehrt. Das zunehmende Wissen das der Mensch über das Universum, unseren Planeten und die Biologie hat spricht für mich NICHT für eine Sicht, in der der Mensch im Mittelpunkt steht und es keine objektive sondern nur die subjektive Sicht des Menschen gibt. Zum heutigen Wissen und zur heutigen Erkenntnis passt viel besser die Sicht der Big History, in der die Menschengeschichte ein winzig kleiner Teil der Geschichte des Universums ist. In dieser Sicht existiert das Universum zweifelsohne und es existiert auch ohne den Menschen. Den Menschen braucht es in diesem Universum nicht, vielmehr ermöglicht dieses Universum Geschöpfe wie den Menschen.
Dass wir nun ins Anthropozän eingetreten sind sehe ich vor allem als Gefahr für den Menschen, weniger als Chance, denn letztlich bleibt der Mensch ein biologisches Geschöpf, er ist für eine bestimmte Umwelt “programmiert” wobei das Programm vor allem adaptives Verhalten steuert. Wenn der Mensch nun selbst die Parameter verändert, die sonst von geologischen oder biologischen Prozessen bestimmt werden, dann ändern sich die auch die Zeitskalen.Aus einem geologischen Zeitraum von Millionen von Jahren wird ein vom Menschen bestimmter Zeitraum von maximal hunderten von Jahren. Noch gefährlicher kann das Ausnützen von biologischem Wissen zur Kriegsführung werden. Biologie (Neigung zu Gruppenkämpfen) und Wissen um die Biologie spielen hier sehr ungünstig zusammen. So gesehen beginnt mit dem Anthropozän eine neue gefährliche Phase für die Menschheit.
Hier wird’s natürlich mopsig [1], der Schreiber dieser Zeilen hat versucht diesen Nachrichtenteil zu ignorieren.
MFG
Dr. W (der beim Norbert Elias, letztlich von soziologischer Veranstaltung auszugehen hat)
[1]
‘Mopsig’ = ‘möglicher Klops’, lautmalerisch wie verkürzend.
Dr. Webbaer zitierte (14. Juli 2015 11:01):
> […] also immer nur von A zu B zu C und dann wieder zu A
> […] es gäbe nichts anderes, was man mit dieser Wandlung vergleichen könnte.
Es gab dabei offenbar doch jemanden, um die Worte „immer nur“ auszuwählen; anstatt „bisher stets“, oder „zum Beispiel (als Teilstück einer längeren Markow-Kette)“.
Möglicherweise wurden die entsprechenden Worte sogar in der Vorstellung einer eventuellen Leserschaft gewählt, deren (gedachten) Mitgliedern sowieso zugestanden wurde, einen Begriff von „Gedächtnis“ zu haben.
“Über die Erkenntnis der Zeit” hätte als Titel besser gepasst. Nachdem der Autor aber schon tot ist, kommt der Ratschlag wohl zu spät…
“Nicht die Zeit wird gemessen, sondern in der Messung erst konstituiert sich die Zeit.”
Ich finde das irgendwie unbefriedigend als Ergebnis. Zeit gehört doch wohl zur Struktur des Universums, sofern wir uns davon eine wissenschaftliche Vorstellung machen können. Hinter diese Erkenntnis können wir nicht zurück.
“Elias zerlegt das geradezu genüsslich, indem er zeigt, dass Zeit nichts Vorgefundenes, sondern etwas Gelerntes ist: Kinder müssen lernen, Zeitvorstellungen zu entwickeln, Gesellschaften müssen es lernen.”
“Zeitvorstellungen” sind eben nicht die Zeit.
Was sich entwickelt hat, sind die begrifflichen Vorstellungen von Zeit. Es gibt aber durchaus historisch, sozial und individuell verschiedene Wahrnehmungsformen von Zeit, denn der Mensch existiert nur als Kulturwesen, die Kultur ist die Natur des Menschen. Die Unterscheidung von Kultur und Natur dient zuerst der begrifflichen Bewältigung dessen, was man Realität nennen kann. Wir haben m.E. noch kein begriffliches Instrumentarium, um Kultur- und Naturphänomene unterschiedslos zu betrachten, also muss man das Phänomen „Zeit“ unter den verschiedenen Aspekten betrachten: physikalisch, kulturelle, soziologisch, individuell, psychologisch, und sich bemühen, Widersprüche zwischen diesen Facetten abzubauen oder erklärbar zumachen.
Die allererste “Uhr” ist doch der menschliche Körper, der zuerst wächst und reift und dann altert bis der Mensch stirbt. Diese Erfahrung macht jeder. Neben dieser eindeutigen Zeitrichtung hin zum Tod sieht der Mensch aber auch vom Anfang an eine zyklisch erscheinende Zeit in Tag und Nacht, dem Lauf von Sonne, Mond und des Firmaments, der Planeten sowie im Wandel der Jahreszeiten. Daraus entwickelten sich dann unterschiedliche kulturelle Vorstellungen von Zeit. Jan Assmann (Ägypten. Eine Sinngeschichte, Kapitel Lineare und zyklische Zeit) spricht z.B. von einer Vielfalt kulturspezifischer Zeitkonstruktionen.
“”Zeitvorstellungen” sind eben nicht die Zeit.”
Was sofort die Frage aufwirft, was Zeit ist.
Und Elias sagt eben NICHT, dass “Zeitvorstellungen Zeit seien”. Diesen Ansatz würde er als Kantisch-idealistisch ablehnen. Zeit – so hab’ ich ihn verstanden – ist das Resultat einer sehr komplexen, sich wandelnden Interaktion von Menschen untereinander und mit ihrer Umwelt. Und mit ihren Körpern auch: natürlich erfährt man “Zeit” auch einfach als “Zeit für ein Bedürfnis.” Hunger und Durst z.B. Er schreibt das ausdrücklich.
“also muss man das Phänomen „Zeit“ unter den verschiedenen Aspekten betrachten: physikalisch, kulturelle, soziologisch, individuell, psychologisch, und sich bemühen, Widersprüche zwischen diesen Facetten abzubauen oder erklärbar zumachen.”
Ja!
Es scheint, dass sie sich da etwas unglücklich ausgedrückt haben, Herr Wicht. Für mich klingt es jedenfalls widersprüchlich:
“Und Elias sagt eben NICHT, dass “Zeitvorstellungen Zeit seien”.
“Elias zerlegt das geradezu genüsslich, indem er zeigt, dass Zeit nichts Vorgefundenes, sondern etwas Gelerntes ist: Kinder müssen lernen, Zeitvorstellungen zu entwickeln, Gesellschaften müssen es lernen.”
Aber vielleicht entspricht das eben dem Paradoxon der Verschränkung von Kultur und Natur beim Menschen: es ist wie bei einem Dipol, man kann nicht den einen Pol ohne anderen haben.
Das ist richtig, da hab’ ich sprachlich geschlampt.
Schopenhauer hat mir da wohl einen Streich gespielt – ich hab’ an seine “Vorstellungen” aus der WWV gedacht, und die sind viel weniger subjektiv konnotiert als das Alltagswort, meinen einen BEZUG eines Objektes auf einen, der’s erkennt.
@Helmut Wicht
Mir scheint, Sie haben da »dem Herrn Elias (1887-1990)« zehn zusätzliche Jahre an Lebenszeit spendiert, die er nicht hatte.
Der Herr Wittgenstein (1889-1951) hat auch einmal etwas geschrieben, was die Ergebnisse aus den letzten 2500 Jahren des Philosophierens über die Zeit prägnant zusammenfasst:
(Geburtsdatum Elias war falsch)
Oh.
Danke.
Ich hab’s korrigiert.
In Bezug auf Wittgensteins Diktum – auf genau dieses “Warum?” des menschlichen Zeitmasses versucht doch Elias, wenn ich ihn recht verstanden habe, Antwort zu geben.
Als Biologe (ich mach’ ausgerechnet “Chronobiologie”…siehe meinen Beitrag “Für Nummer 5 hier im Blog) würde ich schlicht antworten, dass es auch für Tier und Pflanze evolutionär Sinn hat, zu bestimmten Zeiten Bestimmtes zu tun oder zu lassen. Oder, um es vornehmer auszudrücken: Bestimmte “Phasenwinkel” zwischen rhythmisch oszillierenden inneren und äusseren Vorgängen untereinander einzuhalten.
Zugegeben, das Zitat war ziemlich brutal aus dem Zusammenhang gerissen. Aber die Formulierung gefällt mir und es passt insgesamt zu den Problemen mit der Zeit aus philos. Sicht.
Ich kann nur vermuten, dass Wittgenstein das, was die vielfältigen Aspekte und Facetten von “Zeit” miteinander verbindet, als eine Familienähnlichkeit angesehen hätte. Mithin wäre die Frage “Was ist Zeit?” sozusagen ill-posed, sofern als Antwort darauf die Nennung eines generellen Prinzips oder “Zeit an sich”-Mechanismus erhofft wird, aus dem heraus sich alle unsere kontextuellen Bezüge von “Zeit” herleiten liessen. Klar, das ist jetzt meine eigene Deutung, aber das scheint mir dann nicht gar so weit entfernt von dem, was Elias dazu meint, wenn ich es recht verstanden habe.