Stultitia pulchra

BLOG: Anatomisches Allerlei

Kopflose Fußnoten von Helmut Wicht
Anatomisches Allerlei

Ich bin Wissenschaftler, Hirnforscher. Ich leide an einer Erkrankung, die man "Stultitia pulchra" nennt. Sie befällt die Augen. Tränenden Auges – nein, beidäugig tränend schreib’ ich diesen Text nieder. Mir ist, als ob ich ohne Brille tauchte: wie Fische verschwimmen mir die Buchstaben vor Augen, welche Mühsal, sie zu erkennen und einzufangen. Und meine Lider fühlen sich an, als wären sie inwendig mit Schmirgelpapier überzogen: jeder Lidschlag ein Sandsturm über’m Tränensee.

Sie brauchen jetzt die "Stultitia pulchra" nicht im Pschyrembel nachzuschlagen: sie steht nicht drin. Übersetzt heisst das: "die schöne Dummheit". Ich bin schön dumm. Nicht nur das: ich bin auch professionell dumm, denn qua Amt und Ausbildung hätte ich eigentlich wissen müssen, dass die Krankheit mich befallen würde. Aber sie kennen das: man stumpft ab. Der Bakteriolog’, der dauernd mit den fiesesten Keimen umgeht, glaubt an seine eigene Immunität, der Schmied glaubt an seine Unbrennbarkeit, die Näherin an ihre Stichfestigkeit und vermutlich sind Bestatter von ihrer eigenen Unsterblichkeit überzeugt.

Gut dann – wie kam’s, wie befiel mich die "Stultitia"? Es hat mit diesem Bild zu tun:

 


(copyright: Hans-Joachim Herr, mehr von ihm hier)

Ist es nicht wunderschön? Das ist ein zell-/molekularbiologischer Arbeitsplatz, das Innere einer sogenannten "Sterilbank". Die Dinger stehen zu Hauf in allen modernen biowissenschaftlichen Labors herum. Man braucht sie, um an Zellkulturen arbeiten zu können. Es sind eigentlich ziemlich nüchterne, sachliche Geräte: ein Kasten, vorne offen, aus mattem Edelstahl, lauter rechte Winkel, hell erleuchtet: völlig unromantisch.

Der Photograph und ich, wir wollten aber eine "magische", "alchymistische" Aura über die Sache legen. Wir brauchen nämlich Photos für eine Imagebroschüre des Fachbereichs Medizin meiner Uni, die ich gerade im Auftrag des Dekans erstelle. Ich bin nämlich nebenher noch der PR-Fuzzi unserer Fakultät. Und ein wenig Aura, ein wenig Magie ist immer gut. Ausserdem hab’ ich meinen Adorno brav gelesen und rezipiert. Der verdrängte Mythos, das Irrationale, so sagt er, kehrt innerhalb der rational verfassten Welt in immer neuen Formen zurück. Er ist unausrottbar. Manche wenden sich vor lauter Verzweiflung über die Nüchternheit der modernen Welt der "Stultitia esoterica" (esoterischen Dummheiten) zu, ich, wie gesagt, bevorzuge die "Stultitia pulchra" – schön soll’s sein.

Also haben wir die Flaschen, die Geräte mit Bedacht und in Hinsicht auf ihre Farbigkeit und Leuchtkraft ausgewählt und hübsch arrangiert. Für die echten Profis unter den Lesern: natürlich ist’s Beschiss. Die gelbe Brühe in dem Gefäss mit dem Alufoliendeckel ist Pikrinsäure, eine Art von Sprengstoff, der eigentlich in einer Sterilbank nichts zu suchen hat. Das rote Zeug ist echt: Zellkulturmedium. Aber einen Messzylinder mit einem Liter Wasser darin sieht man in einer Sterilbank auch eher selten.

Aber einen tollen Lichteffekt gibt das! Die Reflexionen, die Strahlen, die auf der Rückseite, auf der matten Edelstahlwand aufwärts streben – "Das ist’s", sagt der Photograph. Und dann haben wir stundenlang mit seinen grossen Lampen und Reflektoren das Licht penibel eingerichtet. Und gemerkt, dass wir zusätzlich ein "inneres Leuchten" in das Stilleben bekommen, wenn wir die Leuchtstoffröhre, die oben im Bild zu sehen ist, auch noch einschalten.

Am nächsten Morgen bin ich – nach einer schlaflosen, feueräugigen Nacht – zum Ophthalmologen getigert. Rotlidrig, tränentrielend, umflorten Blicks. Der Arzt selbst, so sagt man, ist das beste Placebo. In der Tat. Professor Ohrloff, der Chef der Klinik kommt, mich in Augenschein zu nehmen – und er hat selbst ein feuerrotes Auge. Da ging’s mir schon mal besser. "Tja", sagt er, "da geht momentan irgend ein Adenovirus um – ich hab’s mir selbst gefangen." Er wundert sich aber darüber, dass es bei mir so schön symmetrisch ist. "Wird wieder", sagt er, verschreibt mir Tröpfchen, und dann halten wir noch einen netten hochschulpolitischen Schwatz, denn ich bin, wiewohl subaltern, einer der bestinformierten Männer des Fachbereiches. Als PR-Fuzzi kommt man halt ‘rum, hat seine Kontakte, hört dies und das und das Gras wachsen.

Später ruft mich der Photograph an. "Ach", sagt er, "mir geht’s nicht gut. Ich hab’ die ganze Nacht kein Auge zugetan, als ob ich Sand in beiden hätte, ich komm’ grad vom Augenarzt … aber das Bild von gestern ist schön geworden, ich hab’s Ihnen gerade gemailt."

Noch ein wenig später kommt der Kollege und Freund Schomerus, ein gelernter Zell- und Molekularbiolog’ bei mir im Büro vorbei. "Aua!", sagt er, als mein feueräugiger und sein klarer Blick sich treffen. Dann zeig’ ich ihm voller Stolz das schöne Bild, das wir an der Zellkulturbank gemacht haben.

"Aha!", sagt er.
"Wieso?", frag’ ich.
"Das da oben ist ‘ne UV-Röhre", sagt er.
"Alles klar", sag’ ich.

Die UV-Lampen in den Sterilbänken schaltet man ein, wenn man NICHT darin arbeitet. Damit sie steril bleiben, denn das UV-Licht ist so intensiv, dass es Zellen, Keime und Bakterien tötet. Wir haben uns einen Sonnenbrand geholt. Wir haben uns die Augen – naja: die Bindehäute und die Hornhäute – verbrannt. "Klassische Blödheit", sagt der Kollege Schomerus.

Es wird aber wieder, das heilt, keine irreparablen Schäden. Und vielleicht ist ja die Dummheit der Preis, den man für die Schönheit bezahlen muss. Und irgendwie passt es ja auch: das Licht, das Medium des Photographen, hat ihn versengt. Die Schönheit, das Medium des Ästheten, hat mich verbrannt. Und wie schön, wie milde, wie sanft konturiert, wie mit einem gnädigen Nebelschleier überzogen ist die Welt, wenn man sie tränenden Auges beschaut….

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Veröffentlicht von

Gedankenfragmente von Helmut Wicht, Dozent an der Frankfurter Universität, über Neurobiologie, Anatomie, Philosophie, Gott und die Welt. Seine eigentliche Expertise bezieht sich auf die (Human-)anatomie und die vergleichende Anatomie des Nervensystems.

12 Kommentare

  1. Danke; Pikrinsäure

    1) Danke – jetzt habe ich ein Thema für die nächste Arbeitssicherheits-Besprechung: UV-Licht und seine Wirkung auf ungeschützte Augen
    2) Anscheinend ist in Deutschland vor kurzem eine Flasche mit eingetrockneter Pikrinsäure in die Luft geflogen. Denn: Vor hurzem haben sie aus einer Regensburger Apotheke eine solche Flasche entsorgen lassen und dann gezielt gesprengt

  2. Wer schön …

    … sein will muß leiden.

    Früher gab es ja mal die Sendung von Harald Schmidt und Feuerstein. Schmidteinander hieß die wohl. Da gab es dann den Programmpunkt Sprichwortforschung. Diese Serie hast Du, Helmut, großartig fortgeführt. Man sieht, das Sprichwort stimmt. 🙂

  3. @ Huhn

    Danke!

    Und (um noch mehr Komplimente zu fischen) – hast Du gemerkt, dass ich GANZ alleine, ohne bei Dir um Hilfe zu schreien, ein Bild auf den Server hochgeladen habe? UND zwei funktionierende Links eingebaut habe?

    Und das alles mit Sichtbehinderung…

  4. Oh, oh. Bei diesen binokularen Mikroskopen bekomme ich immer Angstschweiß. In meiner ersten Anatomieprüfung (wir hatten zuerst mikroskopische Anatomie) habe ich mein Präparat untersucht und dem Prüfer dann am Arbeitsplatz etwas dazu erzählt. Als ich damit anfing hat mich der (alt-)ehrwürdige Prof. Ueck (ja, in diesem Falle darf man auch mal Namen nennen) lautstark angefahren: “Schauen Sie mich nicht aus Höflichkeit an! Schauen sie gefälligst ins Mikroskop!”. Am Ende der Prüfung:”Na ja. Ich habe heute schon schlechteres gehört….”. Schlimm sowas…

    @Helmut: Gute Besserung! Oder so.

  5. @ Matthias

    Soso, der olle Ueck in Giessen – den kannt’ ich auch noch. Dem hab’ ich, um ein paar Ecken, mein Anatomendasein in FFM zu verdanken. Aber das ist eine andere Geschichte.

    DICH aber hab’ ich erwischt! Wie recht hatte der Ueck, als er Dich schimpfte! Genau hingucken, das ist Anatomie!

    Das Ding da in der Bank ist kein Mikroskop – das ist eine Lupe! Ich weiss, Wikipedia ist anderer Meinung – ich aber beharre darauf, dass dies Ding eine Lupe und kein Mikroskop sei, weil es seitenrichtig abbildet, was ein klassisches Mikroskop eben nicht tut. Deshalb kann man unter einer Lupe mit den Händen arbeiten, was am Mikreskop nur schwer möglich ist…

    Grüße, viel Erfolg bei der Diss!

  6. @ Wicht

    Mit den Links, das wurde auch mal Zeit, das habe ich früher erwartet. Aber das Bild hat mich wirklich überrascht. Ohne Nachfragen, ohne Hilfe. Da Du ja vieles nur verschwommen siehst, (hast Du für Deinen Text ein Student als Tipse mißbraucht?) hast Du das Bild wohl rein intiutiv eingefügt. Oder UV Licht hat noch andere Wirkungen als ein Sonnenbrand der Augen. Vielleicht sollte ich mich mit einer Sonnenbrille solch einer Strahlung aussetzen und in ein paar Wochen gibt es dann das neue Huhnix Betriebssystem, was alles bisherige in den Schatten stellt, weil ich plötzlich UltraViel programmieren kann. 😉

  7. Gute Besserung 😉

    Oh je, ich weiß, wie so etwas schmerzen kann. (hab mir auch mal die Hornhaut verletzt)…war sicher auch ne schlaflose Nacht, aber ich hoffe Dir geht es schon wieder besser…mit ner guten Augensalbe? anstatt Antibiotikum, oder ?….
    Kleiner Trost: diese neue Erfahrung war immerhin nicht für die Katz, sondern für uns Leser …..ganz interessant 😉
    Alles Gute
    Monika

  8. schräg / allzu zuschräg?

    Hallo,
    mitleid mitleid, lob lob, aber dem Spieltrieb folgend.

    Zitat

    Manche wenden sich vor lauter Verzweiflung über die Nüchternheit der modernen Welt der “Stultitia esoterica” (esoterischen Dummheiten) zu, ich, wie gesagt, bevorzuge die “Stultitia pulchra” – schön soll’s sein.

    Das ist neben amüsanten Geschichte für mich, für mich die interresanteste Stelle, in Ihrem Beitrag.

    Es gibt keine nüchterne Welt. Für mich scheint sie genauso undurchschaubar und mystisch, wie das Mittelalter.
    Ich denke mal im Sinne von Adorno liegt es am hinschauen. Das Leben ist wohl noch nie, ein dauernder Jahrmarkt gewesen.

    Die eigene Welt ist so komplex, wie ich sie mir mache, oder wer sich langweilt ist selber schuld.
    Wissen und Umwissen sind immer zwei Seiten einer Medailie, Wissen ist nicht nur die Abschaffung von Unwissen.
    Lernen geht mit Wissensselektion einher.

    In diesem Sinne sind wir wohl alle schön dumm ;-). Aber einige Menschen schaffen es dabei so schön zu werden, das die Wahrnehmung, der Dummheit gegen Null strebt.
    Es gibt hier und im Leben echte Blüten, unter anderem auch Stilblüten.

    Gruß Uwe Kauffmann

  9. @ Kauffmann

    Ich bin anderer Meinung/habe ein anderes Bauchgefühl.

    Natürlich ist es schwierig, wenn nicht unmöglich, “Weltwahrnehmungen” über Jahrhunderte hinweg zu vergleichen. Dennoch würde ich – einfach in Hinsicht auf die Technisierung weiter Lebensbereiche – dahingehend argumentieren, dass uns die Welt transparenter geworden ist. Wir haben vieles soweit verstanden, dass wir es manipulieren können, und selbst das, was sich unserer Kontrolle entzieht, ist in seinem prinzipiellen Funktionieren ent-mystifiziert.

    Ich will damit NICHT sagen, dass die Welt “enträtselt” sei. Die “Rästel” haben sich nur “verdichtet” und womöglich sogar noch weiter verkompliziert.

    Selbst wenn es den Physikern gelänge, die TOE (“theory of everything”) zu entwickeln, so wäre doch diese Kraft, die “die Welt im Innersten zusammenhält”, eine “qualitas occulta”, wie jede andere Kraft der Physik. Ja, die Gravitation ist da, man kann sie berechnen, man kann Vorhersagen machen, man kann sie instrumentalisieren, man kann sie womöglich auf den Austausch von Higgs-Bosonen zurückführen – aber was IST Gravitation? Wir erkennen die Wirkungen – aber was ist die Ursache?

    Symmetriebruch nach dem Urknall, anthropisches Prinzip … lauter sehr rätselhafte Sachen. Der innerste Grund der Welt ist dunkel. Fast will mir scheinen, dass eine Welt voller Satyrn und Naturgeistern, Halb- und Ganzgöttern ein freundlicheres, helleres Ambiente hätte. Immerhin haben die ja alle noch menschliche Regungen, und in so einer Welt könnte man als Mensch ja glatt meinen, gemeint zu sein.

    Um’s metaphysisch zu sagen: ich glaube, dass sich für uns (im Vergleich zu unseren Ahnen) die vielfältigen Rätsel des SEIENDEN (sensu Heidegger) zum den Rätseln (vielleicht dem einen Rästel) des SEINS verdichtet haben.

    Um Adorno ein wenig anders zu interpretieren (und um ihn mit Nietzsche zu verschmelzen, was ihm vermutlich gar nicht gefallen hätte – aber wurscht, sind beide tot und können sich nicht mehr wehren):

    Das Rätselhafte/Furchteinflössende war nie weg. Dem Wissenden hat es sich nur zur Seinsfrage verdichtet, der sich zu stellen einen gewissen Mut braucht. Die Masse, der dieser Mut fehlt, die die Antwort scheut, dass das Sein ebensogut nicht sein könnte, sucht ihre Rätsel, ihre “Thrills” im Eso-Business.

    Ohne den “Thrill” aber, da geb’ ich Ihnen recht, geht es scheint’s nicht.

  10. Ohja – das ist unangenehm. Ist mir so ähnlich mal passiert, als ich in meinem früheren Job mit UV-härtendem Glaskleber längere Zeit hantierte…unser Chef war zu knickerig für Schutzbrillen…

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