Stairway to heaven

Diesen Weg stell’ ich mir gerne als eine Sprossenleiter vor. Und wenn ich ihn mir im Kontext mit meinen wissenschaftlichen Unternehmungen vorstelle, dann verbirgt sich der oberste Teil der Leiter, den ich gar nicht mehr zu sehen vermag, im wolkigen Reich der Freiheit. Oder auch: der gänzlichen Irrelevanz, denn manchmal denke ich, dass das eigentlich Freie das sein muss, was unverursacht und wirkungslos ist, mithin eine Spielart der Nichtigkeit. Man steigt also eine Sprossenleiter hinauf, auf der es stets freier, leichter, luftiger wird, und ganz am Ende ist vielleicht wirklich: Nichts.

Gut. Auf einer der Sprossen dieser Leiter, sofern es die der anatomischen Wissenschaften ist (welche meine sind), steht, sehr weit oben über mir, aber gerade noch in meiner Sichtweite, der Herr Professor Joseph Hyrtl (1810-1895) aus Wien. Der war der berühmteste Humananatom des 19. Jahrhunderts, vor allem aber war er – unter allen Anatomen – derjenige, der am besten schreiben konnte. Anatomie und Literatur:

“Die Anatomie zerstört mit den Händen einen vollendeten Bau, um ihn im Geiste wieder aufzuführen, und den Menschen gleichsam nachzuerschaffen. Eine herrlichere Aufgabe kann sich der menschliche Geist nicht stellen.” (1)

Joseph Hyrtl in jüngeren Jahren. Das Bild stammt von Wikipedia, es ist gemeinfrei.

Hyrtl ist mein anatomischer Heros. Und er hatte eine Faible fürs Abseitige, fürs Irrelevante. Er selber hätte sich vermutlich gegen den Begriff der “Irrelevanz” gewehrt, aber selbst in seinem klassischen Lehrbuch konnte er es sich nicht verkneifen, alle möglichen terminologischen und historischen Anekdoten, die mit dem anatomischen “Kerngeschäft” auch des 19. Jahrhunderts nichts zu tun hatten, in grosser Zahl einzubauen. Nebenher hat er Bücher geschrieben, sie sich nur mit derlei beschäftigen. Das bekannteste ist seine “Onomatologia anatomica”, die “Geschichte und Kritik der anatomischen Sprache der Gegenwart” von 1880 (2).

Weit, weit oben auf der Sprossenleiter meiner Wertschätzung sitzt er. Die ganze antike Literatur hat er abgezackert, zitiert, wenn’s drauf ankommt, Homer, Aristoteles, Oribasius, Celsus und Gottweisswen, um der Genese der anatomischen Begriffe auf die Schliche zu kommen. Und wenn ich das auch will, einem Begriff nachschleichen, schlag’ ich immer erst in Hyrtl’s “Onomatologie” (3) nach.

Einst wollt’ ich wissen, warum das Os sacrum (das Kreuzbein) Os sacrum heisst, denn sacer heisst: “heilig”. Der heilige Knochen. Schlag’ nach bei Hyrtl, da steht’s freilich: Galenos von Pergamon (noch so’n Grieche) hat das Ding ostoun ieron genannt, das Wort ieros kann aber auch einfach “groß” bedeuten, und das Os sacrum ist halt der größte Knochen der Wirbelsäule. Ein Übersetzungsfehler. Anatomisch irrelevant, dem Knochen ist es egal, ob er “heilig” oder “Hugo” heisst.

Jüngst wollt’ ich es dann noch genauer wissen, denn gar so einfach ist die Sache nicht. Sacer kann auch das glatte Gegenteil von “heilig” bedeuten, nämlich “verflucht”, “verabscheuenswert” und “ekelhaft” (4). Und es gibt eine Argumentationslinie, die – ausgehend von der topographisch-anatomischen Beobachtung, dass sich das meist prall kotgefüllte Rectum dem Os sacrum innig anschmiegt – die Benennung des Letzteren mit dem Ekel vor dem Inhalt des Ersteren erklärt (5). Fast wäre man also geneigt, das Os sacrum als “Scheißbein” einzudeutschen, was man allerdings schon deshalb bleiben lassen sollte, weil direkt hinten an ihm dran das “Steißbein” hängt, wodurch der stabreimenden Sprachverwirrung der Nomina ossium Tür und Tor geöffnet würde.

Gut. Ich wollte also dieser ganzen delikaten Etymologie noch mal nachschleichen, und fing, wie gewohnt, wieder bei Hyrtl an. Diesmal aber mit der Absicht: ad fontes! – an die Quellen!

So sieht das Lemma “Sacrum” in Hyrtls “Onomatologia” aus (sorry, ich habe drin ‘rumgeschmiert). An den Galenos von Pergamon (ca. 130 – 200 n.Chr.), der da mit dem ieron ostoun zitiert wird, komme ich allerdings nicht heran. Ich kann kein Griechisch. Zu dumm. Aber ein bisschen Latein, also, dacht’ ich, guck’ Dir doch mal an, was dieser Caelius Aurelianus (ca. 500 n.Chr.) da zum Thema Os sacrum von sich gegeben hat (6).

Erster Befund: Im Buch I, de morbis acutis, Kapitel IV – wie von Hyrtl zitiert, s.o. – finde ich das Zitat nicht. Dort geht es um phrenitis, eine fiebrige Geisteseintrübung, die es heute (als nosologische Einheit) nicht mehr gibt. Aber im Buch II, de morbis chronicis, Kapitel IV, finde ich etwas – das allerdings etwas anders klingt als das, was Hyrtl schreibt:

Erstens geht es da nicht um das Os sacrum, sondern um die heilige Krankheit, die Epilepsie, die allerdings auch eine “große” Krankheit ist, und Aurelianus schreibt: majora enim vulgus sacra vocavit  – “denn Großes hat das Volk Heiliges genannt”. Hyrtl hat ein omnia (“alles” Große) hineingeschmuggelt, und hat das Perfekt vocavit in das Präsens des vocat (“nennt” das Volk Heiliges) umgemodelt.

Ha! Ich habe meinen Heros, hoch oben über mir auf der Leiter, bei einer Schlamperei ertappt. Ein Fehlzitat! Die Bücher verwechselt! Den Kontext der Epilepsie verschwiegen!

Eine völlig irrelevante Schlamperei übrigens, ändert ja nichts an der Kernaussage. Aber ich, ich bin auf der Sprossenleiter der Irrelevanz eine Sprosse näher an Joseph Hyrtl herangekommen. Erst sah ich nur die Sohlen seiner Schuhe. Nun fange ich an, den Schmutz zu sehen, der an ihnen klebt.

Aber es ist nur ein Stäubchen, fast ein Nichts, ganz irrelevant. Doch genau darum geht’s ja.

Fußnoten:

(1) Joseph Hyrtl: “Lehrbuch der Anatomie des Menschen”, Wien, 1889, Verlag von Wilhelm Braumüller (20. Auflage), p. 10

(2) ders.: “Onomatologia anatomica, Geschichte und Kritik der anatomischen Sprache der Gegenwart”, Verlag von Wilhelm Braumüller, Wien, 1880, Lemma: “Sacrum” (Reprint Georg Olms Verlag, Hildesheim, 1970)

(3) “Onomatologie” heißt: Namensbildungslehre

(4) Karl Ernst Georges. “Ausführliches Lateinisch-Deutsches Wörterbuch”, 2. Band K-Z, Lemma: “sacer”, Leipzig, Hahn’sche Verlagsbuchhandlunng, 1869

(5) Nachzulesen in (1): p. 355.

(6) Ich beziehe mich auf diese

Netzfund: https://archive.org/details/DeMorbisAcutisChronicis/page/n3

Ausgabe (1757) des Caelius Aurelianus. Ich habe nicht herausfinden können, welche Hyrtl benutzt hat.

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Veröffentlicht von

Gedankenfragmente von Helmut Wicht, Dozent an der Frankfurter Universität, über Neurobiologie, Anatomie, Philosophie, Gott und die Welt. Seine eigentliche Expertise bezieht sich auf die (Human-)anatomie und die vergleichende Anatomie des Nervensystems.

9 Kommentare

  1. Nur ganz kurz und von abgelegenener Stelle aus kommentiert, lieber Herr Wicht, also : Der Vergleich der Suche nach Erkenntnis mit der ”Stairway to Heaven” passt und es muss an die Wurzel, an den O-Text sozusagen, gegangen werden, wenn ”Wahrheit” gesucht wird, Sekundaerquellen genuegen hier nicht.
    MFG
    Dr. Webbaer, der anraet bei diesem Wetter viel Eis zu essen, am besten auf Milchbasis, nicht auf Wasserbasis, um auch bei schwierigen klimatischen Bedingungen stets kuehl zu wirken

  2. @ webbaer
    “ad fontes” – ja gewiss.
    Der Caelius Aurelianus ist aber auch sicher dutzende Male abgeschrieben und dann wieder und wieder nachgedruckt worden, so dass es gar nicht so einfach sein wird
    a) unter all dem Hyrtls Quelle zu identifizieren
    b) Aurelianus’ Originaltext zu rekonstruieren.

  3. Es bleibt zu suchen.
    Sacharbeit ist von Altvorderen, vgl. mit Ihrem ‘ad fontes’, ‘fons’ ist die Quelle, vgl. :
    https://www.etymonline.com/word/font#etymonline_v_11751

    Hier steckt auch das ‘fondere’ drinnen, die Gruendung.

    …abzunehmen und ernst zu nehmen.

    In concreto kann Dr. W Ihnen nicht folgen, abaer es wird schon seine Richtigkeit haben, wenn Sie sich schon so hervortun, anzunehmenderweise : begruendet.

    MFG
    Dr. Webbaer, der leider leider die Wichtigkeit oder Wichtichkeit Ihrer Nachricht nicht eintsuschaetsen vermag, im Moment nicht : TASTATUR nicht OK,
    Jedenfalls : gewoehnungsbeduerftig

  4. @ A. Krüger

    Danke für den Hinweis auf den alten Aufsatz im “Spiegel”. Das war mir alles ziemlich neu. Und nein, sorry, den Herrn Prof. (?) Bankl kenne ich gar nicht. Er passt aber nach Wien, wie die Faust auf’s Auge. Muss ich gleich mal den alten Wiener Pathologenwitz erzählen, der so geht:

    “Wann immer der Pathologe am Uniklinikum in Wien ‘was zu tun hatte, hängte er ein Schild an die Institutstür, da stand drauf: ‘Wegen Todesfall geöffnet’.”

    Würde wohl zu dem Bankl passen.

    Dass Schopenhauer die Franzosen hatte, war mir ganz neu. Kann mich aus den Biographien, die ich las, an derlei nicht erinnern. Jedenfalls ist er, soweit ich weiss, ziemlich friedlich und frei von allzugrossem Horror auf seinem Sofa gestorben. Und er hat sich, wenn ich mich recht entsinne, auf seine alten Tage dann doch noch in ein Frauenzimmer verknallt – da ist so eine Geschichte von einer Bildhauerin, die eine Büste von ihm gemacht hat. Ich habe aber die Details vergessen, das müsst’ ich in Safranskis Biographie des Herrn Schopenhauer nachlesen.

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