Melancholia hippocratica

BLOG: Anatomisches Allerlei

Kopflose Fußnoten von Helmut Wicht
Anatomisches Allerlei

Tendenziell fand ich Hippokrates von Kos bis vor kurzem eigentlich langweilig. Das heisst – ich fand das Bild von ihm, das ich im Kopfe hatte, fade. Eine sehr bärtige Griechenbüste mit nichtssagendem Gesichtsausdruck auf einem Podest.

Ja, gut, gut – ganz furchtbar wichtig, der Mann, deshalb das Podest. Also hat man die Eckdaten im Kopf, für den akademisch-medizinischen Alltagslehrbetrieb: ‘Kos’ ist eine Insel in der Ägäis, Hippokrates lebte da so um 400 vor. Ein Zeitgenosse von Sokrates also (der aber, wiewohl ähnlich bebartet, eindeutig die interessantere Physiognomie hatte), Begründer der Viersäftelehre und Humoralpathologie(1), die sich immerhin bis ins achtzehnte Jahrhundert hielt. Zwei Jahrtausende. Nicht schlecht für eine Theorie. Erst Rudolf Virchow (übrigens auch ein sehr bärtiger Mann) hat die Säfte im Theorienklo entsorgt. Stichwort ‘Zellularpathologie’.

Sonst noch was? Freilich: Der ‘hippokratische Eid‘. Aus heutiger Sicht recht schräg übrigens, dieser Eid: Verbot der Chirurgie (Chirurgen sind keine Ärzte, hähä!), sehr ‘zünftig’ (keine Weitergabe ärztlichen Wissens ausserhalb des engen Kreises der Inaugurierten) und sehr züchtig (‘Du sollst nicht den Hausherrn noch die Hausfrau noch die Sklavinnen oder Diener in dem Hause vögeln, das Du als Arzt betrittst.’ (2) – Wenn man davon ausgeht, dass Verbote sich im Allgemeinen gegen etwas richten, was auch praktiziert wird, dann scheint der Arztberuf vor Hippokrates eine sehr unterhaltsame Angelegenheit gewesen zu sein). Ein moralinsaurer Topf, dieser Hippokrates(3), dachte ich.

Ein wenig besser, weil morbide: die ‘Facies hippocratica’, aus dem ‘Prognostikon’: ‘Die Nase ist spitz, die Augen sind hohl, die Schläfen eingefallen, die Ohren kalt und zusammengeschrumpft, die Ohrläppchen zurückgebogen, die Gesichtshaut ist hart, gespannt und schrumpelig und die Farbe des ganzen Gesichtes ist blass oder schwärzlich.’ Und wenn der Kranke nun auch noch schläfrig ist, keinen Hunger und keinen Stuhlgang hat – dann ist er morgen tot. Sagt Hippokrates. Was ihn mir aber auch nicht unbedingt sehr viel sympathischer machte.

Aber dann, vor zwei Tagen, stolperte ich bei der Lektüre eines schmalen Bändchens(4) über Medizingeschichte erneut über den Herrn Hippokrates. Im ‘Corpus hippocraticum”, so hiess es, gäbe es auch ‘Aphorismen’. Soso, dachte ich. Arztsprüche. ‘Gott heilt, der Arzt liquidiert’, oder so, dachte ich. Nein, dachte ich weiter. Sicher nicht so zynisch. Eher so etwas Pathetisches wie ‘nil nocere’(5), dachte ich. Das würde passen, dachte ich, weil ich mir den Hippokrates irgendwie so akkurat-langweilig wie die Karikatur eines Amtsarztes vorstellte.

Denkste..

Statt dessen bescherte mir die folgende Seite des Büchleins die Einsicht, dass das allbekannte ‘ars longa, vita brevis’(6) ein Spruch des Hippokrates ist. Na sowas, dachte ich. Und dass der Spruch noch weitergeht, das überraschte mich dann noch mehr. Vor allem aber, wie er weitergeht:

‘ars longa, vita brevis, tempus acutum, experimentum fallax, iudicium difficile.’(7)

Seither ist der Herr Hippocrates in meiner Wertschätzung enorm gestiegen. Dieses Mass an melancholischer Reserviert- und Resigniertheit angesichts des Welt-, Wissenschafts- und Medizinbetriebes hätte ich ihm gar nicht zugetraut. Der Aphorismus: Ein tiefer Seufzer. Sein Verfasser: Ein Melancholiker. Einen Rotwein auf Herrn Hippokrates! (siehe Fussnote 1)

Ich werde den Antrag einbringen, dass man diesen Spruch in allen Räumen der Universität, in allen Laboren, Büros und Hallen, aussen und innen, in grossen Lettern anbringen möge. Ich werde damit natürlich scheitern. Aber das wird nur zur melancholischen Akzentuierung meiner Persönlichkeit beitragen, in der ich mich mittlerweile mit Hippokrates verbunden fühle.

Fussnoten:

(1) Die Humoralpathologie ist insofern ein zugleich humorvolles als auch -loses Teilgebiet der Medizin, indem es in ihr um den Mangel oder Überschuss an Körpersäften, welche “humor, humores” heissen, geht. Wir lachen heute über die “Viersäftelehre”, über “Blut, Schleim, gelbe und schwarze Galle”, über die behaupteten Prävalenzen der Einzelsäfte im Gesamtsafthaushalt der “Sanguiniker, Phlegmatiker, Choleriker und Melancholiker”, über die Zuordnung der Elemente “Feuer, Wasser, Luft und Erde” zu diesen Säften, über die (uns erheiternden) Therapiekonzepte, die zum Beispiel dem “trocken-kalten” Melancholiker “heiss-feurigen” Rotwein verordneten (wogegen ich übrigens gar nichts einzuwenden habe).

Der Grundstock zu dieser Lehre stammt aus dem ‘Corpus hippocraticum’. In ausgearbeiteter Form, mit allen möglichen Zuordnungen von Temperamenten, Säften, Elementen und Eigenschaften, liegt die Lehre dann bei Galenos von Pergamon im zweiten nachchristlichen Jahrhundert vor.

(2) Sehr freie Wiedergabe des Eides. Von mir.

(3) Zur philologischen Akkuratesse: Mir ist durchaus klar, dass es den Hippokrates als Autor einzelner Schriften gar nicht gibt, bzw. dass es schwierig bis unmöglich ist, seine Autorschaft an den Einzelwerken des umfänglichen “Corpus hippocraticum” nachzuweisen. Es waren viele Autoren aus seiner Schule am Werk. Als historische Person sei Hippokrates aber – sagt Prof. Benzenhöfer, unser Medizingeschichtler –  verbürgt. Und von dieser Person versuch’ ich halt mir ein (natürlich fiktives) Bild zu machen.

(4) Udo Benzenhöfer: Skriptum Medizingeschichte. GWAB-Verlag Wetzlar, 2007. Zitate und Übersetzungen hieraus.

(5) “Keinen Schaden anrichten!”

(6) “Die Kunst ist lang, das Leben kurz.”
Die Zitate aus dem ‘Corpus hippocraticum’ sind in lateinischer Sprache wiedergegeben, denn ich kann kein Griechisch.

(7) “Die Kunst ist lang, das Leben kurz, die Zeit flüchtig, das Experiment trügerisch und das Urteilen schwierig.”

Ich mag die lateinische Fassung beinahe lieber als das griechische Original, das sich übrigens hier bei Wikipedia findet (man kann es mit rudimentären Griechisch-Kenntnissen durchaus verstehen). Das Latein hat den Vorzug, ohne Verbum und ohne Artikel auszukommen, was weder im Griechischen noch im Deutschen so recht geht. So entsteht eine Aneinanderreihung von jeweils einem Nomen und einem Adjektiv – und das wirkt so wunderbar lapidar und minimalistisch.

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Veröffentlicht von

Gedankenfragmente von Helmut Wicht, Dozent an der Frankfurter Universität, über Neurobiologie, Anatomie, Philosophie, Gott und die Welt. Seine eigentliche Expertise bezieht sich auf die (Human-)anatomie und die vergleichende Anatomie des Nervensystems.

9 Kommentare

  1. Zur Viersäftelehre

    Ich kenne Mediziner, die lachen nicht über die Viersäftelehre. Es entspricht dem heutigen Stand der Wissenschaft, dass sehr vielen psychischen Erkrankungen Stoffwechselstörungen im Gehirn zugrundeliegen.

    Natürlich muss man ein bisschen abstrahieren um nun im schwarzen oder gelben Gallensaft den einen oder anderen Neurotransmitter wiederzufinden. Aber dennoch ist Hippokrates’ Erkärung sehr viel näher an der Wahrheit dran als Erklärungen wie “von Gott gestraft”, “von bösen Geistern besessen” aber auch alsmancher psychoanalytischer Ansatz.

  2. Zum Steinschneide-Verbot im Eid d.H.

    Das Verbot für Ärzte im hippokratischen Eid, sich als Steinschneider zu betätigen, ist nicht schräg sondern wahrscheinlich die älteste nachweisbare Wettbewerbsabrede. Die Steinschneider verpflichteten sich im Gegenzug, nicht als Ärzte zu praktizieren.

  3. Zur Schreibweise “Koos”

    Nur der Neugierde halber gefragt: Hat Ihre Schreibweise “Koos” einen besonderen Grund? Kos schreibt sich Kappa-Omega-Sigma. Plädieren Sie dafür, ein Omega grundsätzlich mit zwei o zu transkribieren?

  4. @ Phaeake

    “Koos” –

    ich hab’ mir gar nichts dabei gedacht, ausser, dass ich dachte, das “o” sei lang. Alle Welt schreibt die Insel aber als “Kos”. Also eine Schlamperei meinerseits, keine “message”. Ich korrigiere das, danke!

  5. @ Phaeake – Steinschnitt

    Der Eid geht aber weiter – GAR kein Messer anfassen. Nicht einmal eine Eiterbeule aufschneiden, wenn man es wörtlich nimmt. Nicht einmal ein Aderlass.

    Ich bin jetzt wirklich medizinhistorisch nicht versiert genug, um zu wissen, ob die Hippokratiker zur Ader gelassen haben. Ich kann nur eine Lehrmeinung wiedergeben, die der mir bekannte Prof. Benzenhöfer vertritt, die besagt, dass der Eid gar nicht aus dem hippokratischen, sondern aus dem pythagoreischen Umfeld stamme.

    Wenn das stimmt, dann ist es für die Hülsenfruchtliebhaber unter den Ärzten ja erfreulich, dass das berühmte Bohnenverbot der pythagoreischen Sekte es nicht bis in den Eid geschafft hat.

  6. @Helmut: Spaß und Experiment

    Ob der Arztberuf früher so viel mehr Spaß gemacht hat, das scheint mir noch nicht abschließend geklärt, vor allem durch den Verweis auf deine sehr freie Wiedergabe in Fußnote 2. 🙂

    Auch in der Psychotherapie gibt es entsprechende Verbote des Kontakts zwischen Therapeut und Klient; daraus abzuleiten, dass die Mehrheit der Therapeuten vorher ihre Klienten (sexuell) ausgenutzt hätte, halte ich aber für voreilig.

    Einen Punkt noch zu deinem neuen Lieblingszitat: das ÀµÖÁ± ÃƱ»µÁ® (peira sphalerê) ist in der direkten Übersetzung noch eine gefährliche/risikoreiche Erfahrung. Ich weiß nicht recht, wieso man aus dem peira, das auch einfach ein Versuch (zur Gabe einer Heilsubstanz?) sein könnte, ein Experiment macht.

  7. @ Schleim

    Dank Dir für Deine Replik.

    (1) Dass ein Verbot auf eine Praxis hinweist – diese Idee hab’ ich von Norbert Elias (“Der Prozess der Zivilisation”). Wenn etwas explizite und allgemein verboten werden muss, muss es auch öfters vorgekommen sein. (Gibt es eigentlich eine seriöse “Geschichte der Sexualität?” Hat irgendjemand mal versucht, den Geschlechstrieb und seine Beziehungen zum jeweiligen sozialen und kulturellen Umfeld historisch zu untersuchen?)

    (2) Man kann den Hippokrates sicher auch “eng” lesen, rein “amtsärztlich”:

    “Es dauert lang, Arzt zu werden, aber die Lebensspanne des einzelnen Adepten ist kurz, der rechte Moment des therapeutischen Eingriffes geht rasch vorbei, Herumprobieren seitens des Arztes ist gefährlich und die Prognose schwierig.”

    Aber das Zitat gewinnt, wie ich finde, ungemein, wenn man es “offen” liest, so wie die lateinische Übersetzung es tut: als allgemeine, existenzielle, nicht nur medizinische, praktische Einsicht.

  8. Historische Persönlichkeiten

    Ein anderer berühmter Mann hat sich weniger um die Erhaltung der Gesundheit verdient gemacht als um die Beschädigung des eigenen Gerippes: Evel Knievel. Ich gebe zu: einen Zusammenhang gibt es nicht wirklich. Aber es führt mich zielstrebig zu der Frage: was machen das Giger-Bike und die Dichtkunst? Und drm kann auch jede Aufmunterung gebrauchen…

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