Lokalkolorit (Streicheleinheiten für die Seele)

BLOG: Anatomisches Allerlei

Kopflose Fußnoten von Helmut Wicht
Anatomisches Allerlei

Was folgt, hat überhaupt nichts mit Hirn zu tun. Sondern mit Fahrrädern. Und mit der Seele, die, wenn ich sie mir als etwas Verkörpertes vorstelle, mich an ein kleines Pelztier erinnert, das es mag, gestreichelt zu werden. In Massen sogar: Gegen den Strich. Das kitzelt so schön, das ist galvanisierend, das ist elektrisch.

Glis glis, der Siebenschläfer. Quelle: hier

Was folgt, hat auch nichts mit Reklame zu tun, obwohl dieser Laden darin vorkommt. Es geht vielmehr um das Seelenpelztier eines Frankfurters, um mein Seelentierchen, das man sich etwa wie einen plüschigen, doch etwas muffeligen Siebenschläfer vorstellen darf, der aber elektrisierende Bürstungen mag. Dann wird ihm wohl. Erst recht, wenn die Zunge, die sein Fell leckt, den südhessischen Schlag hat, das vertraute, brabschweiche (1) Idiom.

Also: Fahrradladen, tief im Gallusviertel. In dem Stadtteil, den die Frankfurter einst "Kamerun" nannten, weil da die Arbeiter aus dem Dampflokausbesserungswerk (2) und den Adlerwerken (3) wohnten, und die waren gemeinhin rabenschwarz verdreckt. Zweirad-Ganzert. An der Galluswarte. Gefühlt ist der Laden schon seit Barbarossa dort, de facto aber seit 1923. Auch nicht schlecht.

Man kennt mich da. Das Geschäft liegt an meiner abendlichen Fahrradroute, sehr praktisch, kann man noch schnell Ersatzteile holen. Kurz vor sechs, abends, nach der Arbeit, Winter, Vorweihnachtszeit, Dreckwetter, patschnass und ein wenig muffelig geh’ ich in den Laden. Klingeling macht die Tür. Chefin hinter’m Tresen. Bevor ich noch den Mund aufbekomme, begrüsst sie mich:

"Ei gugge da, de Herr Doggder, aach schon wach?"

Wohlig windet sich mein Seelensiebenschläfer unter dieser widerborstigen Streicheleinheit, auf die ihm allerdings keine passendere Replik einfällt als ein breites Grinsen. Auf einmal bin ich gar nicht mehr muffelig.

Chef kommt dazu. Auch Frankfurter Urgestein.

"Unn?", sachder. (4)
"ZWAA Halogenbernscher", saachisch. (5)
"Ui", sachder, "des is’ ja en Heeresufftraach!" (6)

Ich bin schon wieder sprachlos, was er dazu verwendet, mir ansatzlos eine wunderbar umständliche vorweihnachtliche Schnurre von seinem Grossvater zu erzählen, dessen Lieblingsbeschäftigung in der Vorweihnachtszeit es gewesen sei, mit einem klapprigen Adler-Moped ("naddüürlisch aach ohne Lischd unn’ immer bei Sauwedder!"), Enkel hintendrauf, abends in den Frankfurter Stadtwald zu fahren – Axt im Rucksack, um dort einen Weihnachtsbaum zu klauen, den der Enkel dann mit klammen Fingern auf’m Heimweg festhalten musste. "Middeme gekaafde Baam häddm Obba Weihnachde kaan Schbass gemachd… wie komme Sie an ihr Beem?" (7)

Das Ganze endet natürlich damit, dass hinten in der Werkstatt (wohlig warme Schrauberhöhle mit steinalten Metallbearbeitungsmaschinen) irgendein Bastelprojekt in Opas Geist begutachtet werden muss. Diesmal ist es ein wunderschönes Adler-Fahrrad aus den 30er Jahren, was ganz seltenes, mit einem Dreigang-Planetengetriebe im Tretlager ("wannse sowas je in die Finger krische – mache Ses  ja nedd uff, des krischd kaaner je widder zamme, neddemal de Obba hat des geschaffd..) – ein wunderschönes Adler-Fahrrad, das gerade durch den Anbau eines wilden Gemisches aus ultramodernen, nigelnagelneuen Teilen und steinaltem Geraffel ("E Karbidlamb! Isch hab’ noch e Karbidlamb, die häng isch da noch druff!") veredelt wird.

Ich erzähl’ was vom lecken Tank an einem meiner Motorradprojekte.

"Kenn isch", sachder, "müssd mer schweisse. Am besde midde Flamm. Hadde Obba aach immer so gemachd, damals, als mer aach noch Modorräder gehabbt hawwe. Da hinne, im Eck , da war die Ess, da hadder geschweissd. Awwer weil er die Tanks nie so reschd had auslüffde lasse – die hawwe immer noch nach Benzin gestungke –  da sinn die Lehrling immer raus, wanner geschweissd hat. Is eischendlich immer gut gegange, bis uff des aane Mal, wo em doch en Tank hochgegange is. Des Loch im Dach von de Werkstatt üwwer de Ess war awwer schnell widder geflickt, unnem Obba is aach nix bassiert, awwer der Tank, der dann uffm Dach gelääsche had, war werklich fer nix mehr zu gebrauche unn de Obba hads aach nie widder gemacht…" (8)

Man kriegt übrigens in diesem Laden sein Fahrrad hochkompetent verdoktert. Und alle, die da drin sind, Chef vorweg, können auch Hochdeutsch. Aber erst, wenn wir uns in unsrer Gross- und Urgrossväter Geiste die Seelenpelze anlegen und uns mit unseren Schnurren gegenseitig streicheln, und Zeit vertrödeln und verbabbeln wird uns so recht wohl. "Zwaa Halogenbernscher, 5 Euro, unn e halb Stund geschwädzd statt geschaffd."

Wenn man dann auf dem Trottoir vor dem Laden im Gallus steht, sieht man im Hintergrund die beleuchteten Banken- und Bürotürme in der Innenstadt bedrohlich funkeln. Hinter irgendeinem dieser Fenster sitzt garantiert gerade ein Wirtschaftsfuzzi, der im Moment drüber nachdenkt, wie man den globalen Fahrradhandel marktwirtschaftlich effizient und hochprofitabel aufziehen kann. Es wird einem bange…

(1) Brabsch – Matsch, Schlamm
(2) In Nied. Schon lange zu. Mein Uropa war Lokomotivführer und hat später da gearbeitet. LOKFÜHRER! Kann man sich die Bewunderung vorstellen, die ich diesem alten glatzköpfigen Herren (mit Kaiser-Wilhelm-Schnurrbart und stets mit Zigarre) als Knabe entgegen brachte? Astronaut war in meiner Jugend noch nicht so in … ausserdem gab’s bei Uropa immer e Guudsje (Bonbon).
(3) Adler – kennt die noch jemand? Tolle Autos, Motorräder, Fahrräder, Schreibmaschinen. Tempi passati.
(4) sagt er
(5) "Zwei Halogenglühlämpchen", sage ich.
(6) Ufftraach – Auftrag
(7) der Baam (Sgl.) – die Beem (Pl.)
(8) Generelle Dialektanmerkung: Das "originäre" Frankfurter Idiom, wie es z.B. aus den Werken des Friedrich Stoltze (19. Jhdt, "Frankfurter Nationaldichter") verbürgt ist ("un es will merr net in mein Kopp einei: wie kann nor e Mensch net von Frankfort sei?") – dies originäre Frankfurter Idiom, das harte Konsonanten (gerollte r’s, deutliche t’s ) enthält, habe ich nie jemanden reden hören, mir will scheinen, das es ausgestorben ist. Meine "Transkription" ist, darmstädterisch, südhessisch gefärbt, denn da komme ich her. Auffällig ist mir beim Niederschreiben geworden, dass der Grossvater, den ich, als ich klein war, noch "Oopa" nannte (langes o), mittlerweile auch in meinem Munde zum "Obba" (kurzes o) geworden ist. Kommt das aus dem Ruhrgebiet?

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Veröffentlicht von

Gedankenfragmente von Helmut Wicht, Dozent an der Frankfurter Universität, über Neurobiologie, Anatomie, Philosophie, Gott und die Welt. Seine eigentliche Expertise bezieht sich auf die (Human-)anatomie und die vergleichende Anatomie des Nervensystems.

9 Kommentare

  1. Adler

    Die hatten auch Autos? Motorräder sagen mir was, aber Autos ist mir wohl neu. Oder habe ich das bei all den neuen Marken vergessen?

    Schöne Geschichte. Die Kunst zu leben. Begegnung und Zeit vertrödeln. Und das alles in Bankfurt.

  2. Kamerun

    Kamerun (Cameroun in Französisch) leitet sich vom Portugiesischen „Rio de
    Camarões” (Fluss der Garnelen) ab. So nannten die portugiesischen Entdecker im 15. Jahrhundert den Fluss Wouri in Westafrika.

    Ja, so wandeln sich über Jahrhunderte die Bedeutungen von Wörtern. Wobei vom Frankfurter Kamerun bestimmt kein Kameruner gern hören wird – aber das ist Lokal/Globalgeschichte.

  3. @ Draminga – Kamerun

    Ich hab’ noch eine alternative Erklärung (bei Wiki gefunden) – nach dem 1.WK seien franz. Soldaten aus Marokko dort als Besatzer stationiert gewesen…

    Die “Kamerun”-Geschichte, so wie ich sie erzählte, hab’ ich von meinen Eltern/Grosseltern gehört. Sie erscheint mir auch plausibler, denn in der Zeit, in der das Gallusviertel industrialisiert wurde, war Kamerun eine deutsche Kolonie und das Wort sicher in vieler Munde.

    Füe diejenigen, die diese Bezeichnung als eine Pejoration der wahren Kameruner ansehen (ich tu’s nicht): die Bezeichnung ist fast ausgestorben, ebenso wie die Frankfurter Mundart.

  4. Opa vs. Obba

    Dieses “Obba” macht die Unterscheidung zur alten Oper für den Frankfurter dann evtl. eindeutiger? Bei alter Oper, denkt man da im Hochdeutschen eher an den alten Opa, als in Frankfurt an den “aalen Obba”.

  5. Kamerun

    Für einen Zusammenhang mit der Kolonialgeschichte sprechen die zahlreichen Ortsnamen “Kamerun” in Deutschland – 9x in Google Maps bei Eingabe “Kamerun, Deutschland”. Ähnlich bei Wikipedia. Nicht nur alte volkstümliche Bezeichnungen in Industrievierteln wegen rußgeschwärzter Arbeiter sondern auch “offizielle Adressen” weitab von Industrie oder Eisenbahn-Betriebswerken.

  6. @ Andersen

    Das find’ ich jetzt spanndend. Lässt sich herausfinden, wieso – jenseits der Assoziation über “schwarz” – diese Orte so benannt wurden?

  7. noch mal Kamerun

    Ich kann da nur spekulieren. Ich nehme an, dass nicht nur zu Zeiten der Römer (“schlag nach bei Caesar”) auch einzelne Personen in den Kolonien zu Wohlstand gekommen sind. Wer dann in Deutschland ein erworbenes Stück Land als neuen landwirtschaftlichen Betrieb gegründet hat, hat den Ort dann nach der Kolonie, hier “Kamerun”, genannt. Es gibt aber bestimmt viele unterschiedliche Erklärungen.

  8. Erst recht, wenn die Zunge, die sein Fell leckt, den südhessischen Schlag hat, das vertraute, brabschweiche (1) Idiom.

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