Guido Westerwelle und die Neuroanatomie der Aufmerksamkeit

BLOG: Anatomisches Allerlei

Kopflose Fußnoten von Helmut Wicht
Anatomisches Allerlei

Bietet sich ja gerade an, kann ich auch meinen schlechten Ruf aufpolieren, weil ich so wenig Neurowissenschaftliches schreibe.

(Quelle: dpa. Hoffentlich darf ich das…. Nee, leider nicht. Hab das Bild entfernt. L.F.)

Wie erregt man Aufmerksamkeit? Guido macht’s aktuell vor: man lasse alle Hemmungen fahren. Witzigerweise macht das Hirn das anders, mit Hemmung nämlich. Und vielleicht sollte man, wenn man Hirn hat, sich hie und da auch ein wenig zurückhalten.

Das Paper ist schon ein wenig älter, dafür aus prominenter Feder, und soweit ich sagen kann, immer noch einigermassen aktuell, was die thalamo-corticalen Mechanismen der Aufmerksamkeitssteuerung angeht:

Francis F. Crick (Ja! DER Crick!): Function of the reticular thalamic nucleus: The searchlight hypothesis. Proceedings of the National Academy of Sciences of the USA, Vol. 81, pp. 4586-4590 (1984).

Ist sogar schnell erklärt (siehe Abbildung, stammt aus Cricks Publikation). Was zum Cortex, zu Bewusstsein soll, muss durch den Thalamus im Zwischenhirn. Sensorische Nervenfasern kommen von links unten (in der Abbildung, in Wirklichkeit aus allen Sinnessystemen) im Thalamus an. Erregende Synapse, thalamisches Neuron schickt Faser in Cortex, alldort wieder erregende Synapse auf corticales Neuron. Auf dem letzten Wegstück – zum Cortex – hängt aber noch der Nucleus reticularis thalami dazwischen, der den Thalamus auf seiner einen Seite wie ein Becher umgibt. Die Neurone dieses Kernes sind inhibitorisch (GABA) und schicken ihre Fasern in den Thalamus. Sie sehen’s in der Abbildung: Die thalamischen Nervenzellen projizieren nicht nur erregend zum Cortex – nein, sie haben kurze Seitenaxone, die die hemmenden Zellen des Nucleus reticularis erregen. Die aber hemmen nun wieder die thalamischen Neurone, die sie erregten. Kurzum: ein Neuigkeitsdetektor, ein Hochpassfilter. Von links unten, aus der Sensorik, kommt ein Signal, Durchschaltung in den Cortex. Doch dann – nach kurzer synaptischer Verzögerung – gleich wieder eine Dämpfung. Das System detektiert also Änderungen eher als Stasis. In den Worten der Physiologen: ein "phasisches System".

Der Cortex hat natürlich auch die Finger im Spiel. Er ist nicht nur auf die Information angewiesen, die ihm Thalamus und Nucleus reticularis (sozusagen "pflichtschuldigst") zukommen lassen, er kann das System aktiv modulieren. Sie sehen’s in der Abbildung. Er schickt (massenweise, siehe unten) Axone hinab zum Zwischenhirn, die einerseits die Neurone des Thalamus, andererseits die hemmenden des Nucleus reticularis aktivieren.

Jetzt wird’s in Cricks Modell der Sache ein wenig trickreich, denn es kommt ein Synapsentyp ins Spiel, den man "Malsburg-Synapse" nennt. Eine Synapse, die die Effektivität ihrer Übertragung in Abhängigkeit von ihren "Benutzungsbedingungen" ändert. Ganz so wie die "Hebbsche Synapse", die beim Lernen eine Rolle spielt. Stichwort "long term potentiation" (LTP). Nur soll die Malsbergsche Synapse halt nicht "long term", sondern nur sehr kurz, sekundenlang, ihre Wirkung verstärken können. Dieser Synapsentyp ist, soweit ich sagen kann, bislang hypothetisch geblieben. Die Hebbschen gibt’s in Massen, im Kleinhirn, im Hippocampus – LTP ist ein eigener Forschungszweig der Neurobiologie geworden.

Die "take-home message" bleibt von der Frage nach der Existenz der Malsburgschen Synapse ganz unberührt: Der Cortex kann aktiv kontrollieren, was ihm zu Aug’ und Ohren kommen soll (sozusagen), und was nicht. Er wird vom Thalamus nicht nur einfach mit sensorischer Information zugemüllt, er kann sortieren. Der Thalamus selbst und der Nucleus reticularis sortieren via Hemmung die Neuigkeiten aus. Der Cortex kann diesen Filter aber nachregulieren.

Als Neuroanatom und Erbsenzähler und Westerwelle-Kritiker find’ ich einen Befund besonders spannend. Der Cortex schickt viel mehr "Kontrollfasern" in den Thalamus und den Nucleus reticularis als ersterer "Meldefasern" in den Cortex schickt.

(Wort-)meldung ist schon gut, wenn man Aufmerksamkeit erregen will. Aber corticale Kontrolle ist besser.

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Gedankenfragmente von Helmut Wicht, Dozent an der Frankfurter Universität, über Neurobiologie, Anatomie, Philosophie, Gott und die Welt. Seine eigentliche Expertise bezieht sich auf die (Human-)anatomie und die vergleichende Anatomie des Nervensystems.

4 Kommentare

  1. Hirnschrittmacher

    Hallo Helmut,

    Das war ganz nach meinem Geschmack, nicht nur das Tor zum Bewußtsein
    zu beschreiben, sondern auch den Türhüter, der es öffnet.
    DER Crick war schon ein findiger Kopf, ein Nobelpreis war zu wenig für ihn,
    und mich freut besonders, daß seine Beschreibung des thalamocorticalen Systems
    immer noch gültig ist.
    Crick war 1984 aber nicht der erste, der genau dieses reticuläre „Schlaf-Wach-System“ beschrieb.

    Rolf Hassler (*3. August 1914 – †10. November 1984; von 1959 bis 1982 Wissenschaftliches Mitglied und Mitglied des Kollegiums des Max-Planck-Instituts für Hirnforschung, Direktor der Neurobiologischen Abteilung) schrieb 1971 einen Aufsatz „Regulation der psychischen Aktivität (in „Hirnforschung und Psychiatrie“ Colloquium Verlag Berlin 1971),
    in dem er mit Degenerationsstudien den Faserverlauf der reticulären Erregungen so ähnlich wie Crick rekonstruierte und daraus ähnliche Folgerungen zog.

    Wikipedia-Leser können meine Interpretation (Hirnschrittmacher) von Hasslers Darstellung hier lesen:
    http://de.wikipedia.org/wiki/Aufsteigendes_retikul%C3%A4res_Aktivierungssystem
    http://de.wikipedia.org/wiki/Formatio_reticularis

    S.R.

  2. @ Rehm

    Das ist wahr, Crick in der Neurobiologie stets versucht, sich als der “grosse Kompilator” zu positionieren, der anderer Leute Resultate sortiert, zusammenbringt, und neue Hypothesen schmiedet.

    In meinem Büchlein “Anat. Anekdoten” hab’ ich mich auch durchaus kritisch mit ihm auseinandergesetzt (“Vom Elend des Claustrum…- ist, glaub’ ich, im “Wichts Winkel” noch online).

    In dem von mir zitierten Paper ging es tatsächlich mehr um diese Synapsen als um die grundsätzliche Einsicht in die Architektur des N. reticularis, danke für die Richtigstellung.

    Was ich NICHT weiss und was mir bei der Lektüre von Crickens Aufsatz auffiel: Gilt diese Architektur AUCH für die Gebilde des Metathalamus, mithin die Corpora geniculata medialia und lateralia, die “Relais” des opt. und akust. Systems?

    Ich hab’ nämlich den N. reticularis immer nur seitlich der ventrolateralen Kerngruppe des Thalamus gesehen – reicht der eigentlich bis an den Metathalamus heran?

    Grüße, Danke
    Helmut

  3. Vermutung

    Lieber Helmut,

    „Gilt diese Architektur AUCH für die Gebilde des Metathalamus, mithin die Corpora geniculata medialia und lateralia, die “Relais” des opt. und akust. Systems?“

    Ich glaube schon, aber DU hast die Materie in der Hand, da kannst Du besser direkt nachschauen.

    Apropos Nachschauen: In M. Dahlems neuem Beitrag sind sehr interessante Filme von einer Veranstaltung, u.a. auch mit G. Roth, der einen Vergleich der Säugetierhirne vortrug. Darin sagte er auch, daß die Rindenneurone (ich nehme an, er meint die Pyramidenzellen) bei Walen und Elefanten viel größer sind als beim Menschen.
    Wenn das so ist, dann finde ich darin eine Bestätigung für meine Vermutung, daß die Größe der neuronalen Zellkörper mit der Länge ihrer Axone korreliert.
    Die Pyramidenzellen haben die längsten Axone und den größten Zellkörper, wobei die Beetzschen Riesenzellen wieder besonders durch ihre Größe und die Länge ihrer Axone herausragen.
    Wenn tatsächlich eine Korrelation zwischen Größe des Zellkörpers und Länge des Axons besteht, dann läßt sich die ungewöhnliche Größe der Wal-und Elefantenneurone einfach mit ihrer Körpergröße bzw. den wesentlich längeren Axonen dieser Viecher erklären. Giraffen müßten demnach auch größere Pyramidenzellen haben.
    Mir erscheint der Zusammenhang logisch, weil mit längeren Axonen ja auch wesentlich mehr Energie-und Stoffwechselprozesse im Zellkern ablaufen müssen.

    Gibt es für diese Rehmsche Vermutung schon Untersuchungen?
    Sind die Pyramidenzellen der Maus entsprechend kleiner?

    Gruß
    Steffen

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