Forschungsfront

BLOG: Anatomisches Allerlei

Kopflose Fußnoten von Helmut Wicht
Anatomisches Allerlei

Von einigen Kommentatoren wurde die Forschungsferne und die vermeintlich zu philosophische Ausrichtung mancher Beiträge in "brainlogs" beklagt. Daher ein Bericht von der vordersten Front der Hirnforschung, brandaktuell.

Ich habe soeben – es ist noch keine Stunde her – im Zentralnervensystem von Branchiostoma lanceolatum (das ist derjenige unter allen Würmern, der mit uns Menschen am nächsten verwandt ist, er heisst auf Deutsch: "Lanzettfisch", wiewohl er gar kein Fisch ist), soeben also habe ich im Zentralnervensystem dieses Würmchens eine Nervenzelle entdeckt (genau eine, unter zehntausenden), die im Mikroskop grün aufleuchtet, wenn man sie mit Blaulicht bestrahlt. So was nennt man "Autofluoreszenz". Die Zelle leuchtete von selbst, ich hab' nichts angefärbt oder 'reingespritzt. Ich glaube gar zu wissen, was das für ein Farbstoff ist: "GFP", "green fluorescent protein" – das kommt in machen Quallen vor, die auch fluoreszieren, aber eben auch in meinem Würmchen. Bislang war nur bekannt, dass es in manchen Hautzellen drin ist – jetzt weiss ich aber, dass es auch im Nervensystem vorkommt.

EINE Zelle, EIN Neuron, unter vielen, vielen zehntausend. Das Neuron sieht mit all seinen Ausläufern wunderschön aus, wie ein "H" mit buschigen, ausgefransten, verzweigten Enden. Grün strahlt es mich vor schwarzem Hintergrund an. Nur eines. Das muss was zu bedeuten haben!

Ich habe nur keine Ahnung, was. Ich hab' auch keine Ahnung, was es bedeutet, dass ausgerechnet in diesem Würmchen, und sonst fast nirgendwo im Tierreich "GFP" vorkommt. Und es ist mir auch herzlich wurscht. Ich guck mir jetzt noch ein wenig mein Neuron an, freu' mich an seiner Schönheit, und im neuen Jahr forsch' ich weiter. Bis jetzt hab' ich es nur in einem Lanzettfisch gefunden, vielleicht ist es ein seltsamer Zufall, ein Spiel der Natur, vielleicht haben die aber alle so eine leuchtende Zelle.

Wozu die Zelle grün ist? Ich habe keine Ahnung. Und es ist mir auch ganz egal. Wozu diese Forschung nutze ist? Ich habe keine Ahnung. Und bin auch noch stolz darauf. Denn sehen Sie: genau da mag sie beginnen, die Freiheit, nach der wir suchen, und die die Neurodeterministen uns verweigern: indem man sich, auch und gerade in den Naturwissenschaften, die Freiheit nimmt, NICHT nach Funktion zu fragen, NICHT sofort nach Reduktion auf Ursachen und Wirkungen zu rufen, NICHT auf der sofortigen Umsetzbarkeit eines Forschungsresultates in eine neue Therapie des Krebses/Herzinfarktes oder wasweissich zu bestehen, NICHT sofort die Frage nach der "Relevanz" zu stellen.

Es ist einfach nur schön. Ein kleines, schönes, rätselhaftes, leuchtendes Neuron, das für irgend etwas steht, von dem ich weder weiss, noch wissen will, noch wissen kann, was es in seinem Wesen ist. Aber etwas von mir, in diesem Falle die Sehnsucht nach Freiheit, spiegelt sich in ihm.

Omnis mundi creatura
quasi liber et pictura
nobis est, et speculum.

(frei übersetzt):

Alle Geschöpfe dieser Welt
sind für uns wie ein Buch oder ein Bild
oder ein Spiegel.

Schöne Weihnachten!

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Veröffentlicht von

Gedankenfragmente von Helmut Wicht, Dozent an der Frankfurter Universität, über Neurobiologie, Anatomie, Philosophie, Gott und die Welt. Seine eigentliche Expertise bezieht sich auf die (Human-)anatomie und die vergleichende Anatomie des Nervensystems.

8 Kommentare

  1. Schön und gut…

    Sehr geehrter Herr Wicht,
    ich fühle mich desillusioniert… seit wann ist die Forschung nicht mehr Interessiert? ich lese bei Ihnen im Blog Sätze wie “Und es ist mir auch ganz egal.” “Und es ist mir auch herzlich wurscht.”
    Läuft Forschung bei Ihnen immer so? Ich bin nur ein kleiner Erstsemestler, aber ich hatte gehofft, dass mehr als ästhetisches Interesse dabei herauskommt. Haben Sie Ihr Interesse verloren? Klar.. so ein leuchtendes Neuron ist was schönes.. ich freue mich auch immer wieder Fluoreszierende Grafiken zu sehen, allein der Farben wegen.. aber bisher zumindest hatte mich immer noch interessiert: Hey, was soll das jetzt darstellen? Und warum?
    Wenn ich jetzt aber Ihren Artikel lese, fühl ich mich irgendwie.. traurig! Diese Absolutheit in Ihren Sätzen wie
    “von dem ich weder weiss, noch wissen will, noch wissen kann, was es in seinem Wesen ist. “

    Ich hoffe, dass ich später optimistischer sein kann.
    Ich wünsche Ihnen noch schöne Weihnachten,
    mit freundlichen Grüßen,
    Felix

  2. @ Felix

    Lieber Herr Felix N.N.,

    ich fürchte, Sie verstehen mich miss. Ich finde dieses Neuron HÖCHST interessant. Nur stänkere ich dagegen an, dass (naturwissenschaftliches oder biomedizinisches) Interesse stets von den Fragen: “Wieso, weshalb, wofür, warum und was kann man damit anfangen?” dominiert wird.

    Helmut Wicht

  3. Schöne triefende Ironie – das schreit nach mehr ;-))

    Danke – habe wieder herzlich gelacht.

    @ Felix
    Es ist schön, dass Sie Wissenschaft so ernst nehmen und Sie können sicher sein, dass Herr Wicht ein seriöser und neugieriger Wissenschaftler ist.
    Aber:
    Manchmal müssen wir “Oldies” über den Umweg des Humors auf die Widrigkeiten und Oberflächlichkeiten der Wissenschaften aufmerksam machen, gerade weil man zu den “Genauen” und “Eifrigen” gehört. Es ist einfach eine Form “nervigen” populärwissenschaftlichem “Was-weiß-ich” nicht mit der Streitaxt, sondern mit Humor zu begegnen ;-))

    und im Falle von Herrn Wicht sich eine Art “kindliche Entdeckungslust” zu erhalten und nicht durch irgendwelche Formalitäten oder sonstwie geartete Ansprüche vergällen zu lassen….

    Ich hoffe, dass ich Herrn Wicht richtig verstanden habe, wenn nicht, habe ich wohl Pech gehabt und über das Falsche gelacht 😉

  4. Schönheit

    Auch wenn man seriöse Wissenschaft betreibt muß man sich ja nicht immer nur von Fakten leiten lassen, sondern kann doch mal etwas auf sich wirken lassen, was nicht Gegenstand der Forschung ist. Schönheit beispielsweise. Für die Schönheit der Natur gibt es auch keine richtige Erklärung.

  5. @ Theophil Isegrim @ Monika Armand

    Werte Frau Armand,
    werter Herr Isegrim,

    Ihre (naheliegende) Interpretation meiner Freude über den Fund des selbstleuchtenden Neurons bringt mich auf wissenschaftlich dünnes Eis.

    Sie haben freilich recht: man kann das, was ich schrieb, als Versuch der “Ästhetisierung” der Naturwissenschaft sehen. Man kann sogar noch weiter gehen, Nietzsche zitieren (“das Leben ist nur als ästhetisches Phänomen zu rechtfertigen”) und mir unterstellen, ich habe vor, die Naturwissenschaften als ein durch und durch ästhetisches Programm aufzufassen.

    Und man hätte damit noch nicht mal ganz unrecht. Ich bin so einem Ansatz nämlich durchaus hold, denn in mir ist genug von einem Dandy, um den raffinierten ästhetischen Gestus höher zu bewerten als die Nacktheit des Befundes.

    Es hiesse aber, mich falsch zu verstehen, wenn man mich darauf reduzieren wollte. Der EIGENTLICHE Reiz einer “freien”, “ästhetischen” Naturwissenschaft (in meinem Falle: Anatomie)liegt meiner Ansicht darin, dass sie eine “Ästhetisierung nach Regeln” sein sollte: Reproduzierbarkeit, Intelligibilität, Faktizität – das ganze naturwissenschaftliche Programm eben.

    Notabene: das ganze naturwissenschaftliche Programm, ohne dass die Reduktion, die Suche nach Ursache und Wirkung und die Frage nach dem “cui bono?” (“wem nutzt’s?”) dabei sofort in den Vordergrund träte.

    Um die Kritik vorwegzunehmen: man wird mir vorhalten, dass von dem genuin naturwissenschaften Programm wenig übrig bleibt, wenn man all dies ausklammert oder in den Hintergrund schiebt. Naturwissenschaft, so wird man sagen, SEI eben letztendlich der Versuch, über Einsichten in Ursache und Wirkung zur Manipulation und damit zum Ingenieurswesen der Natur zu kommen: “Der Mann der Wissenschaft kennt die Dinge nur, insofern er sie machen kann” (Horkheimer/Adorno, Dialiektik der Aufklärung, aus dem Gedächtnis zitiert).

    Ich bin anderer Ansicht, ich glaube, dass es jenseits des Ingenuierswesens auch noch andere Formen der wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit der Natur gibt.

    Aber ich merke gerade, dass ich diese Gedanken eigentlich in einen separaten Beitrag verpacken sollte. Das wird sonst hier viel zu lang.

    Helmut Wicht

  6. @ Wicht

    Nenn mich einfach Theophil, ist eh egal, denn es ist ein Pseudonym. Wer heißt schon Theophil Isegrim, Gottlieb böser Wolf, mürrischer Mensch. 🙂

    Ich wollte Deine wissenschaftliche Ernsthaftigkeit nicht in Frage stellen. Auch haben sich die Methoden der Wissenschaft als sehr zuverlässig erwiesen, um Erkenntnisse der Wirklichkeit zu erlangen. Aber bei aller Forschung, irgendwann läßt man doch auch mal alles beisteite und sagt sich, das sieht einfach gut aus.

    Bei “Wichts Winkel” hast Du doch mal was von einem Leopardenmuster im Hirn geschrieben (drüben bei Gehirn und Geist für die Leute, die neugierig geworden sind) und auch ein Bild eingefügt. Ich habe mir das Bild angeschaut und habe nur gestaunt. Das sah wirklich prima aus. Nutzen, Funktion? Mir egal! Ich fand es erstmal nur schön und war erstaunt, was es alles so gibt.

    Ein “Natur”wissenschaftler, der nicht mehr staunen kann (falls das wirklich jemand fertig bringt), der tut mir sehr Leid. Dem entgeht einiges.

  7. @Forschungsfront

    ein wunderschöner und gut getexteter Beitrag.

    Stellt ironisch die Realität dar, den in meinen Augen ist die Reflektion auch richtig…

    Ich wünsche allen ihr, ein frohes Weihnachtsfest.

    Viele Grüße
    Lars Michael Lehmann

  8. Forschungsarbeit

    Lieber Herr Wicht,
    warum lehnen sie sich nicht einfach zurück und schenken Herrn “Greenhorn” Felix den armen Wurm?
    Wir hier sind Zeuge ihrer unglaublichen Entdeckung, die also ihren Namen erhält (sowas wie “Das Wicht´sche Wurmlicht”) und “der Glückliche” kann zeigen ob er was drauf hat.
    Das zumindest war mein erster Gedanke.
    Es freut mich ihre Texte gelesen zu haben.

    🙂

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