Esel mit heissen Hufeisen auf dünnem Eis

BLOG: Anatomisches Allerlei

Kopflose Fußnoten von Helmut Wicht
Anatomisches Allerlei

Wenn es dem Esel zu wohl wird, geht er auf's Eis. Auf dünnes Eis, auf Glatteis, womöglich sogar noch mit heissen Hufeisen, damit er um so sicherer rutsche und einbreche und sich am heissen Eisen auch noch die Finger – ääh:Hufe – verbrenne.

Ich bin so ein Esel und hab' das dringende Bedürfnis, etwas zum Thema "Evolution der Religionen" zu sagen. Anlass ist ein Workshop zum Thema, der demnächst (am 15. Mai) in meiner Heimatstadt, Frankfurt am Main, stattfindet. Mal sehen, vielleicht geh' ich sogar hin, denn der Dr. Michael Blume (Wissenlogs, "Natur des Glaubens") ist da mit von der Partie. Und den hab' ich in Deidesheim kennen gelernt und er schien mir ein kluger Mann zu sein. Wenn er aber klug ist, dann ist er vielleicht auch gnädig und wird mir vergeben, oder mich vielleicht sogar eines besseren lehren. Erstmal aber will ich schimpfen, also den Esel spielen, der nicht "IA,IA,JA;jajajaja!" ruft, sondern "Neinneinnein!". Der Asinus diaboli (oder Dei?) sozusagen.

Die eigentliche Eselei – um das noch vorwegzuschicken – ist es aber, diesen Blogbeitrag überhaupt geschrieben zu haben. Er basiert nämlich auf kaum irgendwelcher Lektüre oder Sachverstand, sondern auf sehr persönlichen Einschätzungen, von denen einige auch völlig fehlgehen mögen. Ich bitte Sie also, ihn auch so zu lesen: als Einwurf eines interessierten Laien. Und keine Angst: das wird kein religiöses Pamphlet, keine Apologie Gottes, keine Theodizee und kein Gottesbeweis: denn gäbe es ihn: wie könnte er MEINER Rechtfertigung bedürfen? Aber eine (ästhetische) Widerrede soll's schon werden: wider den Naturalismus, der – so scheint's mir – der Religionsevolutionswissenschaft aus allen Knopflöchern schaut. Und meine Argumentationslinie wird ganz einfach und – wenn ich's recht sehe – gut adornitisch sein: die Naturalisierung der Religion (und übrigens auch der Psychologie) führt zur Religion des Naturalismus. Das Mysterium, das man dem Explanandum austreiben will, kehrt im Explanans wieder.

Mysterium? Ja freilich. Ich werd' nie verstehen, wie jemandem die Welt und sein Sein in ihr selbstverständlich sein kann. Ich finde die Welt einen ziemlich fragwürdigen Ort und das Sein eine denkwürdige Veranstaltung. Wenn ich's positiv sagen sollte (was mir eigentlich widerstrebt), würde ich es ein "Wunder" nennen müssen, negativ gesprochen (was mir näher ist) würde ich gerne den Silen zitieren, den der König Midas fragte:

"Was, weiser Silen, ist das höchste Gut?"

Und der Silen antwortete:

"Das höchste Gut, Sterblicher, ist für Dich ganz und gar unerreichbar, denn es ist: nicht geboren zu sein. Für Dich aber, Elender, ist das höchste Gut: möglichst rasch zu sterben." 

Kurzum: dass die Welt sei und dass wir in ihr sind, und dass nicht vielmehr nichts sei, ist – je nachdem wie man so drauf ist – entweder eine tolle Sache oder aber der allerletzte Scheiss. Nur eines ist es aber eben nicht: selbstverständlich. "Wieso ist überhaupt etwas, und nicht vielmehr nichts?" Diese Frage, einmal ernsthaft gestellt und bedacht, katapultiert den Frager und Denker aus der Selbstverständlichkeit des Seins hinaus, und es gibt keinen Weg zurück. Aber auch keine Antworten. Und wenn er, der Frager, zu denen gehören sollte, die der Einschätzung des Silens zuneigen, dann wird er merken, dass ihm die Frage ein Bedürfnis auflädt: das der Erlösung.

Das ist das, was ich das "Mysterium" nannte. Die Religionen umkreisen es, geben ihm Namen von Schöpfergöttern und -prinzipien, kleiden es in Bilder, in Riten und suchen Wege zum Heil. Letztgültige Antworten geben sie keine. Es gibt wahrscheinlich keine.  Aber  eine Wahrheit über den Menschen gibt es,  die ich für letztgültig halte, und  über deren Gültigkeit ich mir mit den Religiösen einig bin: dass der Mensch ein erlösungsbedürftiges Wesen sei.

Ach, wie oft sind die Religionen schon "entlarvt" worden. Als der Versuch, die widrige Natur durch schamanistische Beschwörung ihrer Geister zu bannen, als Machtmittel herrschsüchtiger Priestergötter, und der Gott des Monotheismus ist längst als Projektion durchschaut: er ist all das, was der Mensch nicht ist, aber dennoch gerne wäre. Und ich selber habe die Religion ja gerade eben als Salbe für wunde Seelen zu erklären versucht. Nach diesen, sozusagen "psychologischen" Entlarvungen der Religion folgt jetzt, nachdem die Psyche selber als Evolutionsprodukt entlarvt wurde, eine weitere Demaskierung der Religion: ein Selektionsfaktor, wie tausend andere.

(kurzer Exkurs)
Wenn man das Zustandekommen einer Idee oder eines Urteils erklären kann, ist ja damit noch nichts darüber gesagt, ob die Idee sich nun auf irgend etwas Wirkliches bezieht oder ob das Urteil wahr oder falsch ist. Es ist zum Beispiel sicherlich evolutionär sinnvoll und vorteilhaft, der Ansicht zu sein, dass eins plus eins zweie sind, und nicht zweihundert. Dem nüsse-sammelnden Eichhorn zum Beispiel würde es im Winter sicher sehr zum Nachteil gereichen, wenn es nur zweimal eine Nuss zurückgelegt hätte, jene aber zu zweihundert addierte. Nur ist damit über das Wesen der Mathematik und ihren Gegenstandsbereich gerademal gar nichts gesagt. Und jedermann würde sich an die Birne greifen, wenn er im Ernst gefragt würde, ob eins plus eins auch schon zweie waren, BEVOR diese Einsicht als Evolutionsfaktor wirksam wurde. Oder doch nicht? Ist die Welt der Mathematik ein Evolutionsprodukt? Oder war sie die ganze Zeit schon da und wird von der sich entwickelnden Kognition "entdeckt?" Und könnten dann nicht auch die Götter schon die ganze Zeit… (usw).
(Ende kurzer Exkurs)

Das Mysterium aber bleibt, es wandert nur in die Natur. Das Sein der Materie, der Energie, des Kosmos, der Evolution ist im Inneren so grundlos wie ein x-beliebiger Schöpfergott, der seinen Grund in sich findet, was – zu Recht – gerne als unerlaubter logischer Kurzschluss angesehen und dem Religiösen angekreidet wird. Man nenne mir den Grund der Welt – und die Rede der Physiker ähnelt plötzlich der der Theologen: "ex nihilo", zumindest "ex ineffabile", also aus etwas Unaussprechlichem und Unvorstellbarem heraus.

Es ist – meiner Ansicht nach – also nichts erklärt und nichts gewonnen, wenn sich der Naturalismus daran macht, alles und jedes auf seine natürliche oder evolutionäre Grundlage hin abzuklopfen. Evolution der Religionen? Wie langweilig. Wie wenig ist damit über das gesagt, worum es den Religionen geht und keine einzige Frage, an der sich die Religionen abarbeiten, ist damit beantwortet. Und wenn ich diese Fragen den Naturalisten stellte, wenn ich sie früge, ob ein Heilsgeschehen möglich sei, ob die Aussicht auf Erlösung bestünde, was die ersten Dinge seien und die letzten: dann ernte ich Hohngelächter und man droht mir mit der Exkommunikation aus den Reihen der Naturwissenschaftler, schilt mich einen Kreationisten, der Gott in die Welt zurückbringen will, einen Abweichler vom wahren Pfad des atheistischen Materialismus und der vernünftigen Weltsicht.

Dabei glaub' ich an keine Götter, bin nur voller Fragen, aber ohne Antworten. Und wenn ich meine Fragen stellen will und mit anderen Fragern darüber reden will, dann merke ich, dass den Naturalisten das Vokabular, die Denkmethode, der Leidensdruck und – das ist mein Hauptverdacht – der intellektuelle Mut fehlt, sich auf's eschatologische Glatteis zu begeben. Das ist etwas – um den Kreis zu schliessen – für Esel mit heissen Hufeisen.

PS:
Werden Esel überhaupt beschlagen?

Ach, was wär's so schön, wenn ich in diesen Fragen beschlagener wäre.. 

Dieser Beitrag ist Teil einer Artikelserie.
Weitere Texte zum Workshop "Evolution der Religionen":

Hans-Ferdinand Angel: Beten im Tomographen

Ingo Bading: "Bedenke das Ende!" – Ist Religion die treibende Kraft der Evolution?

Michael Blume: Pascal Boyer im Workshop Evolution der Religionen, Frankfurt

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Gedankenfragmente von Helmut Wicht, Dozent an der Frankfurter Universität, über Neurobiologie, Anatomie, Philosophie, Gott und die Welt. Seine eigentliche Expertise bezieht sich auf die (Human-)anatomie und die vergleichende Anatomie des Nervensystems.

41 Kommentare

  1. Esel

    “Werden Esel überhaupt beschlagen?”

    Da mußte ich doch dann mal direkt im Internet nach suchen. Ja, auch Esel werden beschlagen. Manche verwenden jedoch Hufschue aus Leder.

    Bleibt Dir also, lieber Helmut, noch übrig die Leute hier mit Deinen Fragen abzuledern.

  2. @ Huhn

    …aha, danke, auch für die Politur der Links.

    Falls jetzt jemand auf Sack und/oder Esel einzudreschen sich genötigt sieht: der Esel flieht mit Sack und Pack. Ich steig’ jetzt auf’s Motorrad und bin über Pfingsten im Paradies des Kradisten: Schweiz und Vogesen.

    Schöne Pfingsten ‘rundrum!

  3. Und wenn ich diese Fragen den Naturalisten stellte, wenn ich sie früge, ob ein Heilsgeschehen möglich sei, ob die Aussicht auf Erlösung bestünde, was die ersten Dinge seien und die letzten: dann ernte ich Hohngelächter und man droht mir mit der Exkommunikation aus den Reihen der Naturwissenschaftler, schilt mich einen Kreationisten, der Gott in die Welt zurückbringen will, einen Abweichler vom wahren Pfad des atheistischen Materialismus und der vernünftigen Weltsicht.

    Das ist doch Unfug, mit Verlaub. Dabei habe ich den Artikel eigentlich genossen.
    Aber für’s Fragen ist noch keiner verfolgt worden. Erst wenn Sie meinen, darauf verbindliche Antworten geben zu können, dann wird man Sie vielleicht nach Beweisen fragen und im negativen Fall verlachen. Aber wir wollen doch nicht aus dem Staunen am Sein oder dem menschlichen Elend, das von Atheisten bis Theisten und von Naturalisten bis Dualisten alle teilen, schon ein Verfolgungs-Geschichtchen machen.

    Und Michael Blume würde Ihnen meiner Einschätzung nach eine Apologie des Glaubens auch nicht übelnehmen 😉

  4. ohne Worte @Helmut

    Helmut…wärest du eine Frau…ich würde Dir einen Heiratsantrag machen! Deine Fragen zeichnen Dich aus! Was liegt an Antworten? “Ich will dich nicht lassen -es sei denn, du segnest mich denn!” (1.Mose 32,26)

  5. @ Dietmar

    Ich stelle mir gerade den Helmut als Frau mit etwas weichlicheren Zügen und mehr Haare auf dem Kopf vor (ich nenne sie mal Hildemut). Und dann käme ich zu Hildemuts Passage “eine (ästhetische) Widerrede” und schon könnte ich den Artikel nicht mehr unbefangen weiterlesen. 😉

    War wieder frech von mir, ich weiß.

    Dein Bibelvers handelt von Jakob, der mit Gott kämpft und dann zwar mit einer lahmen Hüfte, aber von Gott gesegnet aus dem Kampf hervor geht. Sehr interessant.

  6. … auf dünnem Eis 🙂

    So zumindest würde ich die ignoranz von Hardlinermaterialisten wie etwa Dawkins oder Kandel oder auch Hawkin bezeichnen.
    Warum ?
    Ganz einfach jede wissenschafltiche Erkentniss eröffnet meist einen Kosmos an neuen Fragen und macht die Welt anstatt überschaubarer noch größer und insgesamt unverständlicher als vorher .
    Die Religionen versuchen sich als Medium zur Metaphysik und strukturieren Dinge die sich im Rahmen unseres Verstandes nicht strukturieren lassen. Ihre Fragen sind berechtigt , ihre Antworten völlig unzureichend.
    Der Punkt ist, das die Wirklichkeit dieser Welt nicht in unsere kleinen Primatengehirne passt die gerademal 200 000 Jahre alt sind .
    Allerdings ist der Größenwahn unserer Spezies unübertroffen , alle Jahre wieder schwingen sich ein paar Elitephysiker dazu aúf die ” Weltformel ” zu entdecken und immer wieder scheitern sie kurz davor ( Einstein hier als prominentes Beispiel)
    Die Tatsache das uns unser Gehirn dazu zwingt unsere für uns erkennbare Umwelt zu strukturieren heißt nicht das die Welt in diese unsere Schemata passt.
    Im grunde müssten wir eine Religion erfinden die nur ganz wenige Dogmen hat , eine Religion die sich mit unsérer Spezies und unserer Erkenntnisfähigkeit weiterentwickelt.
    Die Wissenschaften ihrerseits sollten sich alle darüber im klaren sein das sie keineswegs an einem absehbaren Gesamtbild der Welt arbeiten sondern an Fragmenten unserer Beobachtung und manchmal lassen sich ein paar davon zusamensetzen .
    Man stelle sich vor das heute Gehirnforscher den freien Willen infrage stellen und uns schon mal zu biologischen Maschinen stilisieren wollen . Dies tun sie zu einem Zeitpunkt an dem wir die arbeitsweise des Gehirns noch nicht mal zu 20% naturalistisch verstanden haben und sie tun es zu einem Zeitpunkt an dem die größten Physiker ihre Theorien nur noch sinnvoll zusamensetzen können wenn sie unzählige Paralleluniversen annehmen , von den Multidimensionen mal ganz abgesehen . Es kommt eben meistens anders und zweitens als man denkt !
    Was soll eine Spezies die wohl niemals imstande sein, wird ihre eigene kleine und völlig unbedeutende 100 000 Lichtjahre große Galaxie, zu durchqueren , über die Realität des Kosmos aussagen . Selbst wenn ein Einzeller versuchen würde die Weltmeere zu beschreiben wäre dies noch ein für uns schmeichelhafter Vergleich .
    In Anbetracht dieser Realitäten (?) müsste eine Grundbescheidenheit ein wichtiger Wesenszug der Spezies Mensch sein , aber leider ist das Gegenteil der Fall wir sind komplett Größenwahnsinnig.

  7. @ kamenin

    Sie haben ja recht – bis zur Exkommunikation und Androhung der Aberkennung des Dr. rer. NAT. (hat hier vielleicht einer Interesse an einem Tausch gegen einen rer. PHIL.?) ist es noch nicht gekommen. Ich hab’ aber über diese Themen etliche Gespräche – sogar mit guten Freunden, die ebenfalls Naturwissenschaftler geworden sind – geführt, und mir dort genau die Vorwürfe eingehandelt, von denen ich schrieb.

    Aber das ist ja auch nicht das zentrale Argument. Es geht mir – wie schon beim letzten Mal, als wir uns hier unterhielten, um die Zurückweisung des Naturalismus. Meine Argumentation ist primär ästhetisch (das hatten wir schon: ich fürchte eine Verarmung der Welt, da sind Sie offenbar optimistischer). Die zweite Argumentationslinie, die ich in dem obigen Beitrag versucht habe, aufzumachen, ist eigentlich ein klassiches Stück Anti-Reduktionismus. Reduktion mag dahingehend möglich sein, dass sie das Zustandekommen eines Phänomens erklärt, dadurch ist aber über das Wesen des Phänomens, seine Wahrheit, Wirklichkeit, Falschheit, Richtigkeit, ja, über seine Subsistenz noch gar nichts gesagt.

  8. @ alle

    Aufforderungen zur Bescheidenheit, Heiratsanträge, Einladungen zum Geniessen … schon erstaunlich, welche Resonanzen man auf einen Beitrag kriegt, in dem man über Erlösung und Eschatologie schrieb.

    Ich weiss jetzt gar nicht, wie ich antworten soll (der Heiratsantrag ist allerdings abgelehnt).

    Ich geb’ nur noch einen Gedanken zum Besten, der mit “Evolution der Religionen” zu tun hat, und der mir vorgestern beim Motorradfahren kam:

    Mal angenommen, religiöse Menschen zeichneten sich wirklich durch einen erhöhten Fortpflanzungserfolg aus. Mal weiter angenommen (mutige, aber nicht ganz unplausible Annahme), dass katholische Priester sich durch ein hohes Mass an Religiosität auszeichen … ähh: ist da nicht ein gewisser Widerspruch? Der Fortpflanzungserfolg der katholischen Priesterschaft ist ja nun SO dolle nicht, und wie die jüngsten Skandale in den USA beweisen, versuchen sie’s noch dazu oft genug am ungeeigneten Objekt.

    (Obiger Absatz auch zu meiner Ehrenrettung als Sarkast)

  9. hilf mir zu verstehen @Wicht

    “Reduktion mag dahingehend möglich sein, dass sie das Zustandekommen eines Phänomens erklärt, dadurch ist aber über das Wesen des Phänomens, seine Wahrheit, Wirklichkeit, Falschheit, Richtigkeit, ja, über seine Subsistenz noch gar nichts gesagt.”

    Mag sein. Doch was liegt daran, das Wesen des Phänomens verstehen zu wollen? Liegt nicht in diesem Bemühen eben die Gefahr jenes Reduktionismus, den Du in Frage gestellst sehen willst? Und was ist Wahrheit? Die Frage des Pilatus war durchaus ernst gemeint! Muß demnach Wahrheit nicht befreiend wirken? Lehnen wir nicht all das für uns ab, was der Freiheit widerspricht? Doch was ist Freiheit? Müssen wir nicht Freiheit in bezug zum Willen setzen? Und schreit dann nicht jener Wille:

    “Frei wovon? Was schiert das Zarathustra! Hell aber soll mir dein Auge künden: frei wozu?” (Nietzsche)

  10. Nachtrag

    …und ist es nicht so, daß, wenn das gelobte Land (Eschatologie/Erlösung) nicht erreichbar ist, goldene Kälber gegossen werden für die Einen und die Anderen zu den Fleischtöpfen zurückkehren, wo sie zwar versklavt sind, aber vollgefressen keine dummen Fragen mehr stellen!?

  11. @ Dietmar Hilsebein

    Dietmar,

    Pilatus? Welche Frage des Pilatus? “Wollt ihr den Barabas?” Versteh ich nicht…

    Ich muss mich für eine blödsinige Wortwahl entschuldigen. Das “Wesen des Phänomens” – das ist Geschwurbel, noch dazu irreleitendes: es widerspricht dem, was ich sagen wollte.

    “Wesen” – das klingt nach “Noumenon”, nach “Ding hinter der Erscheinung”. Genau das mein’ ich NICHT. Die Erscheinung, das Phänomen, ist, was sie/es ist, basta. Und sie ist erstmal (s.u.) nicht auf ein “Wesen” reduzibel, bestenfalls lassen sich gewisse Bedingungen angeben, unter denen es überhaupt zu “Erscheinungen” kommen kann – als oller Idealist würd’ ich natürlich stets sagen, dass es eines Beobachteten UND eines Beobachters bedarf und das die Regeln, nach denen sich die Erscheinungen ordnen, die von Raum, Zeit, Kausalität, Logik und Affekt sind. Nackter Schopenhauer, soweit.

    Ob ich Schopenhauers Wende zum “Willen” als Noumenon, als “Wesen der Erscheinung” wirklich mitmachen will, weiss ich momentan nicht so recht.

    Mir geht es im Augenblick – in einer, zugegebenermassen “experimentellen Denke” – darum, jede Form von Reduktion – also das Zurückführen einer Erscheinung auf eine andere – erstmal abzulehnen. Auf der Ebene des Leib-Seele-Problems würde ich also z.B. mit den Qualia zu argumentieren haben: das “wie es sich anfühlt, bewusst zu sein” ist nicht auf einen neuronalen Prozess reduzibel. In der Reduktion geht das verloren, was den “Gehalt” der Erscheinung ausmacht.

    Das, was die evolutionäre Religionswissenschaft tut, scheint mir symptomatisch dafür zu sein. Es geht eben nicht mehr um die Inhalte der religiösen Vorstellungen, sondern um deren Zustandekommen.

  12. Wahrheit

    Helmut, Pilatus fragte Jesus, was ist Wahrheit. Das hat Dietmar auch in seinem Kommentar geschrieben.

  13. Exkommunikation

    Zum Thema “Exkommunikation aus den Reihen der Naturwissenschaftler” kann ich nur sagen: Solche Angriffe muss man gelassen ertragen, noch ist, soweit ich weiß, niemand endgültig aus den heiligen Hallen der Forschung verwiesen worden.

    Aber sich der manchmal recht ausufernden Kritik der atheistischen Kollegen (auch fürs Fragestellen) auszusetzen, dazu gehört schon etwas. Oder, um es mit Einstein zu sagen: “Wenige sind imstande, von den Vorurteilen der Umgebung abweichende Meinungen gelassen auszusprechen, die meisten sind sogar unfähig, überhaupt zu solchen Meinungen zu gelangen.”

    Eines der in meinen Augen schönsten Zitate zum Themenkomplex “Wissenschaft und Glaube” stammt übrigens vom großen Werner Heisenberg: “Der erste Trunk aus dem Becher der Naturwissenschaft macht atheistisch; aber auf dem Grund des Bechers wartet Gott.” Das sagt doch etwas darüber aus, inwiefern auch trotz fortschreitender wissenschaftlicher Erkenntnisse und naturalistischer Entzauberung der Religion auch für einen Wissenschaftler noch letzte Fragen bleiben können, deren Beantwortung nicht nur aber eben auch die Einbeziehung religiöser Ideen erfordert.

  14. “Das, was die evolutionäre Religionswissenschaft tut, scheint mir symptomatisch dafür zu sein. Es geht eben nicht mehr um die Inhalte der religiösen Vorstellungen, sondern um deren Zustandekommen.”

    Oh! Wie recht Du hast! An anderer Stelle schriebst Du: “Religiös bumst besser resp. reproduktiver.”

    Ich verstehe es auch nicht. Denn selbst wenn die empirischen Daten erdrückend sind, so muß gefragt werden, was wird damit bezweckt? Was soll uns damit gesagt werden? “Seid fruchtbar und mehrt euch” -denn ich der “Herr” habe es euch befohlen -Scheiße! Denn es gibt auch den Neuen Bund: Seid vollkommen, wie der Vater im Himmel vollkommen ist. Denn was liegt an der Fortpflanzung, die nur die ewige Wiederkehr des Gleichen ist? Hinaufpflanzen statt fortpflanzen! (->Nietzsche) Doch Ach! -was soll ich sagen? Es wird immer und immer wieder mißverstanden. Der Begriff Hinaufpflanzen in den falschen Ohren führt zum Menschenpark: Genetik statt Memetik.

  15. @ Christian

    Danke für das schöne Heisenberg-Zitat! Ob aber “am Grunde des Bechers Gott wartet” – das weiss ich nicht. Und wenn man den Becher der Naturwissenschaften tatsächlich geleert haben sollte, dann ist es sicher nicht der allgütige, allwissende, allmächtige Gott des Christentums.

    Was ich nochmal betonen möchte – auch wenn es sich schon fast wie eine seltsame Form von trauriger, melancholischer Eitelkeit anhören mag – ist, dass meiner Ansicht nach MUT dazu gehört, sich wirklich existenziell auf die Fragen nach den letzten Dingen einzulassen.

    Wenn man z.B. nicht nur “konstatiert”, sondern tatsächlich BEDENKT, “dass (der Mensch) seinen Platz wie ein Zigeuner am Rande des Universums hat, das für seine Musik taub ist und gleichgültig gegen seine Hoffnungen, Leiden oder Verbrechen” (Jaques Monod), wenn man diesen Gedanken einmal ERNST nimmt und ihn in seiner ganzen Tragweite an sich heranlässt, dann kommt man eben auf sehr dünnes Eis, von dem man ohne Schaden an Psyche und Ratio zu nehmen vielleicht gar nicht mehr herunterkommt.

    Um’s in einer Allegorie zu sagen: es gehört Mut dazu, den Mount Everest ohne Sauerstoffflaschen zu besteigen. Es gehört aber auch Mut dazu, manche Gedanken zu denken. Sie sind gefährlich.

  16. Schööön! 🙂

    Lieber Helmut,

    wunderschön, der Beitrag! Und, wenn es Dich auch überraschen mag: ich stimme Dir durchaus zu!

    So schriebst Du: “Und wenn ich diese Fragen den Naturalisten stellte, wenn ich sie früge, ob ein Heilsgeschehen möglich sei, ob die Aussicht auf Erlösung bestünde, was die ersten Dinge seien und die letzten: dann ernte ich Hohngelächter und man droht mir mit der Exkommunikation aus den Reihen der Naturwissenschaftler, schilt mich einen Kreationisten, der Gott in die Welt zurückbringen will, einen Abweichler vom wahren Pfad des atheistischen Materialismus und der vernünftigen Weltsicht.”

    Ja, diese Erfahrung habe ich auch schon gemacht, viele Male – denn so sehr ich die Religion(en) mit naturwissenschaftlichen Mitteln erforsche, ich glaube nicht, dass sie dadurch jemals ihren Zauber verlieren oder ersetzt werden können. Hat uns das Wissen um die Biochemie um die Liebe gebracht? Oder uns eher über den Tanz der Hirne, Herzen und Körper nur noch mehr staunen lassen?

    Insofern hat @kamenin Recht, die “Apologie des Glaubens” werde ich Dir nie übel nehmen, im Gegenteil! 🙂 (Umgekehrt werde ich aber natürlich auch nie behaupten, aus Evolutionsforschung könne ein Gottesbeweis erwachsen. Wir sind und bleiben Kinder, die versuchen, den Ozean auszulöffeln. Aber wir können eben auch nicht anders…)

    Und Frage “Mal angenommen, religiöse Menschen zeichneten sich wirklich durch einen erhöhten Fortpflanzungserfolg aus. Mal weiter angenommen (mutige, aber nicht ganz unplausible Annahme), dass katholische Priester sich durch ein hohes Mass an Religiosität auszeichen … ähh: ist da nicht ein gewisser Widerspruch?”

    Die Antwort darauf war witzigerweise mein erster Blogbeitrag hier, ein Gastbeitrag bei Abgefischt von Lars Fischer:

    Glaube und Zölibat: bio-logisch erfolgreich?

    Danke für den sehr, sehr gelungenen Gedankenbeitrag zum Thema “Evolution der Religion”! Toll, wie viele Menschen mit wie vielen Perspektiven das Thema inzwischen bewegt! 🙂

  17. @ Michael

    Ich habe mich eh schon gewundert, warum von Dir noch kein Kommentar zu Helmuts Beitrag kam. Du wußtest nicht, daß es ihn gibt.
    Auf den Blogs hier ist aber mittlerweile auch viel los.

  18. @ Blume

    Ich habe oft angefangen zu schreiben und es wieder verworfen. Doch mein Unbehagen bleibt -es läßt sich nicht verdrängen.
    Mir fällt auf, daß Sie oft loben und alles so toll finden, was andere schreiben. Muß Wissenschaft nicht ein knallhartes Geschäft bleiben, um nicht in die Beliebigkeit abzudriften?

  19. @ Martin, Dietmar

    Lieber Martin,

    Du schriebst: “Ich habe mich eh schon gewundert, warum von Dir noch kein Kommentar zu Helmuts Beitrag kam. Du wußtest nicht, daß es ihn gibt.
    Auf den Blogs hier ist aber mittlerweile auch viel los.”

    Ja, dass das Interesse an der biokulturellen Evolution der Religiosität sich quer durch die Wissenslogs und so schnell ausbreiten würde, hätte ich nicht gedacht! Und komme natürlich nicht immer mit dem Kommentieren nach, hatte z.B. diese Woche Vortragsreise(n). Aber als Leser bin ich bei Helmuts Beiträgen immer wieder dabei! 🙂

    @ Dietmar

    Zitat: “Mir fällt auf, daß Sie oft loben und alles so toll finden, was andere schreiben. Muß Wissenschaft nicht ein knallhartes Geschäft bleiben, um nicht in die Beliebigkeit abzudriften?”

    Nach meiner Erfahrung und Auffassung ist gerade die Religionswissenschaft ein extrem interdisziplinäres Fach. Die Versuchung ist da schon groß, von vornherein auf die Beiträge von Nicht-Religionsfachleuten herunter zu sehen. Schon mit “hier ist Religiosität ja gar nicht (richtig) definiert!” kann man auch sehr gute Arbeiten anderer leicht abwehren. Aber dann bleiben m.E. die Erkenntnisgewinne auf der Strecke! Daher habe ich es mir zur Aufgabe gemacht, gerade auch in den Beiträgen anderer nach den spannenden Perspektiven und Befunden zu suchen und diese hervor zu heben. Und ich möchte behaupten, dass der bisherige Erfolg nur so möglich war.

    Meine Begeisterung für Beiträge von Neuroanatomen, Mathematikern, Psychologen, Philosophen gerade auch zur Evolutionsforschung der Religiosität ist also echt – und hat sich oft bewährt. Dass Helmut Wicht dem Ganzen auch noch eine philosophisch-poetische Note vor dem Hintergrund realer Erfahrungen im Wissenschaftsbetrieb zu geben vermag, empfinde ich zusätzlich als sehr anregend.

    Ich möchze fast behaupten: das “harte Geschäft” der Wissenschaft kommt nur dann voran, wenn wir uns die Begeisterungsfähigkeit auch für die Einsichten anderer immer offen halten.

  20. @ Michael Blume @Dietmar Hilsebein

    Ich freu’ mich natürlich, wenn meine Versuche, meine Themen poetisch und ästhetisch aufzuladen, goutiert werden.

    Dennoch könnte es sein, dass der Dietmar Hilsebein recht hat und dass wir de facto SEHR verschiedener Ansichten sind (was uns freilich nicht entzweien, sondern im Gespräch verbinden sollte).

    In mir rebelliert momentan alles, aber auch so ziemlich alles, was ich an rationalen und irrationalen Gedanken und Gefühlen aufzubringen vermag, gegen die naturalistische Reduktion. Ja, es mag die “Beileidigung” sein, von der im Zusammenhang mit Kopernikus, Darwin, Freud und der Hirnforschung immer wieder die Rede ist.

    Damit kann man es aber nicht gänzlich abtun – man muss ich meiner Meinung nach ernsthaft mit der Frage auseinandersetzen, ob nicht die Reduktion auf’s Naturale, die (wieder meiner Meinung nach) letztendlich in einen platten materialistischen Monsimus mündet, nicht
    1. Die Hypostase genau dieses Materialsimus betreibt und
    2. zu einer verarmten und unmenschlichen Welt führt.

    Als Beispiel möchte ich das seit Jahrzehnten sich ausbreitende “Primat der Ökonomie” anführen. Unter Berufung auf qausi-naturgesetzliche Gegebenheiten (Konkurrenz, Produktivitätsunterschiede, Marktgeschehen)werden Dynamiken in Gang gesetzt, die sich nicht nur der Kontrolle, sondern auch der Kritik entziehen, da sie eben “Natur” sind.

    Es ist ganz “natürlich”, dass sich einige dumm und dusselig verdienen, und andere darben. Der Markt will es.

    Früher hiess es: “Deus lo vult”. Heut’ ist’s die Natur. Wo ist der Unterschied?

  21. @ Helmut

    Zitat “Dennoch könnte es sein, dass der Dietmar Hilsebein recht hat und dass wir de facto SEHR verschiedener Ansichten sind (was uns freilich nicht entzweien, sondern im Gespräch verbinden sollte).”

    Das ist es ja, was mich immer wieder verwirrt: Warum sollte es in der empirischen Wissenschaft ein Problem sein, unterschiedliche Ansichten zu haben? Mein Doktorvater war glühender Religionskritiker, ich bin glücklicher evangelischer Christ – und genau deswegen wusste ich, dass er mir nur Arbeiten durchgehen lassen würde, die ihn durch Daten überzeugten. Ehrlich gesagt hätte ich stärkere Bedenken, wenn nur Leute gleicher Ansicht in diesem Bereich forschen würden…

    Zitat “In mir rebelliert momentan alles, aber auch so ziemlich alles, was ich an rationalen und irrationalen Gedanken und Gefühlen aufzubringen vermag, gegen die naturalistische Reduktion.”

    Solange klar ist, dass diese aus Gründen der wissenschaftlichen Methodik erfolgt und sich selbst erkenntnistheoretisch reflektiert, rebelliert da bei mir nichts.

    Zitat “Ja, es mag die “Beileidigung” sein, von der im Zusammenhang mit Kopernikus, Darwin, Freud und der Hirnforschung immer wieder die Rede ist.”

    Die Beleidigung von was? Warum sollte ich mich als Wissenschaftler und bzw. oder religiöser Mensch von naturwissenschaftlichen (und damit übrigens immer auch nur vorläufigen) Befunden beleidigt fühlen?

    Zitat “Damit kann man es aber nicht gänzlich abtun – man muss ich meiner Meinung nach ernsthaft mit der Frage auseinandersetzen, ob nicht die Reduktion auf’s Naturale, die (wieder meiner Meinung nach) letztendlich in einen platten materialistischen Monsimus mündet,”

    Sie schmälert vielleicht einen gewachsenen Leib-Seele-Dualismus, bringt aber m.E. nicht notwendig einen platten Materialismus hervor. Der Religionskritiker kann sagen: “Aha, alles Evolution!” und der Glaubende “Siehe, wie grandios Gott das Universum auf Seine Erkenntnis hin geschaffen hat!” (Vgl. z.B. Teilhard de Chardin u.a.)

    Zitat “1. Die Hypostase genau dieses Materialsimus betreibt und
    2. zu einer verarmten und unmenschlichen Welt führt.”

    Ich kann nur sagen, dass schon die bloße Präsentation meiner Daten zum biologischen Erfolg von Religiosität immer wieder dazu geführt hat, dass religionskritische Leute mutmaßten, ich wollte Gott beweisen oder den Menschen Religion(en) aufzwingen. Offensichtlich kann man also auch die genau gegensätzlichen Befürchtungen hegen.

    Ich bin da eher gelassen: Über empirische Wissenschaften sind keine absoluten Wahrheitsaussagen möglich. Wer aber wirklich an einen grandiosen Schöpfergott glaubt oder dessen Existenz ausschließt – braucht doch vor den Erkenntnissen von Naturwissenschaft(en) keine Angst zu haben! Wenn Gott der Schöpfer ist, wird die Natur Ihn wohl kaum widerlegen – und wenn Er nicht existiert, wird man ihm kaum beweisen können. Die Reduktionismus-Angst kann ich also nachvollziehen, halte sie aber für letztlich unbegründet.

  22. @ Helmut: Deus lo volt!

    Lieber Helmut,

    ich sehe gerade, dass Du in gewisser Hinsicht den (vermeintlichen) Widerspruch selbst auf den Punkt gebracht hast!

    Du schriebst: “Früher hiess es: “Deus lo vult”. Heut’ ist’s die Natur. Wo ist der Unterschied?”

    Deus lo vult bedeutet, Gott will es. Natur aber kann maximal Sein, nicht aber Wollen – sonst wäre sie wiederum eine theistische Personalität (wie die gerne zitierte “Mutter Natur” 😉 ).

    Wenn hinter dem natürlichen Sein ein göttliches Wollen stünde (was ich persönlich, wie Du weißt, durchaus glaube) – dann droht von der Naturwissenschaft keinerlei Gefahr, im Gegenteil.

    Und wenn es außer dem Sein kein transzendentes Wollen gäbe, so wäre damit m.E. noch nicht gesagt, dass wir das Sein auch als Wollen akzeptieren müßten.

    Also, Dietmar, Helmut – fürchtet Euch nicht! Auch nicht vor den Befunden von Naturwissenschaften! 🙂

  23. @ Michael: Sein und Wollen

    Als Schopenhauerianer ist’s mir jetzt freilich ein leichtes, mich aus dem Widerspruch herauszureden, indem ich unter Berufung auf den dunklen Meister aus Frankfurt behaupte, dass “Sein” und “Wollen” eins seien.

    Aber das ist un-naturwissenschaftlich und Mataphysik.

    Dennoch darf man, so denke ich, auch als Naturwissenschaftler sich fragen, ob mit der Konstatierung “dies und das IST” (“ist” jetzt in dem Sinne: ist ein in der Natur beobachtbarer Vorgang oder ein Ding) nicht DOCH eine problematische Aussage gemacht wird. Denn das “Sein” in der Natur, das “Vorkommen in der materiellen Welt”, das “objektive Sein” werden – implizite und ganz selbstverständlich zumeist – zum “eigentlichen Sein” und zum “wirklich Wirklichen” befördert. Sind wir doch mal ehrlich: die Naturwissenschaften haben uns jahrhundertelang so gründlich bezackert, dass wir mittlerweile “Hirn” für wirklicher als “Gedanken” halten, “Materie” für wirklicher als “Form”, Physik für “wirklicher” als Kunstgeschichte etc. Kurz, wir neigen dazu, die angeblich subvenienten Dinge für “wirklicher” zu nehmen, als die angeblich supervenienten.

    DAGEGEN rebelliere ich, weil ich’s für eine unzulässige Einengung des Blickwinkels auf das “objektiv Seiende” halte und weil ich die Konsequenzen dieser Ansicht z.T. für alogisch und zum anderen Teil für katastrophal halte: Marginalisierung, wenn nicht Elimination des Subjektes (Subjekt im Sinne des Idealismus: “das, was erkennt”), Geringschätzung der Utopie und des Negativen, Hypostase des Positiven und der Affirmation, schleichende Entwirklichung aller “epihänomenalen”, “supervenienten”, mentalen, ästhetischen Bereiche.

    Ceterum censeo, dass “Materie” auf Geist superveniert, aber das ist eine andere Baustelle.

  24. Geschmack

    Als Befürworter einer offenen Gesellschaft unterstreiche ich die Devise: jedem Tierchen sein Pläsierchen.

    Wissenschaft assoziiere ich mit klarem, frischen Wasser. In einem sehr kreativen Prozess wird analysiert, überprüft, widerlegt, neu untersucht. Wissenschaftler (die diese Bezeichnung verdienen) verwerfen eine Theorie, die sie ein halbes Leben vertreten haben, sollten neue Fakten es erfordern. So gelangt man manchmal durchaus mühselig von einem Stein im Teich der Unwissenheit zum nächsten.

    Ich unterlasse es Glaubensgemeinschaften in obiger Form darzustellen. Mich persönlich irritiert oft eine schwafelhafte Unschärfe die, obwohl in keinster Weise überprüfbar dennoch militante, missionarische Züge an den Tag legt. Um im obigen Bild zu bleiben, verspüre ich eher einen brackigen Geschmack im Mund, sobald man mir mit Themen wie Mysterium, Eschatologie, Erlösung, Sühne, Heilsgeschehen oder Ähnlichem kommt.

    In dem Punkt verlasse ich mich auf mein Gefühl (Geschmack) was nicht unbedingt wissenschaftlich ist.

  25. @ Helmut, Herr Falk

    Zitat: “DAGEGEN rebelliere ich, weil ich’s für eine unzulässige Einengung des Blickwinkels auf das “objektiv Seiende” halte und weil ich die Konsequenzen dieser Ansicht z.T. für alogisch und zum anderen Teil für katastrophal halte: Marginalisierung, wenn nicht Elimination des Subjektes (Subjekt im Sinne des Idealismus: “das, was erkennt”), Geringschätzung der Utopie und des Negativen, Hypostase des Positiven und der Affirmation, schleichende Entwirklichung aller “epihänomenalen”, “supervenienten”, mentalen, ästhetischen Bereiche.”

    Ja, da bin ich bei Dir! Ich bin nur davon überzeugt, dass auch die Naturwissenschaft(en) diese reduktionistischen Verflachungen längst selbst zu überwinden begonnen haben – dass also gerade auch der Fortschritt wissenschaftlicher Erkenntnis zu mehr erkenntnistheoretischer Demut (und damit auch ästhetischer Freiheit) führt.

    @ Herbert Falk

    Zitat: “Um im obigen Bild zu bleiben, verspüre ich eher einen brackigen Geschmack im Mund, sobald man mir mit Themen wie Mysterium, Eschatologie, Erlösung, Sühne, Heilsgeschehen oder Ähnlichem kommt.

    In dem Punkt verlasse ich mich auf mein Gefühl (Geschmack) was nicht unbedingt wissenschaftlich ist.”

    In der Tat. Ich habe eigentlich immer gedacht, eine wissenschaftliche Einstellung erweise sich durch Neugier und Interesse gerade gegenüber dem, was man nicht oder noch nicht versteht. Aber Sie haben m.E. Recht: ebenso wie mancher religiöse Fundamentalist versperrt sich wohl auch mancher Religionskritiker die Chance zur Erweiterung des eigenen Horizonts durch eher emotionale Verachtung des Unverstandenen…

  26. @ Michael @ Falk

    @ Michael
    Ja, vielleicht renne ich ja wirklich Türen ein, die längst offenstehen oder zumindest nur angelehnt sind. Vielleicht habe ich wirklich einen positivistischen Popanz aufgerichtet, um auf ihn einschlagen zu können. Ich werde – vor allem, nachdem ich die Zusammenfassung Eures Workshops zur Kenntnis genommen habe – in mich zu gehen und versuchen, differenzierter zu schimpfen.

    Um gleich etwas positives hinterher zu schieben: die Art von Umgang mit Naturwissenschaft, die mir vorschwebt, wurde von drei Herren vorexerziert, die ich sehr bewundere: Erwin Chargaff, Jaques Monod und Erwin Schrödinger. Ich hab’ alle drei lange nicht mehr gelesen – aber der Ton, den sie anschlagen, ist mir noch im Ohr: elegant, schönheitstrunken, aber auch sehr, sehr traurig und von der Einsicht getragen, dass die Naturwissenschaften recht wenig, und wenn, dann wenig erfreuliches, zur “Eigentlichkeit” (sorry , mir fällt kein gescheiteres Wort ein) des Menschseins zu sagen haben.

    @ Falk
    “brackig” — schönes Wort, schönes Bild. Ich hab’ dem inhaltlich nichts entgegen zu setzen: die Geschmäcker sind in der Tat verschieden.
    Ich kann es nur ästhetisch kommentieren, indem ich anmerke, dass das, was Ihnen brackig schmeckt, mir als willkommener, leicht morbider Hautgout mundet. Und in der Tat: ganz frisches Fleisch ist zäh und ungeniessbar, es muss abhängen, um zart auf der Zunge zu zergehen. Abhängen aber heisst: warten, bis die Verwesung einsetzt. Gourmet sein heisst: morbide sein…

  27. @Helmut Wicht – Appetit

    Ich wünsche einen guten Appetit. Die Vorstellung Ihres Mahls bereitet mir wenig Unbehagen, da sie anscheinend mit einer Prise Humor (Sarkasmus?) gewürzt ist.

    Genau diese Prise Humor geht den meisten militanten, missionarischen Bekehrern, die auf einem riesigen Berg verwesender Opfer ihres religiösen Wahns morbide Rituale zelebrierend sitzen, völlig ab.

  28. Nachtrag

    Aus dem Blickwinkel der morbiden Gourmetthese des Abgehängten bekommt für mich die Speisung der Gemeinde mit Fleisch und Blut einen ganz neuen Aspekt. Solch ein gemeinsamer Genuss kommt in vielen unterschiedlichen Glaubensrichtungen vor.

  29. @ Falk

    Dass man noch merkt, dass ich versuche, (Galgen-)humor zu entwickeln, mildert meine Zweifel an meiner geistigen Gesundheit.

    Danke.

    Ich bin Anatom. Totes Fleisch ist mein Handwerk. Fleisch heisst “sarkos” – wie sollt’ ich da kein Sarkast werden?
    Ich bin Anatom. Der Tod umgibt mich. Tod heisst “mors” – wie sollt’ ich da nicht morbide werden?
    Ich bin Anatom. Ich schneide Dinge zu Stücken. Zu Stücken schneiden heisst “katatemnein”. Wie sollt’ ich da nicht katatonisch werden?
    Ich bin Anatom. Ich kenne die Galle, habe aber noch nie eine tintenschwarze Gallenblase gesehen. Die waren immer grün. Tintenschwarze Galle heisst “melanchole”. Wie sollt’ ich da nicht melancholisch werden?

    Ich glaub’, ich sollte meine “main message” vom anti-naturalistischen Furor reinigen (siehe vorangegangen Beitrag) und statt dessen für folgendes plädieren:

    – mehr Schönheit
    – mehr Melancholie
    – mehr Morbidität
    – und mehr Sarkasmus

    Nieder mit der hässlichen Heiterkeit des Positivismus, jawoll! Die Welt will melancholisch betränt und todessehnsüchtig zerfleischt werden.

    PS.: Warum, um alles in der Welt, hab’ ich diesen Blog “Anatomisches Allerlei” genannt? “Melancholische Miscellen” wäre passender.

  30. @ Falk Nachtrag

    Fisch geht frisch.

    Und im übrigen war’s BROT, soviel zur Ehrenrettung der christlichen Transformationslehre. Die Vorstellung des heiligen Abendmahles mit Sauerbraten hat zwar einen gewissen (morbiden??) Reiz, dennoch find ich sie irgendwie unästhetisch. Aber sarkastisch ist’s schon. Fehlt allerdings die Melancholie. 2 Punkte auf meiner vierstufigen Werteskala.

  31. Anmerkung

    Der Wein repräsentiert das Blut, das Brot das Fleisch.

    Den Rest Ihres Textes muss ich noch etwas länger verdauen 😉

  32. @Helmut Wicht – ein Fest

    Das VierPunkteProgramm (VPP) hat etwas.

    Weiter unten Sprachen Sie vom “Primat der Ökonomie” mit den “quasi-naturgesetzlichen Gegebenheiten“. Meiner Meinung nach ist das “Primat der Ökonomie” nicht wissenschaftlich sondern dogmatisch – “Kapitalismus als Religion“. Der so definierte Markt verlangt Opfer.

    Öffentliches Opfern hat eine lange Tradition. Vor nicht sehr langer Zeit verlangte ein “Herrscher” ein Opfer, wenn seine Souveränität in Frage gestellt wurde.

    In mühevoller Kleinarbeit wurde in öffentlicher Darbietung der “Sünder” vom Leben in den Tod gebracht. Das Volk hat die Vorstellung genossen und auf die ersten Einschränkungen der Zurschaustellung solcher morbiden Tätigkeiten unwirsch reagiert und gesungen: “Gebt uns unser Wildbret wieder!

    Fast möchte man melancholisch werden, wenn man den Reiz damaliger Darbietungen mit dem heutigen sterilen Auftritt von Politikern vergleicht, die maximal in Phrasen wie “Heuschrecke” oder “Monster” ihre Ausdrucksform findet.

    Um wieder etwas Schwung in die Sache zu bringen könnte man zeitgleich zur Rückkehr der Religion ein Fest reaktivieren.

    Das Fest der Martern

    Was ist das?
    Die Todesmarter ist die Kunst, das Leben im Schmerz festzuhalten, indem sie den Tod in “tausend Tode” unterteilt und vor dem Erlöschen der Existenz “the most exquisite agonies” erreicht.
    Quelle: Michel Foucault, Überwachen und Strafen

    Wie soll es ablaufen?
    Sollte er an den Brustwarzen, Armen, Oberschenkeln und Waden mit glühenden Zangen gezickt werden. Auf die mit Zangen gezwickten Stellen sollte geschmolzenes Blei, siedendes Öl, brennendes Pechharz und mit Schwefel geschmolzenes Wachs gegossen werden. Sein Körper sollte dann von vier Pferden auseinandergezogen und zergliedert werden, seine Glieder und sein Körper sollten vom Feuer verzehrt und zu Asche gemacht, und seine Asche in den Wind gestreut werden.
    Quelle: Pièces originales et procédures du procès fait à Robert-François Damiens, 1757, Bd. III, S. 372-374

    Im Licht solcher Darbietungen sieht Wissenschaft dann doch recht trocken aus.

  33. @ Falk

    Herr Falk,

    könnte es sein, dass wir DOCH “birds of a feather”, Blut vom gleichen Blute, Fleisch von gleichen Fleische sind?

    (Selbstanalye)
    Ich danke Ihnen für die herrlichen Zitate und dafür, dass Sie sich – meinen Horizont weitend – überhaupt unter meine trüben Himmel begeben haben. Doch das körperliche Leid, das schmelzend, flüssigem, sengendem Blei gleich, aus Ihren Zitaten trieft: das mein’ ich nicht. Das verabscheue ich. Das will ich meiden. Und ich verabscheue meinen Körper, weil er mir genau dieses Leid bereitet.

    Am Geiste, im Geiste möcht’ ich leiden, weil er so herrlich unverbindlich ist. Man kann’s ja jederzeit abstellen, und sich das Gegenteil denken. Ja, man kann sich das Leid zur Lust machen, so wie ich es tue.

    Ich bin, so sehe ich gerade, ein ziemliches Arschloch. Blind für das Leid aller anderen, voller Furcht vor meinem eigenen Leib, herrschsüchtig über meine eigenen Gedanken, denn ich will mich selber haben.
    (Ende Selbstanalyse)

    Aber ich bin, wenn die Naturalisten recht haben, ein Produkt dieser sinnlosen Scheissveranstaltung, die sich “Welt” nennt. Und ich komme nicht hinaus. Wenn Curt Cobain tot wäre, warum ist er dann noch in meinem Kopf? Wenn der Buddha den Weg gefunden hätte, warum ist diese Welt noch da? Wenn ich mich morgen erhängte: lebte nicht Ihre Erinnerung an unsere Unterhaltung weiter?

    Es gibt da ein wunderbares Zitat von einer Dame namens Nico Päffgen, deren Vita im Internet zu recherchieren sich lohnt. Sie wurde einst gefragt:

    “Glauben Sie an ein Leben nach dem Tod?”

    Und sie antwortete:

    “Aber natürlich. Es gibt kein Entrinnen.”

  34. @Helmut Wicht

    Über Ihren letzten Kommentar denke ich noch nach. Daher eine Anregung zu dem, was weiter unten steht:

    – Wenn man z. B. nicht nur “konstatiert“, sondern tatsächlich BEDENKT, “dass (der Mensch) seinen Platz wie ein Zigeuner am Rande des Universums hat …

    Passend zu dem Thema habe ich mir seit Kurzem ein Bild als Bildschirmhintergrund eingerichtet (das Erste seit über sieben Jahren). Dieses Bild vermittelt recht gut wie gemütlich wir es in unserer Milchstraße haben und was für Glückskekse wird sind.

    Interacting Galaxies
    Cosmic Collisions Galore

  35. Prickelnde Perlen

    Aus Überlegungen zu sehr langfristigen Zeiträumen (thanasia, Aion, aionion, Äon, ) die mein denkbares Lebensalter (ewa, aju) um ein Vielfaches übertreffen, habe ich mich verabschiedet.

    Die Thematik ist mir zu schwierig. Gerade die erwähnten Persönlichkeiten zeigen zu, wie viele Kollateralschäden ein Denken in diesen Dimensionen führen kann. Weg von morbiden, brackigen 😉 später vielleicht mal Gedanken. Hin zu frischen, klaren gegenwärtigen Gedanken und Taten.

    Ab und an durchzucken Blitze, welche aus einer langfristigen Dimension zu kommen scheinen, dieses Jetzt. Sie sind ähnlich prickelnder Perlen im Getränk des Lebens. Das genügt mir.

  36. Korrektur

    Schade, dass man Text nicht überarbeiten und die Fehler korrigieren kann 🙁

    Gerade die erwähnten Persönlichkeiten zeigen, zu wie vielen Kollateralschäden ein Denken in diesen Dimensionen führen kann.

    Sie sind wie prickelnde Perlen im Getränk des Lebens.

  37. Korrektur

    “Schade, dass man Text nicht überarbeiten und die Fehler korrigieren kann”

    Ja, das ist schade. Aber es ist ein Blog und kein Forum. Um editieren zu können bräuchte das Blog eine Nutzerverwaltung, sonst könnte jeder jeden editieren. Hätte zudem den Nachteil, daß man nicht mal schnell einen Kommentar schreiben kann, sondern sich erst anmelden muß.

    Der Nachteil läßt sich umgehen, wenn man “gewichtige” Kommentare vorher schreibt und dann rüber kopiert. WordPad ist da empfehlenswert. Ich habe so eine kleine Datei auf dem Desktop und schreibe da längere Kommentare vor.

    Wenn der Kommentar ganz übel geworden ist (das muß dann aber schon ein dicker Fehler sein), kann ich in “letzter Not” auch noch eingreifen. (huhn@spektrum.com)

  38. @Huhn – Korrektur von Fehlern

    Ähm, ich schreibe meine Kommentare vor. Aber aus einem mir unerfindlichem Grund übersehe ich manche Fehler genau bis zu dem Augenblick, wenn der Knopf “absenden” gedrückt wird. Beim ersten Lesen des veröffentlichen Beitrags entdecke ich sie dann sofort. Gibt es dafür eine Lösung von den Gehirnspezialisten?

    Allerdings ist es mit den Fehlern nicht wirklich dramatisch, da ich keine “gewichtigen” Kommentare schreibe.

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